Mein Schicksal war also besiegelt. Ich unterzeichnete bei der Leiharbeitsfirma einen Vertrag für besagte Firma aus Gütersloh, die ein Subunternehmen gegründet hatte, um wiederum für eine große Fluggesellschaft Kundenbeschwerdemanagement zu betreiben. Hört sich kompliziert an, ist es auch. Es folgten zwei denkwürdige Wochen, die sich tief im Tagebuch meines Lebens eingraviert haben.
Dazu möchte ich sagen, dass ich einer Generation angehöre, in der es natürlich auch schlechte Jobs gab. Allerdings wurde schlechte Arbeit damals meist gut bezahlt. Sehr gut sogar. So fristete ich eine Zeit lang mein Dasein in einer Reifenfabrik in Fulda, wo ich im Dreischichtsystem frisch aus der Vulkanisierpresse gekommene Autoreifen von Gummiaustrieben mit einem Messer per Hand befreite. Acht Stunden lang. Reifen heben, überschüssiges Gummi abschneiden, Reifen wieder stapeln und zur Kontrollabnahme schaffen. Und wehe, man war mit dem Messer ins Profil gekommen. Dem unbestechlichen Auge der Kontrolleure entging nichts. Und spätestens am Röntgenfließband wurden Schnitzer offenbar. So konnte es kommen, dass eine Charge von 10.000 Reifen zurück ging, weil ein fehlerhafter Reifen dabei war. Musste man doch davon ausgehen, dass es noch mehr solcher defekter Reifen gab. Dann war in der Firma die sprichwörtliche Kacke am Dampfen und man packte besser seinen Spind aus.
Knochenarbeit in einer stinkenden, betäubend lauten Fabrik unter heute menschenunwürdigen Bedingungen. Aber die Maloche wurde gut bezahlt, sehr gut sogar. Schmerzens- Schmutz – und Schweigegeld. Ein Trostpflaster für trostlose Knufferei. Heutzutage ist es meist nur noch trostlos. Zwar mögen die rein äußerlichen Arbeitsbedingungen und Umgebungen mehr oder weniger besser sein. Dafür hält die moderne Arbeitswelt jedoch viel perfidere und andere Schikanen bereit. Leider gehört dazu auch, dass miese Arbeit auch noch mies bezahlt wird. Meist sogar noch mieser als die Arbeit selber ist. Die Arbeit, die ich damals in den Gummiwerken verrichtete wird heute von einem Roboter gemacht, der niemals daneben schneidet. Und wenn doch … dann wird er eben umprogrammiert.
Aber auch Menschen kann man programmieren. Indem man ihre natürlich wesentlich subtiler zu bedienenden Hebel geschickt manipuliert. Überhaupt ist man im Laufe der Zeit von der Manufaktur zur Manipulation übergegangen. Ist nicht so materialaufwändig und erfordert dafür geschickte Führungskräfte, die ihrerseits entsprechend geschickt manipuliert wurden. Von solchen will ich erzählen und davon, wie subtile Manipulation in der heutigen Arbeitswelt funktioniert.
Pünktlich um neun erschien ich denn auch bei besagter Firma um meinen Dienst anzutreten. Was die Arbeitsräumlichkeiten betraf, wurde ich nicht sehr überrascht. Kühle, sterile Räume, die üblichen kleinen Parzellen mit PC und Headset, dicht an dicht saßen die Mitarbeiter, um ihrem Job nachzugehen. So weit so gut oder schlecht oder möglicherweise auch nötig. Ich wurde mit etwa zwanzig weiteren “Neuen” begrüßt und in den Schulungsraum geführt, wo man schon Namensschilder den jeweiligen Schulungsplätzen zugeteilt hatte. Zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, dass ich mit zwei weiteren Kolleginnen in der letzten Reihe saß. War mir schon seit Grundschultagen sehr sympathisch.
Beim Stichwort Kolleginnen fällt mir ein (aus männlicher Sicht) unangenehmer Umstand ein. Ich war der einzige Mann inmitten sehr, sehr junger bis jugendlicher Kolleginnen. Vom ersten Moment fühlte ich mich in der kichernden Schar etwas deplatziert und unbehaglich. Das wurde nicht besser, als die uns begrüßende Dame (die nämliche, mit der ich das Einstellungsgespräch geführt hatte) nichts Besseres zu tun hatte, als darauf hinzweisen, dass es schön sei unter all den anwesenden weiblichen Kolleginnen einen männlichen Part zu wissen, ich sei quasi der Hahn im Korb. Wieder Gekicher, ich rang mir ein gequältes Lächeln ab und wünschte mich unter die verschwitzten, stark behaarten und besser bezahlten Kollegen in der Gummifabrik meiner Vergangenheit zurück. Und dann begann der Kindergarten erst richtig.
