Es wird von Tag zu Tag immer erstaunlicher, dass diese SPD mit dieser CDU/CSU koaliert. Fast jede einzelne politische Philosophie unterscheidet sich - zuweilen sind es komplette Gegensätze. Etwa bei der Frage, was eigentlich ein Staat ist. Ein Monster, das reineweg nur Geld verschlingt und ansonsten den Aufpasser spielt? - Oder doch eher eine von uns allen geschaffene Dienstleistungsmaschine?
Die SPD neigt in ihren Sternstunden zur zweiten Ansicht. Die Sternstunden sind meist die, wenn sich die Führungsriege der Partei darauf besinnt, dass sie seit 1925 über einen eigenen “Think Tank” verfügt, der nichts anderes tut, als permanent über die aktuellen gesellschaftlichen Probleme nachzudenken, zu diskutieren und in zahllosen Schriften dazu auch öffentliches Handwerkszeug zu liefern – die Friedrich-Ebert-Stiftung.
Sie produziert zum Beispiel “Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik”. Ende 2013 – noch bevor sich CDU, CSU und SPD auf ihren eher durchwachsenen Koalitionsvertrag geeinigt haben – hat sie in dieser Reihe einen Diskurs “Gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen – gestalten und finanzieren” vorgelegt, der eigentlich ein Memorandum zur Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ist.
Die Autoren haben es nicht extra drauf geschrieben, aber es geht um ein neues, nachhaltiges Verständnis über den Staat, der eben in allererster Linie ein Produzent von Dienstleistungen ist, die dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft funktioniert und vor allem stabil bleibt. Stichworte: “Energie- und Wasserversorgung, Bildung und Erziehung, Gesundheitswesen, öffentlicher Nahverkehr, Verwaltung und der Sozialstaat.”
Doch sie wurden allesamt dem Spardiktat unterworfen. “Sie wurden in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten vorrangig als belastende Kostenfaktoren betrachtet, die es zu verringern gelte. Und die bislang von der Bundesregierung forcierte Austeritätspolitik in Europa, mit der eine vermeintliche Staatsschuldenkrise bewältigt werden soll, stellt mittlerweile gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen in fast allen Ländern Europas zur Disposition. Dabei war es eine Finanzmarktkrise, die in eine Staatsschuldenkrise verwandelt wurde. Doch während die wesentlichen Probleme des Finanzsektors bis heute nicht gelöst wurden, wird eine Politik verfolgt, die den Ansprüchen des Finanzsektors Vorrang gegenüber der Finanzierung anderer gesellschaftlich notwendiger Dienstleistungen einräumt”, schreiben Michael Fischer und Dr. Martin Beckmann im Vorwort.
Sie halten es für einen Mythos, “dass der Spielraum für gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen erst einmal ‘erwirtschaftet’ werden müsse, vor allem in der privaten industriellen und exportorientierten Produktion.” Sie selbst schaffen einen Mehrwert, der eine prosperierende Wirtschaft erst ermöglicht – von gut ausgebildeten Fachkräften über eine (noch) gewährleistete Ordnung und Sicherheit bis hin zu funktionierenden Infrastrukturen.
Diese Infrastrukturen aber zerbröseln den Deutschen gerade unter den Rädern – weil Gelder falsch verteilt werden, weil gerade Kommunen finanziell ausgeblutet sind und auch, weil die gesellschaftlichen Lasten längst falsch verzurrt sind.
Und es bröselt nicht nur in Deutschland. Die Spardiktate und falschen Lösungen in der Finanzkrise lassen gerade ganze Teile Europas gesellschaftlich erodieren. Die Analyse dazu: “Jedoch spricht vieles dafür, dass eine neue Gefahr aufzieht, die für den Fortbestand des europäischen Projektes ebenso gefährlich sein dürfte. Denn in den Peripheriestaaten Europas geht der wirtschaftliche Niedergang einher mit einem Zerfall von elementaren Dienst- und Versorgungsleistungen, was die Gesellschaften vor eine Zerreißprobe stellt und die Menschen in die Hoffnungslosigkeit und oft in bittere Armut treibt.”
Keine Frage: Von einer echten Europa-Politik waren die letzten beiden Regierungen um Lichtjahre entfernt. Von einem Verständnis, dass gesellschaftliche Stabilität in Südeuropa auch Prosperität in Deutschland bedeutet, erst recht. Ob es die neue Regierung besser macht – das steht in den Sternen. Es geht um nichts Geringeres als die Schaffung eines Europas der funktionierenden Dienstleistungen. Im Text der Analyse: “Europa kann – auch dies ist eine Erkenntnis der Finanz- und Wirtschaftskrise – scheitern, wenn es nicht gelingt, ein flächendeckendes Netz an qualitativ hochwertigen und gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen bereitzustellen.”
