Zum Feiern haben die Verantwortlichen im Dezember 2013 das ganz große Rad gedreht. Der Leipziger City-Tunnel ging in Betrieb. Die Leipziger durften das Ingenieur-Kunstwerk durchfahren und dabei das Gefühl haben, als hätte man ihnen nach 100 Jahren endlich ihre gewünschte U-Bahn geschenkt. Dass es die ganze Zeit um ein modernes S-Bahn-Netz für die Region ging, das verkniffen sich die Jubilanten zu betonen. Als hätten sie es selbst nicht begriffen.
Nichts macht so deutlich wie die heutigen Probleme im Streckennetz, dass die damaligen Planer nicht einmal begriffen haben, was sie da eigentlich bauten und wie sehr es der Region all die Jahre gefehlt hatte. Es ging nicht um ICE, auch wenn mancher verantwortliche Politiker davon schwatzte, als könne man den Leipzigern einen Tunnel für eine simple S-Bahn einfach nicht verkaufen.
Und so stritt man sich über mögliche Durchfahrtzeiten für einen ICE irgendwann in der Nacht, während man die Kalkulation für die benötigten Triebwagen der Deutschen Bahn überließ. Auch der Zweckverband Nahverkehr Leipzig (ZVNL), der neben der NASA in Sachsen-Anhalt für die Bestellung des Zugbetriebs im S-Bahn-Netz zuständig ist, verließ sich auf die Kalkulationen der Bahn. Die sich schon kurz nach Eröffnung als zu niedrig erwiesen. Das S-Bahn-Netz wurde angenommen. Niemand redet mehr über den Tunnel. Und die Fahrgastzahlen im Herzen der Metropolregion steigen.
Doch die Reserven fehlen. Es stehen keine weiteren Talent-Triebwagen bereit, die man einfach einsetzen könnte. Dafür befinden sich zwischen 5 und 10 Wagen regelmäßig in der Werkstatt. Oder sie stehen an Endhaltestellen herum, wo sie schlichtweg nichts nützen.
Das kritisiert der Ökolöwe Leipzig, der sich bestürzt zeigt über das anhaltende Bahn-Chaos auf der am stärksten nachgefragten Strecke zwischen Leipzig und Halle. Die zu geringen Kapazitäten führen dazu, dass Pendler nicht mehr einsteigen können, weil die Bahnen überfüllt sind.
Tino Supplies, verkehrspolitischer Sprecher des Ökolöwen: „Es ist unbegreiflich, wieso man die S5 auf halber Strecke zwischen Leipzig und Halle enden und am Flughafen herum stehen lässt, während die verbleibenden Bahnen nach Halle aus allen Nähten platzen, sodass Fahrgäste von der Polizei aus den überfüllten Zügen geschmissen werden. – Der Zweckverband NASA in Sachsen-Anhalt sowie der ZVNL auf sächsischer Seite sind hier gefordert. Sie müssen sich sofort an einen Tisch setzen und dafür sorgen, dass die S5 dauerhaft nach Halle durchfährt.“
Eine Verbesserung für die Strecke Halle-Leipzig könne man vergleichsweise kostengünstig erreichen. Wagen, Lokführer und Zugbegleiter der S5 – alles sei bereits da. Derzeit warten sie laut Fahrplan 45 Minuten am Flughafen, um sich dann wieder zurück nach Leipzig aufzumachen.
“Es wäre nur vernünftig, wenn sie in dieser Zeit, statt am Flughafen zu stehen, bis nach Halle fahren würden, so wie das bereits zur Buchmesse und in einem begrenzten Zeitraum zwischen Dezember 2014 und Januar 2015 praktiziert wurde. Es konnte damit annähernd ein 30-Minuten-Takt angeboten werden”, stellt Supplies fest.
Vom regelmäßigen 30-Minuten-Takt nach Halle können die Leipziger nur träumen. Es ist, als wollten die Verantwortlichen für das Netz geradezu verhindern, dass es funktioniert. Dass das in Sachsen fünf Jahre lang Politik war, ist bekannt. Die Regionalisierungsmittel für die Zweckverbände wurden drastisch eingedampft. Wenn der ZVNL jetzt von 120 Millionen Euro spricht, die er bekommt, ist das noch immer ein Sparpaket, leitet der Freistaat Sachsen weiterhin 20 Prozent der Regionalisierungsmittel um und finanziert damit Teile seiner eigenen ÖPNV-Aufgaben.
“Der Freistaat Sachsen und das Land Sachsen-Anhalt müssen jetzt die Mittel für Trassen- und Stationsgebühren bereitstellen, damit die Bahn dauerhaft bis nach Halle durchfahren kann”, fordert der Ökolöwe. “So kann der Druck von den übrigen Linien genommen werden. Die unhaltbaren Szenen an den Bahnsteigen hätten dann ein Ende.”
Einer aber glaubt nicht wirklich daran: Carsten Schulze vom Fahrgastverband Pro Bahn. Denn damit ist das Problem der zu knappen Ausstattung mit Fahrzeugen nicht gelöst. Wenn im Dezember weitere Strecken in Sachsen-Anhalt ans Netz gehen, wächst die Attraktivität des S-Bahn-Netzes weiter. Das wird sich auch auf die anderen Strecken auswirken, genauso wie sich das Bevölkerungswachstum gerade in Leipzig auf das S-Bahn-Netz auswirkt. Und anderthalb Jahre nach Eröffnung wird auch immer deutlicher, dass das Netz einen Bedarf deckt, der vorher überhaupt nicht ernst genommen wurde – auch und gerade nicht von der Bahn.
Was Schulze sieht, ist, dass im Herzen der Metropolregion zunehmend auch die S-Bahn-Nutzung anderer deutscher Metropolen zu erwarten sein wird: “Erfahrungsgemäß wachsen alle Bahnsysteme mit derart guten Grundvoraussetzungen stetig an. Ob das die ganz großen sind (Berlin, München) oder einzelne Linien (die berühmte S28 Kaarst – Düsseldorf – Mettmann mit weit über 1.000 % Fahrgastzuwachs) oder vergessen geglaubte Nebennetze (Usedomer Bäderbahn, 1.500% Zuwachs seit 1995). Wenn ein Netz schon nach 1,5 Jahren mit Räumungen hantieren muss, zeigt dies, dass es gar keine Reserven gibt, in den kommenden Jahren anständig zu wachsen. Das wäre tragisch.”
Und es zeigt, dass die Botschaft gerade in den zuständigen Verkehrsministerien immer noch nicht angekommen ist. Die Ministerien prunken mit ganzen Meldungen zum Fernverkehr (den sie in der Vernetzung tatsächlich schon vor Jahren richtig vergeigt haben), den Nahverkehr haben sie auch in Gedanken schon völlig an die regionalen Zweckverbände abgegeben – und gleichzeitig die Regionalisierungsmittel gekürzt, die gerade im mitteldeutschen Raum gebraucht würden, um das System endlich auf den Stand des Tages zu bringen.
Denn da ist es eindeutig nicht. Bis auf die S5 und ein paar Neuordnungen ab Dezember in der Linienzuordnung hat es keine eingeplanten Reserven. Es zeigt sich genau in der knappen, auf Kante genähten Konstruktion, wie sie den Verantwortlichen 2008 denkbar war, als alle Welt mit sinnlosen Diskussionen über ICE und City-Tunnel beschäftigt war, aber nicht mit der Frage: Reicht das neue S-Bahn-Netz überhaupt aus, den künftigen Bedarf zu decken? Und hat es auch noch Möglichkeiten mitzuwachsen, wenn das in und um Leipzig so weiter geht?
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