Erstmal musste jeder von sich ein buntes Pappschild mit Namen, Hobbys, bisherigem Leben und so weiter anfertigen. “Wenn ihr Lust habt, könnt ihr das auch malen. Lasst eurer Kreativität freien Lauf!” Zu dem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass das so ziemlich alles war, was man an Kreativität von einem hier erwarten würde. Derweil wurden lustige runde oder eckige Schilder nebst Farbstiften verteilt gefolgt von eifrigem Gequietsche von Filzstiften auf Pappkarton. Dabei wurde auf bewährte Weise gekichert und gegluckst. Etwas zerknirscht saß ich nun da und überlegte, wie ich meine 54 Jahre auf einen runden Pappdeckel quetschen sollte. Das Ganze gipfelte dann darin, dass man sich, das Pappschild vor sich haltend, der versammelten Schar vorstellen musste.
Ich brachte das alles wie ein Mann hinter mich und beobachtete dabei die uns leitende Dame genau. (Was umgekehrt übrigens ebenso der Fall war). Hier wurde mir wieder mal klar, wie Massensuggestion funktioniert. Mit der albernen Schildernummer sollte so was wie ein Gemeinschaftsgefühl hergestellt werden, mit den persönlichen Schilderungen Kuschelatmosphäre. Kennenlernklima. Bei den anderen jedenfalls funktionierte das prächtig. Ach, es war herrlich anzuschauen. Nach einigem weiteren Brimborium ging es dann schließlich mal ein wenig ans Eingemachte. Man wurde mit den Computern vertraut gemacht. Dabei stellte es sich heraus, dass zur Bewältigung des Arbeitsalltages zahlreiche höchst unterschiedliche und recht komplizierte Programme vonnöten waren. Jedes der Programme hatte zudem ein eigenes Passwort. Fast stolz berichtete uns die Ausbilderin: “Tja, das kann schon ein paar Minuten dauern, bis Sie morgens alles hochgefahren haben.” Wozu die verschiedenen Programme dienten sollte uns dann nach und nach verklickert werden. Die Verschiedenheit der Programme hat unter anderem damit zu tun, dass hier eben verschiedene Firmen am Werk waren. Fluch des modernen Outsourcings.
Eines der Programme wurde schon vorneweg erklärt. Es war so was wie ein Anwesenheits- und Tätigkeitserfassungsprogramm. Darin wurde genau erfasst, welcher Tätigkeit man wann und wie nachging und wann man sich vom Arbeitsplatz sagen wir mal mehr als für eine Pinkelpause entfernte. So mal aufstehen, einen Kaffee trinken und vielleicht ein paar Worte mit Kollegen wechseln ist da nicht drin. Sehr ausgeklügelt das Ganze. Und auch für die Schulung war darin ein Häkchen vor gesehen, das man anklicken musste. Alles war auf diese Weise auf das Strengste geregelt. Gleich zu Anfang wurde man darauf hingewiesen, dass die Einnahme von Essen oder auch kleinen Snacks sowie offenen Getränken strikt untersagt war. Dabei wurde jedem Anwesenden eine verschließbare Trinkflasche mit Firmenlogo übergeben. Toll! Jetzt hatten wir alle die gleiche Trinkflasche mit der wir uns wie die übrigen anderen etwa 60 Mitarbeiter, die hier schon eine Weile zugange waren, am Frischwasserspender bedienen durften. Kostenlos! Und treffend bemerkte eine meiner jungen Kolleginnen: “Also ich finde den Wasserspender echt toll. Gerade jetzt im Sommer.”
Der ultimative Selbsttest auf dem Billiglohn-Markt (4): Warum ein Fisch nicht in den Koffer gehört – oder 40 Stunden Arbeit zum Preis von 35
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Die erste der zahlreichen Hürden …
“Deutschland ist das coolste Land der Welt”: Ein masochistischer Selbsttest auf dem Leipziger Arbeitsmarkt – in mehreren Folgen
Wenn man vollmundig behauptet …
Ja, und es war auch ein toller Anblick so an die 100 Leute mit der gleichen Flasche herumrennen zu sehen. Dazu hatte jeder ein winziges Schließfach, in dem man Wertsachen und Handy unterbringen sollte. Weil einen Schreibtisch mit abschließbaren Fächern oder Schubladen gab es nicht. Der Arbeitsplatz bestand lediglich aus dem PC, der Schreitischplatte und dem Telefonheadset. Gegenstände, die heutzutage symbolisch für den modernen, schlecht bezahlten und perfekt kontrollierten Job stehen. Grundsätzlich ging es beim Job meines Lebens darum, die Beschwerden von Flugpassagieren zu bearbeiten. Das reichte von beschädigtem, verspätetem, verlorenem Gepäck nebst Inhalt, über den Tomatensaft, der im Flugzeug von der schussligen Stewardess über das 10.000-Euro-Kostüm der First-Class-Passagierin gegossen wurde, bis hin zu den entsprechenden Entschädigungen, Ersatzleistungen, Trostpflästerchen und der Verteilung der berühmten Bonusmeilen, um die erhitzten Gemüter der Passagiere wieder zu beruhigen und sie vor allem bei der Stange zu halten, sprich, sie weiterhin an Bord als ach so treue Fluggäste begrüßen zu dürfen.