Noch ein Schritt weiter: “Die bisherige Politik einer bevorzugten Behandlung des Finanzdienstleistungssektors zu Lasten der ‘Realwirtschaft’, also den produktiven Industrie- und Dienstleistungssektoren, wird auf Dauer nicht durchhaltbar sein. Vom Steuerzahler getragene ‘Rettungspakete’, deren Zweck im Gläubigerschutz besteht, und eine gleichzeitige Reduktion sozialer Dienstleistungsangebote werden schon bald politisch nicht mehr durchsetzbar sein – sie sind jedenfalls alles andere als im Interesse der Mehrheitsbevölkerungen.”
20 Jahre lang hat auch die Bundesregierung versucht, das Problem der bezahlbaren Dienstleistungen durch die Segnungen eines “liberalisierten Marktes” zu lösen: Deregulierung und Privatisierung. “Die meisten Privatisierungen im Dienstleistungssektor konnten ihre Versprechen von mehr Qualität und mehr Flexibilität bei geringeren Kosten jedoch nicht halten”, stellen die Autoren der Analyse fest. Nicht nur, weil sich langfristig Privatisierungen fast immer als Einschränkung der Dienstleistungsangebote darstellen, sondern auch, weil sich die privatwirtschaftliche Rendite fast immer nur erzielen lässt, wenn an Arbeits- oder Investitionskosten gespart wird.
Deswegen hat prekäre Beschäftigung mittlerweile selbst in Krankenhäusern Einzug gehalten. Der Staat wird selbst zum Schaffer prekärer Beschäftigungsverhältnisse – mit den längst sichtbaren Folgen im Renten- und Sozialsystem. Dazu kommt die Sache mit der Zugänglichkeit. “Zudem folgt aus den zu berücksichtigenden Kriterien der Angebotsqualität, der allgemeinen Zugänglichkeit und Verfügbarkeit sowie der Gewährleistung guter Arbeit, dass weite Bereiche gesellschaftlich notwendiger Dienstleistungen mit dem Prinzip privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung nicht oder nur sehr schwierig vereinbar sind und daher für eine Privatisierung eigentlich nicht in Frage kommen – auch wenn dies in der Vergangenheit unter dem Druck knapper öffentlicher Kassen nicht selten getan wurde.”
Was kurzfristig Effekte bringt, wird langfristig zur (finanziellen) Belastung der Gesellschaft.Logische Folge: Wer eine moderne, funktionierende Gesellschaft will, muss sich über notwendige Dienstleistungen und ihre stabile Finanzierung einen Kopf machen – vom Gesundheitswesen (in dem es knirscht und knackt) über funktionierende Netze (Straßen, Schienen, Abfallentsorgung, Wasserver- und -entsorgung) über ein Bildungssystem ohne Barrieren und vor allem den programmierten Verlust von Talenten und Potenzialen durch “Auslese”, die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum, mit Kultur- und Sportangeboten und einer flächendeckenden Kommunikationsbasis. Und das ist tatsächlich nicht der Rundfunk, sondern: “Im Januar 2013 befand der Bundesgerichtshof, dass das Internet und der Zugriff auf seine vielfältigen Inhalte von zentraler Bedeutung für die persönliche Lebensführung sind. Damit wurde der Zugang zu Netzangeboten und -diensten praktisch auf dieselbe Stufe gestellt wie das Recht auf Mobilität.”
Mobilität? – Auch da scheint die Republik derzeit auf dem falschen Gleis zu sein. “Dabei nur auf den privaten Sektor zu setzen, wird schon aufgrund der hohen Kosten für die Bereitstellung der Infrastruktur in eine Sackgasse führen. Speziell in diesem Bereich gilt es, aus gescheiterten Privatisierungsbemühungen (zum Beispiel der Privatisierung des Schienenverkehrs in Großbritannien) zu lernen und Rahmenbedingungen zu entwickeln, die unterschiedlichen Anbietern die Möglichkeit für einen qualitätsorientierten Wettbewerb eröffnen.”
Heißt in der Folge: Eine Gesellschaft wird auch attraktiver und wettbewerbsfähiger dadurch, dass sie hohe Qualitätsstandards bei den notwendigen Dienstleistungen bietet – wovon die Bundesrepublik derzeit übrigens noch profitiert. Was auch bedeutet, dass eine Dienstleistungsgesellschaft selbst ein Wirtschaftsfaktor ist – und zwar ein eminent wichtiger, weil er die Grundlagen eines stabilen Gemeinwesens schafft – mitsamt den notwendigen gut ausgebildeten Fachkräften.
