Seit Donnerstag, 16. Januar, hat Deutschland so etwas wie einen Ausstiegspfad aus der Kohle. โ€žDie Bundesregierung hat den Ministerprรคsidenten der Lรคnder Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt einen Stilllegungspfad fรผr die Braunkohlekraftwerke in Deutschland vorgestellt, den sie beabsichtigt mit den Betreibern der Braunkohle-Kraftwerke und -Tagebaue vertraglich festzulegen. Die Ministerprรคsidenten stimmen diesem Stilllegungspfad zuโ€œ, meldete die Bundesregierung. Ein Kompromiss mit jeder Menge Fragezeichen.

Durchgesetzt haben sich in der Runde mit der Bundeskanzlerin ganz unรผbersehbar die Ministerprรคsidenten der drei ostdeutschen Braunkohlelรคnder Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, fรผr die das Thema Strukturwandel ein brisantes Wahlkampfthema ist. Alle drei Regierungen strรคubten sich vehement dagegen, die ostdeutschen Kohlekraftwerke vor 2030 vom Netz gehen zu lassen. Lediglich das brandenburgische Jรคnschwalde wird bis zum 31. Dezember 2028 abgeschaltet. Die letzten Blรถcke im Kraftwerk Boxberg sollen hingegen erst am 31. Dezember 2038 vom Netz.

Das Kraftwerk Boxberg in der Lausitz. Foto: Marko Hofmann
Das Kraftwerk Boxberg in der Lausitz. Foto: Marko Hofmann

Selbst Lippendorf soll bis 2035 weiterlaufen. Den Schwerpunkt der frรผhen Abschaltungen vor 2030 hat das Papier ins rheinische Revier verlagert, wo bis 2022 acht Kraftwerke vom Netz gehen sollen, die zu den รคltesten Meilern in Deutschland gehรถren. Dafรผr darf parallel das umstrittene neu erbaute Steinkohlekraftwerk Datteln 4 ans Netz gehen.

Und die Bundesregierung will sich, wie z. B. der โ€žSpiegelโ€œ meldete, diesen Ausstieg noch einmal extra kosten lassen, zusรคtzlich zu den 40 Milliarden Euro an Strukturhilfe fรผr die Braunkohleregionen, die sowieso schon beschlossen sind: โ€žBetreiber von Kohlekraftwerken bekommen Milliardenentschรคdigungen fรผr das vorzeitige Abschalten ihrer Anlagen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte am Donnerstag in Berlin, Betreiber westdeutscher Kraftwerke erhielten 2,6 Milliarden Euro, Betreiber von Anlagen im Osten 1,75 Milliarden Euro.โ€œ

Und dabei wird es nicht bleiben, denn die Bundesregierung will auch noch Geld fรผr die Kumpel bereitstellen, heiรŸt es in der Pressemitteilung: โ€žDie Bundesregierung wird ein Anpassungsgeld (APG) fรผr Beschรคftigte in Braunkohle-Kraftwerken und -Tagebauen sowie in Steinkohle-Kraftwerken einfรผhren (fรผr den Steinkohle-Bergbau existiert bereits ein APG). Das APG wird bis 2043 gezahlt werden. Unternehmen wird die Mรถglichkeit gegeben, das APG im Sinne einer Stellvertreterregelung auch standortรผbergreifend einzusetzen. Ein Vermittlungsvorrang wird bei der APG-Zahlung nicht verlangt.โ€œ

Und das alles vor dem Hintergrund, dass diese riesigen Investitionen eigentlich gebraucht werden, um endlich die benรถtigten Infrastrukturen fรผr die Energiewende aufzubauen. Doch ausgerechnet beim Ausbau von Solar- und Windkraftanlagen bremst die Bundesregierung.