Darum also drehte sich also alles im Großen und Ganzen und würde fürderhin den Inhalt meines Arbeitslebens bilden. Man mag sich aber kaum vorstellen, mit welch großem Aufwand das betrieben wurde. Zu all dem Zinnober gab es so ziemlich für alles und jeden ein eigenes Programm, die dann parallel bedient wurden, um die verschiedenen Problemfälle zu bearbeiten. Hinzu kamen zig Codes, Abkürzungen, Kürzel und ein Mischmasch aus deutsch und englisch, was dann eben das typische Flugkauderwelsch darstellte. All das galt es möglichst in Fleisch und Blut übergehen zu lassen und man versprach uns mit sardonischem Lächeln, dass man bald von all dem träumen würde. Zu all dem gab es jede Menge “Hand outs” wie die dicken Ordner mit all den Vorschriften, Kürzelerklärungen und Programmen auf Neudeutsch genannt wurden, die sich alsbald in unübersichtlicher Weise auf meinem Tisch stapelten.
Auf diese Weise lernte man bis zum Erbrechen, verschiedene Koffertypen an Codes zu erkennen, ob geklaut, beschädigt, verloren oder sonstwas. Welcher Fluggast es war, ein Promi oder ein stinknormaler Passagier, wobei Promis natürlich bevorzugt behandelt wurden. Aber das ist ja nichts Neues, in keiner Branche. So eignete man sich innerhalb von zwei drei Wochen ein Spezialwissen an, mit dem man an sich nicht wirklich etwas anfangen kann. Man wird ein Experte. Und der weiß bekanntermaßen von immer weniger immer mehr, bis er am Ende von gar nichts alles weiß. Wie zum Beispiel die Erkenntnis, dass ein Fluggast keine Entschädigung zu erwarten hat, wenn sein Armanianzug im Koffer durch den Fisch verdorben wurde, den er im nämlichen Koffer transportiert hatte. Mich zerriss es förmlich vor Spannung, während um mich herum eifrig mitgeschrieben wurde. Dazu wurden lustige Filmchen aus erhellenden TV-Dokus wie Galileo gezeigt. Titel: “Der Weg eines Koffers”. Mit Einschlafgarantie.
Das Schlimmste allerdings war dabei die ständige Bevormundung und das Bedürfnis der Trainer, alle wie ABC-Schützen zu behandeln und zu überwachen. Eine Trainerin hatte die drollige Angewohnheit, sich unauffällig von hinten heranzuschleichen, um zu schauen, ob man “verbotener Weise” im Internet surfte. Dann hieß es: “Wir surfen nicht im Internet. Das geht überhaupt nicht!”. Tippte man während der erleuchtenden Beiträge der Trainerin kam ein: “Haben wir einen Grund zum Tippen, Herr Weidemann?” Den hatte ich in der Tat, allerdings erspare ich mir auf rhetorische Fragen gewöhnlich eine Antwort. An dieser Dame war definitiv ein guter Feldwebel verloren gegangen. Am nächsten Tag wurde sie von versammelter “Frauschaft” mit “Guten Morgen Frau Lehrerin” gefolgt von großem Gekicher begrüßt. So quälte ich mich lange Stunden mit Koffercodes, Flughafenabkürzungen und dem ganzen Flughafenschreibverkehr in Geheimsprache ab, um zukünftig sogenannte “Cases” also Fälle bearbeiten zu können. Acht Stunden am Tag.
Anlässlich einer Visitation bei einer schon länger tätigen Kollegin wurde ich dann mit der Praxis vertraut gemacht. Die spulte sich den ganzen Tag nach Schema “F” ab. Man bekam seine Fälle von der Zentrale in Gütersloh zugeteilt, bearbeitete sie und wenn man durch war, musste man in nämlicher Zentrale anrufen, um sich neue “Cases” geben zu lassen. Durch dieses geschickte System kam es zu keiner Lücke, so dass man die Mitarbeiter pausenlos beschäftigt wusste. Viel Englisch war allerdings im Gegensatz zur Jobbeschreibung in der Anzeige in Wahrheit nicht gefragt und Kreativität schon gar nicht. Für Antworten an Fluggäste waren Mustertexte vorgesehen, die per Copy & Paste eingefügt und nur gerinfügig verändert wurden. Alles wurde selbstverständlich lückenlos per PC überwacht, wurde dokumentiert und beurteilt.
Zwischenzeitlich wurde ich fotografiert. Mein Konterfei sollte auf ein weiteres buntes Schildchen geklebt werden, auf das ich noch einmal à la Poesiealbum alles über mich erzählen sollte. Hobbys, Familie, Tiere… pi, pa, po. Das wurde dann an eine riesige Pinwand gepappt. “Zum einander kennenlernen…” wie man sagte. Ja, in dem Mädchenlyzeum hat es mich dann auch nicht lange gehalten, muss ich ehrlich sagen, auch nicht zum “näher kennenlernen”. Schon gar nicht, wenn nicht mal 1.000 Euro netto rauskommen für eine 40-Stunden-Woche. Habe neulich eine Jobanzeige gelesen. Die suchen einen Kraftfahrer in Festanstellung. 2.000 Euro brutto Anfangsgehalt. Keine Englischkenntnise gefragt…
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