Eigentlich kann man im Jahr 2016 nur genau dasselbe sagen wie 2003: Hätten sie doch die Finger davon gelassen. Hätten sie auf ihr Bauchgefühl gehört und nicht versucht, sich als Unternehmer zu betätigen. Die Rede ist nicht von einem verunglückten Startup in Leipzig, sondern von 70 Leuten, denen man windige Geschäfte eigentlich nicht zutrauen würde: Leipzigs Stadträtinnen und Stadträten. Na gut, nicht allen 70. 30 haben auch gereicht.
30 Stadträte und Stadträtinnen, die am 17. März 2003 der Cross-Border-Leasing (CBL) Transaktion für das Leipziger Trinkwassernetz zustimmten. Eigentlich hatten sie es schon in der Ratsversammlung vom 11. Dezember 2002 getan. Das war aber eine nicht-öffentliche Ratsversammlung. Da hatte sogar das Regierungspräsidium noch deutliche Bedenken und machte seine Genehmigung für den Deal mit einem Gesamtrisiko von 250 Millionen Dollar (über die volle Laufzeit) von einer Abstimmung in öffentlicher Sitzung im Stadtrat abhängig.
Und deswegen wurde am 17. März 2003 noch einmal diskutiert. Und der damalige Finanzbürgermeister Peter Kaminski (CDU) war noch einmal verpflichtet, die Stadträte über die Risiken des Vertrags zu informieren. Das tat er auch irgendwie. Doch wer seine Rede liest, sieht, wie er die eigentlichen Warnungen und Risiken in einem Berg von Beschwichtigungen, Entschärfungen und Erklärungen begrub, die in dem Satz gipfelten: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Transaktion trotz einer derart intensiven Überwachung der Vertragsvorbereitung unbeherrschbare Risiken enthalte, erscheine verschwindend gering.
Und das im Jahr 2003, als die Sächsische Landesregierung schon schwerste Bedenken gegen die hochrisikoreichen CBL-Verträge geäußert hatte, der Landtag heftig diskutierte und die Regierung kurz davor stand, diese Art Verträge den sächsischen Kommunen generell zu verbieten, was dann wenig später auch geschah.
Leipzigs Verwaltungsspitze stand also unter Zeitdruck und wollte auch diesen Vertrag, nachdem man vorher schon etliche für Messe, LVB und Wasserwerke abgeschlossen hatte, unter Dach und Fach bringen. Dass die Landesregierung gerade am Umschalten war, darüber redete damals der CDU-Landtagsabgeordnete Wolf-Dietrich Rost, der auch auf die parallel zunehmende Skepsis in Bayern verwies. Er war übrigens nicht der einzige CDU-Stadtrat, der bei dem 1.700 Seiten dicken Vertragswerk (das von den Stadträten garantiert niemand in voller Länge gelesen hat) Bauchschmerzen äußerte. Dass die Stadträte das verklausulierte Vertragspsaket eigentlich gar nicht gelesen haben, darauf ging der CDU-Stadtrat Volker Schmipff ein. Er äußerte deutliche Kritik an „Offenheit und Ehrlichkeit“ bei diesem Stadtratsbeschluss.
Und nicht anders ging es CDU-Stadtrat Alexander Achminow. Das Risiko, sich in endlose internationale Streitereien zu verwickeln, sei völlig unkalkulierbar, sagte er. Der Stadtrat habe nicht das Recht, für sechs nachfolgende Stadtratsperioden (bis zum ersten möglichen Rückkauftermin 2032) die späteren Kolleginnen und Kollegen mit einem derartigen Risiko zu belasten.
Womit er eigentlich den zwingendsten Grund nannte, das Ganze abzublasen. Denn für einen kurzfristigen Vorteil von 18 Millionen Euro (um damit ein bisschen Investitionsspielraum bei den Wasserwerken zu bekommen) ein Risiko von mindestens 149,1 Millionen Euro einzugehen, das hat mit solider städtischer Haushaltsführung nichts mehr zu tun.
Hat wenigstens die Stadtspitze gewusst, auf welche Risiken man sich einließ?
Der OBM zum Beispiel?