“Als Merkposten ist festzuhalten, dass gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen nicht nur für die Menschen in einer Gesellschaft und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts wichtig sind, sondern diese auch das Funktionieren einer wettbewerbsfähigen Ökonomie gewährleisten”, betonen die Autoren des Memorandums. “Damit sind gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen selbst ein wichtiges wirtschaftliches Gestaltungsfeld, das für das Funktionieren und den Zusammenhalt von Gesellschaften unerlässlich ist.”
Dabei gehen die Autoren nicht nur auf die wichtigen Begleitthemen wie soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und gute Arbeit ein (ver.di hat natürlich mitgeschrieben am Papier), sondern auch auf eher rein ökonomische Faktoren wie Verteilungswirkungen – das Geld, das in gesellschaftliche Dienstleistungen investiert wird, “verschwindet” ja nicht. Im Gegenteil, anders als in der Privatwirtschaft kommt es über die Verteilung der gesamten Gesellschaft zugute, selbst dann, wenn einzelne Gruppen daran mehr partizipieren als andere.
Teilhabe-Gradient nennen die Autoren diesen unterschiedlichen Grad der Nutzung von gesellschaftlichen Dienstleistungen. Und unübersehbar hängt dieser Gradient mit den Teilhabechancen zusammen – wer weniger mobil ist als andere, weniger gebildet und weniger informiert, der nutzt zwangsläufig weniger von dem, was angeboten wird. Was dann sogar Folgen für die Teilhabe an Arbeit hat – und für die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen und Einkommen für ganze Gesellschaftsschichten. Es ist schon erstaunlich, wie eng die Verschlechterung gesellschaftlicher Dienstleistung mit der Verschlechterung von Arbeitsqualität zusammenhängt.Und natürlich kommt dann zu der Frage, wie man Qualitäts-Dienstleistung gesellschaftlich finanziert. Die Autoren der Studie benennen einige Ansätze, bemerken aber auch knochentrocken, wie derzeit eine ganze Politikergeneration fiskalpolitisch versagt. Nicht nur in ihrem Eifer, Banken zu retten um jeden Preis. “Der Ausbau der gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen darf und braucht nicht an der Finanzknappheit öffentlicher Haushalte scheitern! – Zum einen sind die Rigorosität und Ausrichtung von Schuldenbremse und Fiskalpakt schon aus konjunkturpolitischen und wirtschaftlich logischen Gründen zu hinterfragen und entsprechend notwendige Änderungen absehbar. Zum anderen bestehen selbst innerhalb der Leitplanken von Fiskalpakt und Schuldenbremse Bewegungsspielräume für eine Finanzierung gesellschaftlich notwendiger Dienstleistungen. Die stabilste Lösung besteht allerdings letztlich darin, die strukturelle Ergiebigkeit der staatlichen Einnahmen zu erhöhen.”
Das Ergebnis ist in der gesamten Republik und im Freistaat Sachsen auch im Besonderen sichtbar: “Wo ursprünglich durch Sparen ein Defizitabbau bei den öffentlichen Finanzen intendiert war, droht eine Erhöhung der Verschuldungsquoten und ein Unterminieren der eigenen Zukunftsfähigkeit. Die Investitionsbedarfe und -rückstände der öffentlichen Infrastrukturen werden von ver.di bei den kommunalen Infrastrukturen auf jährlich rund 47 Milliarden Euro bis 2020, in öffentlichen Krankenhäusern auf rd. 50 Milliarden Euro und im Bildungswesen auf rd. 45 Milliarden Euro geschätzt. Deutlich höher fällt die Schätzung der Investitionsbedarfe in den Bereichen Verkehr (rd. 800 Milliarden Euro jährlich) und Energie (216 Milliarden bis 2015) aus (ver.di 2013).”
Ergebnis ist eine viel zu geringe Investitionsquote – gleichzeitig hat Deutschland – trotz aller Jammertiraden aus einflussreichen Kreisen – eine der geringsten Steuerbelastungen in Europa. Und sie erinnern daran, dass die Bereitschaft der Bürger, Steuern zu zahlen, sogar wächst, wenn sie dafür qualitätvolle Dienstleistungen bekommen.
Und vor allem dürfe man diese notwendigen Dienstleistungen nicht gegen die Industriepolitik ausspielen. Anders wird ein Schuh draus: Beide gehören zwingend zusammen. Keine prosperierende Wirtschaft ohne hochwertige gesellschaftliche Dienstleistungen.
Man kann ja hoffen, dass zumindest die Führungsriege der SPD das Papier tatsächlich gelesen hat und beherzigt. Denn hier werden einige der wichtigsten Korrekturen benannt, die nicht nur die Bundesrepublik wieder auf einen Modernisierungspfad führt, sondern auch neue Handlungsfelder für ein gemeinsames Europa erschließt.
Das komplette Memorandum findet man hier: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/10358.pdf
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