Ziel der im Mai 2015 gegründeten ÖPNV-Strategiekommission war eigentlich die Entwicklung einer Gesamtstrategie für einen leistungsfähigen, kundenorientierten und wirtschaftlichen ÖPNV in Sachsen. Die Erwartungen waren hoch. Die Enttäuschung am Freitag, 15. Dezember, war entsprechend groß. Das 180-seitige Ergebnis schwankt zwischen einem ängstlichen „Weiter so“ und einem ebenso ängstlichen „Wir könnten ja mal“ für die Zukunft.
Vielleicht liegt es ja an der Zusammensetzung der 27-köpfigen Kommission unter Vorsitz von Staatssekretär Dr. Hartmut Mangold. Ihr gehören neben Vertretern aller Fraktionen des Sächsischen Landtages, der kommunalen Ebene, der fachlich zuständigen Staatsministerien, der Fahrgast- und Unternehmensverbände auch Vertreter von Gewerkschaften, der IHK, der Wissenschaft sowie ein Vertreter für die Belange von Menschen mit Behinderungen an. Es wurden insgesamt fünf Arbeitsgruppen zu den Themen „Infrastruktur und Fahrzeuge“, „Angebotsentwicklung“, „Finanzierung“, „Tarif und Vertrieb“ sowie „Organisation“ etabliert.
Und tatsächlich entspricht der am Freitag vorgestellte Abschlussbericht nicht einmal ansatzweise der Ausgangsfrage: „Wie können wir den ÖPNV unter den sich ändernden Rahmenbedingungen weiterentwickeln? Wie wird er für mehr Menschen zu einer alltagstauglichen Alternative zum Individualverkehr? Wie sichern wir den ÖPNV im vom Bevölkerungsrückgang besonders betroffenen ländlichen Raum?“
Nach zweieinhalb Jahren Kommissionsarbeit erhielt Verkehrsminister Martin Dulig am Freitag, 15. Dezember, den Abschlussbericht überreicht.
„Dieser enthält eine Vielzahl konkreter Handlungsempfehlungen, wie der sächsische ÖPNV noch kundenfreundlicher, innovativer, wirtschaftlicher und umweltfreundlicher gemacht werden kann“, formuliert das Verkehrsministerium dazu. Vielleicht trifft es das Wort Kompromiss besser. Ein gut Teil der Kommissionsmitglieder hatte gar nicht den Mut, über den heutigen Flickenteppich hinauszudenken. Ergebnis: Ein Feilschen und Ringen um jede einzelne Position. Kein großer, ganzheitlicher Zukunftsentwurf.
„Insbesondere in den fünf Facharbeitsgruppen haben die Kommissionsmitglieder den sächsischen ÖPNV so gründlich wie nie zuvor evaluiert, haben diskutiert, miteinander gerungen, abgewogen und schließlich gemeinsam eine Vielzahl konkreter Handlungsempfehlungen entwickelt. Dank der Arbeit der Kommission kennen wir jetzt die Stärken und Schwächen unseres ÖPNV-Systems viel besser. Es ist mir ein Bedürfnis, allen Kommissionsmitgliedern für ihr Engagement, ihren fachlichen Beitrag, ihre Kooperations- und Kompromissfähigkeit zu danken“, bringt Verkehrsminister Martin Dulig das Gezerre um eine nicht wirklich befriedigende Kompromissfindung auf den Punkt.
Zu den Handlungsempfehlungen, auf die sich die Kommission einigen konnte, gehören:
– Ein landesweites Busnetz mit Plus- und Taktbussen würde die Erreichbarkeiten und die Alltagsmobilität für viele Menschen insbesondere im ländlichen Raum deutlich verbessern.
– In den wachsenden Städten könne das bereits sehr gute ÖPNV-Angebot weiter ausgebaut werden, wenn die Investitionstätigkeit in Infrastruktur und Fahrzeuge gezielt erhöht wird.
– Mit einem Sachsen-Tarif kann dem Wunsch vieler Fahrgäste nach einfachen, einheitlichen und die Grenzen der Verbünde überschreitenden Angeboten entsprochen werden.