Das Protokoll der Sitzung sagt eindeutig: Nein. Bei einer solchen Materie müsse man sich sowohl in der Sache als auch hinsichtlich der Abschätzung der Risiken ganz wesentlich auf die Fachleute verlassen, sagte OBM Wolfgang Tiefensee (SPD).
Eigentlich eine Stelle, an der sämtliche Stadträte hätten schreiend den Sitzungssaal verlassen müssen. Da lag ein bis zu 250 Millionen Dollar teures Risiko-Paket auf dem Tisch und die Stadtspitze verließ sich auf externe „Fachleute“, die ihnen die Solidität des Geschäfts versicherten. Da hatte auch die Grünen-Stadträtin Annett Körner ein ganz schweres Bauchgefühl, denn auch sie hatte immer nur gehört, dass auch im Aufsichtsrat der KWL immer nur erklärt worden war, „dass die Risiken durch professionelle Unternehmen kalkuliert“ worden seien. Am Ende hat sie sich dann lieber zur Enthaltung entschlossen. So wie acht weitere Stadtratsmitglieder. Hätten sie sich zu einem klaren „Nein“ durchgerungen, wäre das Paket mit 31 : 30 Stimmen abgelehnt worden.
Deutlich dagegen sprach sich DSU-Stadtrat Karl-Heinz Obser aus, der wohl als einer der Wenigen damals auch die Diskussion in den USA verfolgte, denn schon damals wurde in den USA heftig darüber diskutiert, dass dem amerikanischen Fiskus mit diesen Schein-Geschäften jährlich zweistellige Milliardenbeträge entzogen wurden. Denn für die US-Unternehmen, die weltweit Partner für CBL-Geschäfte suchten, ging es ja nicht um den Erwerb fremder Infrastrukturen, sondern um das größte Steuerabschreibungsmodell, das es je in den USA gab. Sie konnten damit ihre Steuerzahlungen in den USA fast auf Null drücken. Was für Vertragspartner wie die KWL abfiel, waren dagegen Peanuts. Und es kam, wie erwartet: Im März 2004 erklärten die Steuerbehörden der USA alle „sale-and-lease-back“-Vertragsmodelle zu rechtswidrigen Scheingeschäften, 2008 wurden sie endgültig verboten.
Und auch in der Linksfraktion hatte man ein ganz schlechtes Gefühl. PDS-Stadtrat Lothar Tippach war der Preis des Geschäfts eindeutig zu hoch, die Risiken überstiegen den kurzfristigen finanziellen Vorteil von 18 Millionen Euro um ein Mehrfaches.
Im Grunde wurde alles, was das Risiko des Geschäfts betraf, angesprochen oder zumindest tangiert. Jeder verantwortungsvolle Stadtrat hätte sich sagen müssen: Das ist zu heiß. Das verstehe ich nicht. Das Risiko kann ich überhaupt nicht einschätzen.
Auch die Absicherung des 149,1-Millionen-Dollar-Risikos wurde von Finanzbürgermeister Kaminski angesprochen. Leipzig wolle sich dadurch absichern, dass man sich „Zahlungsinstrumente vom Emittenten erstklassiger Bonität“ einkaufen wolle.
Und damit ist man beim amerikanischen Versicherer MBIA, der im Stadtrat schon mehrfach Thema war. Denn dessen „erstklassige Bonität“ war 2007 im Eimer. Man hatte sich das Portfolio mit hochrisikoreichen Papieren vollgestopft und verlor praktisch über Nacht 90 Prozent des Börsenwertes. Was dann auch die drastische Herabstufung durch die großen Ratingagenturen bis in den Bereich von Ramschpapieren zur Folge hatte. Das war zuletzt 2013 Thema im Stadtrat. Die Linke war es, die nachfragte – und beruhigt wurde.