Dazu bleibt die Information der Bundesregierung freilich sehr schwammig: โ€žUm den Ausstieg aus der Kohleverstromung am Strommarkt auszugleichen, wird der Ausbau der erneuerbaren Energien entsprechend des 65 %-Ziels in 2030 im Rahmen einer EEG-Novelle beschleunigt und die Fรถrderung der Kraft-Wรคrme-Kopplung weiterentwickelt. Es sollen zusรคtzliche zwei Gaskraftwerkskapazitรคten den Wegfall groรŸer Mengen regelbarer Energie an bisherigen Kraftwerksstandorten ersetzen, zum Beispiel in Jรคnschwalde.โ€œ

Was die Bundesregierung da am Donnerstag, 16. Januar, vorgelegt hat, liest sich wie ein Versuch, sich mit sehr viel Steuergeld bei derzeit noch mรคchtigen Kohlekonzernen loszukaufen, ohne dass den verhandelten Ausstiegszahlen tatsรคchlich wirtschaftliche Analysen zugrunde liegen, weder zum nรถtigen Ausbauziel bei erneuerbaren Energien (bis hin zu Speichern und Stromnetzen) noch zur Betriebswirtschaftlichkeit der Anlagen, von denen auch jรผngere schon lรคngst an der Grenze der Rentabilitรคt arbeiten.

Im Sommer 2019 nahm EnBW schon einmal seinen Kraftwerksblock in Lippendorf vom Netz โ€“ auch aus Grรผnden der Rentabilitรคt. Denn die niedrigen Strompreise an den Bรถrsen senken auch die Wirtschaftlichkeit der Kohlemeiler deutlich. Der zweite, der LEAG gehรถrende Kraftwerksblock in Lippendorf blieb bislang am Netz, auch weil er Leipzig mit Fernwรคrme versorgt. Dieser Fernwรคrmeliefervertrag lรคuft Ende 2022 aus und Leipzig hat lรคngst beschlossen, aus dieser Fernwรคrmelieferung auszusteigen.

Ganz รคhnlich handeln derzeit viele deutsche Kommunen, von denen auch etliche sehr verwundert auf das seltsame Verhandlungsergebnis der Bundesregierung schauen werden, denn die hat hier einen Ausstiegspfad ausgehandelt, der so รผberhaupt nichts mit dem Willen der Kommunen zu tun hat, sich schnellstmรถglich aus den fossilen Vertrรคgen zu befreien und selbst mรถglichst bald klimaneutral zu werden.

Als erste deutsche Kommune erklรคrte Konstanz am 2. Mai 2019 den Klimanotstand, Leipzig tat es am 30. Oktober.

Die Liste der Stรคdte, die den Klimanotstand ausgerufen haben, ist auf Wikipedia mittlerweile 65 Positionen lang. Es gibt auch Kommunen, wo die Stadtparlamente solche Beschlรผsse abgelehnt haben. Und natรผrlich ist die Ausrufung in erster Linie Symbolpolitik. Aber sie verpflichtet die Verwaltungen eben auch, alle Klimaschutzplรคne, die die Stรคdte in der Regel alle haben, mit allen verfรผgbaren Mitteln auch umzusetzen.

Und dazu gehรถrt in der Regel auch ein drastischer Abbau der CO2-Emissionen. Das aber gelingt nur, wenn auch Strom-und Fernwรคrmeversorgung kohlefrei werden. Und zwar nicht erst 2035, dem Jahr, bis zu dem laut Bundesregierung das Kraftwerk Lippendorf mit beiden Blรถcken weiterlaufen darf.

Was es nicht wird. Das wรคre auch betriebswirtschaftlich nicht tragbar. Und so machen auch die vom Bund in Aussicht gestellten 4 Milliarden Euro fรผr den Ausstieg kaum einen Sinn, wenn nicht auch in Mitteldeutschland mehr Kraftwerke schneller vom Netz gehen.

Der Bund will zwar 2026 und 2029 prรผfen, โ€žob der Stilllegungszeitpunkt fรผr die Kraftwerke nach dem Jahr 2030 jeweils 3 Jahre vorgezogen und damit das Abschlussdatum 2035 erreicht werden kann.โ€œ Aber mit dem Geld, das Bundesfinanzminister Olaf Scholz jetzt auf den Tisch gepackt hat, hรคtte er den kompletten Kohleausstieg bis spรคtestens 2030 finanzieren und die Kohlekumpel finanziell auffangen kรถnnen.

Jetzt aber gibt er viel Geld aus und bekommt dennoch keinen schnelleren Ausstieg.

Kriegt Sachsens neue Regierung die Kurve in der Energiewende?

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