– Ein spezielles „Bildungsticket“ soll den Schülern und Auszubildenden einen kostengünstigen Zugang zum ÖPNV verschaffen und die Elternbeiträge für die notwendige Schülerbeförderung vereinheitlichen.
„Es liegt an uns – den Verantwortlichen in der Landes- und Kommunalpolitik sowie den Akteuren des ÖPNV – aus den vielen guten Vorschlägen jetzt die geeignetsten Vorhaben auszuwählen und in die Praxis zu überführen. Die Handlungsempfehlungen der ÖPNV-Strategiekommission liegen auf dem Tisch. Jetzt ist es Zeit für Taten“, so Dulig weiter. Nicht jedes Vorhaben könne unverzüglich in Angriff genommen bzw. mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen in vollem Umfang realisiert werden. Wichtig sei, mit dem Schwung und dem breiten Konsens der Kommissionsarbeit mit ausgewählten Projekten so schnell wie möglich in die Umsetzungsphase zu starten.
Das Stichwort „Sachsen-Takt“ fehlt. Und auch zum ÖPNV-Angebot in den wachsenden Städten muss man etwas sagen. Denn wirklich darauf geeinigt, es auszubauen, hat man sich nicht. Die Beharrungskräfte der sächsischen Sparmeister sind zu groß.
Auch wenn man den rasant steigenden Mobilitätsbedarf in den Großstädten sehr wohl sieht. Man lobt ihn regelrecht und sieht, was für eine Power dahintersteckt, wenn ein wirklich modernes ÖPNV-System wie die Mitteldeutsche S-Bahn in Betrieb geht.
„Die Verkehrsnachfrage im sächsischen SPNV stieg bei summarisch nahezu unverändertem Verkehrsangebot von 2006 bis 2015 um 27 % von 1,26 Milliarden auf 1,61 Milliarden Personenkilometer“, kann man im Bericht lesen. „Allerdings fallen die Nachfrage und deren Entwicklung regional sehr unterschiedlich aus; zugewonnen haben vor allem die S-Bahnen und RE-Verkehre. RB-Verkehre stagnierten hingegen oftmals oder haben sogar Fahrgäste verloren, insbesondere in peripheren Räumen.“
Was schon die erste Erkenntnis bedingt: Wenn ein moderneres und besseres ÖPNV-System eingeführt wird, steigt sofort die Nachfrage.
Und das hat zum Ergebnis: „Die positive Entwicklung der Gesamtnachfrage der letzten Jahre ist insbesondere auf die Inbetriebnahme des Leipziger City-Tunnels zurückzuführen. Dies betrifft vor allem die Nachfrage im Leipziger Umland. Als Indikator dafür sei an dieser Stelle der Anstieg der Verkehrsleistung im ZVNL-Gebiet um 34 % in den Jahren 2013 bis 2015 angeführt.“
Das würde eigentlich in aller Logik bedeuten, dass man das komplette regionale Schienennetz in Sachsen genau so organisiert – mit guten Vernetzungen und dichten und verlässlichen Takten. Genau darauf hatten gerade all jene gewartet, die sich nun seit Jahren intensiv mit dem Nahverkehr beschäftigen. Und: Die Kommission schlägt es einfach nicht vor.
Dort hat man auch überhaupt nicht wirklich ernst genommen, wie stark die Oberzentren (und gerade Leipzig) jetzt wachsen und welchen Druck das auf die innerstädtischen Verkehrssysteme ausübt. Man hat zwar einen extra Schwerpunkt M4 „Invest Oberzentren“ gebildet. Aber das Ergebnis ist eher mager.