Und dann schaut man in den Jahresbericht der Wasserwerke für 2014 – an einer Stelle, wo man nicht unbedingt nach Problemen sucht, weil sie einem nicht gleich ins Auge springen. Aber da stehen tatsächlich für die MBIA Insurance Corp. und die MBIA Global Funding LLC noch Ratings im B-Bereich – sowohl bei der Ratingagentur Moody’s als auch bei S & P. Und das bedeutet nun einmal übersetzt: „Hochspekulative Anlage. Bei Verschlechterung der Lage sind Ausfälle wahrscheinlich.“
Nur bei der Muttergesellschaft MBIA Inc. steht ein Ba1 bei Moody’s (Vorjahr: Ba3). Das ist noch immer eine „Spekulative Anlage. Bei Verschlechterung der Lage ist mit Ausfällen zu rechnen.“ Aber es ist ein leichter Erholungstrend sichtbar. So ähnlich auch bei S&P. Dort wurde das Rating von BBB („Durchschnittlich gute Anlage. Bei Verschlechterung der Gesamtwirtschaft ist aber mit Problemen zu rechnen.“) auf A- hochgestuft („Sichere Anlage, sofern keine unvorhergesehenen Ereignisse die Gesamtwirtschaft oder die Branche beeinträchtigen“.)
Was wieder neue Fragen aufwirft: Wurde das Risiko aus der 61 Millionen-Anleihe im Geschäftsbericht 2014 zu niedrig bewertet? Oder wurde es in der Stadtratssitzung als zu hoch bewertet? Denn immerhin meinte Burkhard Jung ja, man könne noch froh sein, aus der 61-Millionen-Euro-Anlage einen Verkaufspreis von 33 Millionen Dollar gemacht zu haben. Denn wenn MBIA auf dem aufsteigenden Ast ist, wäre die Angst vor weiterem Wertverfall der Anlage ja gar nicht berechtigt gewesen. Im Gegenteil. Dann hätte Warten sogar bare Millionen bedeutet.
Das einzige Problem freilich: Wären es dann trotzdem im Jahr 2032, dem ersten Jahr eines möglichen Rückkaufs, die nötigen 149,1 Millionen US-Dollar gewesen?
Fragen über Fragen, die im Grunde nur einen Schluss zulassen: Solche Geschäfte dürfen von einem Stadtrat, der die hochkomplexe Vertragsmaterie gar nicht durchschauen kann, überhaupt nicht entschieden werden. Und es gab am 17. März genug Alarmleuchten, die die ganze Zeit blinkten. Und am Ende haben alle Recht behalten, die das Risiko als nicht einschätzbar und viel zu hoch bezeichneten.
Und anders als von Alexander Achminow befürchtet, müssen dieses Desaster nicht die Leipziger von 2032 ausbaden, sondern die von 2016.
Wobei die Frage noch offen ist: War es wirklich Leipzig, das froh sein konnte, sich so früh aus dem Vertrag kaufen zu können? Oder waren es die Partner in Übersee?
Es gibt 6 Kommentare
Die Gier auf Gewinne siegte damals über die Vernunft. Wer trägt dafür die Verantwortung? Ausbaden müssen es leider die Bürger…
Ich kann mich gut an die Leserbriefe in der LVZ erinnern, die hochnäsig die Kritiker (der CBL-Geschäfte) als einfältig und des Plus-Minus-Rechnens unfähig zeihten. Was denken die Leserbriefschreiber heute? Gar nichts – denn Selbstkritik ist eine selten anzutreffende geistige Übung.
Und, ja, ich finde es ausgesprochen ruchlos von der Stadtverwaltung und dem Stadtrat, überhaupt über solche Finanzspielereien je nachgedacht zu haben!
11. Dezember 2012 = 11. Dezember 2002 !?
Klar, stimmt. Danke für den Hinweis. Hab ich natürlich gleich geändert.
Wenn Stadträte ungeprüft zustimmen, müssen diese auch haftbar gemacht werden! Wenn bei einer Verkäuferin 5 € in der Kasse fehlen, muss sie diese auch aus der eigenen Tasche ersetzen! Was ist bei solchen Verantwortlichen? Können diese ungestraft weitermachen zu unser aller Lasten und bekommen dann noch eine fette Pension?
11. Dezember 2012 = 11. Dezember 2002 !?
Das dieser Stadtrat und sein Bürgermeister, die Stadt noch nicht völlig in Grund und Boden gespielt hat, wundert sehr.