„Wie unter M1 erwähnt, stehen die Oberzentren – vornehmlich die Ballungsräume – vor der Aufgabe, das Fahrgastwachstum infolge der Bevölkerungszunahme zu bewältigen und neue Fahrgastpotenziale vor dem Hintergrund der beginnenden Mobilitätswende zu erschließen. Der Investitionspfad ist davon abhängig, welche verkehrlichen Ausbauziele verfolgt werden: Soll der heutige Modal Split gehalten werden (Fortschreibungsszenario), sind von 2019 bis 2030 über den Substanzerhalt hinaus Investitionen in Höhe von rund 40 Millionen EUR p.a. erforderlich. Im Falle einer offensiven ÖPNV-Politik, die auf eine spürbare Steigerung des ÖPNV-Marktanteils abzielt (Wachstumsszenario: Ziel ist ein Modal-Split-Anteil des Umweltverbundes von 70 %), ist mit zusätzlichen 65 Millionen EUR pro Jahr ab 2024 zu rechnen.“
Im Bericht wird es direkt am Beispiel LVB durchexerziert. Aber man sieht sofort, dass man – ganz ähnlich wie in einigen der Leipziger Mobilitätsszenarien – von erstaunlich niedrigen Zielzahlen ausgeht. In diesem Fall von 220 Millionen Fahrgästen im Jahr 2030 (2017 werden es etwas über 150 Millionen). Bis 2024, so kann man lesen, geht man sogar davon aus, dass der Zuwachs im bestehenden System geleistet werden kann. Und erst dann glaubt man, in die Planungen für die Erweiterung des Netzes einsteigen zu müssen. Wer die heutigen Engpässe im Netz kennt, weiß, dass Leipzig so viel Zeit gar nicht hat. Dass die zusätzlichen 65 Millionen Euro nicht erst ab 2024 nötig werden, sondern eigentlich schon ab 2019, mit dem neuen Doppelhaushalt.
Denn die 484 zusätzlichen Millionen entsprechen nicht einmal dem notwendigen Finanzierungsbedarf, den Leipzigs Verkehrsplaner bis 2030 kalkuliert haben. Bei 50 Prozent Eigenanteil kommt man da auf rund 900 Millionen Euro fürs LVB-Netz. Leipzig allein bräuchte also rund 450 Millionen Euro Förderung.
Saß die Kommission tatsächlich voller Bremser?
Es sieht so aus.
Leipzig kann nicht erst 2024 anfangen, den Abbau des „Sperrriegels“ im LVB-Netz zu planen oder ein neues Achsen-Ring-Konzept zu entwickeln. Das muss heute passieren. Leipzig hat – wenn es keinen Verkehrskollaps erleiden will – gar keine andere Wahl, als ein Wachstumskonzept umzusetzen. Und zwar jetzt. Nicht erst 2024.
Da runzelt man eher die Stirn, wenn im Bericht trotzdem wieder ein „Weiter so“-Konzept auftaucht: „Im Fortschreibungsszenario beträgt der Investitionsbedarf in den sächsischen Ballungsräumen und Oberzentren im Zeitraum 2019 – 2030 ca. 474 Mio. EUR (zu heutigen Preisen). Umgerechnet auf Jahreswerte sind ca. 40 Mio. EUR veranschlagt.“
Das würde geradezu in Stau und Chaos führen. Die Werte für ein im Grunde noch zurückhaltendes Wachstumsszenario: „Im Wachstumsszenario sind den Werten des Fortschreibungsszenarios weitere Finanzbedarfe hinzuzufügen. Nach den Schätzungen der Verkehrsunternehmen fallen für die Investitionen in den Ballungszentren zusätzlich ca. 484 Mio. EUR an. Diese verteilen sich auf jährliche Bedarfe von ca. 65 Mio. EUR im Zeitraum 2024 – 2030 sowie die Kosten der Vorlauffinanzierung bis 2024 …“
Bis 2024 hat jedenfalls Leipzig diese Zeit nicht. Gerade am Innenstadtring muss der Umbau vor 2024 begonnen werden. Und 220 Millionen Fahrgäste sind für die Modal-Split-Pläne in Leipzig auch viel zu wenig. Ein wirklich attraktives ÖPNV-Netz in Leipzig schafft 265 Millionen. Aber der Bericht der Kommission steckt voller Zögern und Zaudern, weil man sich Wachstum augenscheinlich nicht wirklich vorstellen konnte.
Logisch, dass es für diesen Bericht der Strategiekommission auch postwendend heftige Kritik gab.
Die sammeln wir gleich an dieser Stelle.
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