Da kannte man nichts. Da schlug die Bertelsmann-Stiftung gleich auf die ganz große Pauke, als sie am 4. Oktober ihre Studie zu den möglichen Arbeitsmarkt-Effekten des geplanten Freihandelsabkommens der USA mit Europa vorlegte. "160.000 neue Arbeitsplätze jeder Qualifikationsgruppe - Deutschland würde stark profitieren, wenn die EU und die USA sich darauf einigen, Handelshemmnisse umfassend abzubauen. Gewinner wären vor allem das produzierende Gewerbe in NRW, Bayern und Baden-Württemberg." Aber gibt das das Zahlenwerk überhaupt her?
160.000 Arbeitsplätze? Das ist nicht viel. Ein Plus von 0,4 Prozent. Die Autoren der Studie brillieren mit Rechnungen zu Input und Output, Löhnen und Branchenverifizierung. Und sie setzen ein Gravitationsmodell als Basis. Daraus ergeben sich dann komplexe Formeln, aus denen die Autoren vom ifo Institut die möglichen Effekte für die jetzt schon existierenden Branchen- und Länderverflechtungen errechnen könnten. Es sind keine neuen Handelsströme, die hier erzeugt werden, sondern man geht einfach davon aus, dass die schon bestehenden Handelsströme dann in größerer Menge fließen. Und dass dann logischerweise jene Bundesländer am meisten profitieren, in denen die exportierenden Industrien sowieso am stärksten vertreten sind.
Man nehme nur den Maschinenbau: 30,8 Prozent in Baden-Württemberg, 21,5 Prozent in Bayern, 20,2 Prozent in Nordrhein-Westfalen. Oder den Fahrzeugbau: 30,2 Prozent in Bayern, 29,0 Prozent in Baden-Württemberg, 11,6 Prozent in Niedersachsen … Schon an dieser Stelle wird die ganze Sache sehr fragwürdig. Denn gerade die Autobauer sind bekannt dafür, dass sie ihre Autos lieber vor Ort bauen, um sich einen großen Teil der Lieferlogistik zu sparen.
Die ifo-Leute haben zwar alle exportierenden Branchen aufgelistet. Aber sie haben nicht an einer Stelle hinterfragt, ob die Exporte in die USA auch Sinn machen. Es ist eher schwer vorstellbar, dass deutsche Unternehmen tonnenweise Papier und Druckprodukte in die USA verschiffen. Oder verfliegen. Auch wenn das einige Akteure schon jetzt in fieberhafte Betriebsamkeit versetzt. Denn ohne Grund sind ja die Politiker aus der Region Leipzig nicht in der vergangenen Woche nach Memphis geflogen: Sie wollen mit dem Frachtflughafen Leipzig/Halle gern dabei sein, wenn es losgeht mit dem Freihandel USA – Europa.
Und noch etwas ist schief an der verwendeten Gravitationsgleichung, hinter der “aggregierte Effekte für mehr als 120 Länder” stecken. Ein Modell also, in dem weniger entwickelte Länder mit höher entwickelten Ländern in einem Topf schmoren. Mal so ganz beiseite: Wenn es zu einem Handelsabkommen mit den USA käme, würden sich die beiden aktuell am höchsten entwickelten Wirtschaftsregionen miteinander verkoppeln. Ob dabei ausgerechnet noch mehr landwirtschaftliche Produkte aus Mecklenburg-Vorpommern oder gar Bergbauprodukte aus Sachsen-Anhalt über den Großen Teich schippern, ist höchst fraglich.
“Unsere Analyse erlaubt es, für Deutschland Unterschiede in der Betroffenheit einzelner Wirtschaftszweige, Berufs- und Bildungsgruppen oder Regionen durch THIP zu identifizieren”, behaupten die Autoren. Aber das scheint sehr kühn, wenn man einfach das existierende Exportraster der Bundesrepublik zur Grundlage nimmt.
Und dann kommt schon die erste Unterstellung: “Wie schon im ersten Teil der Studie unterstellen wir, dass das transatlantische Abkommen zu ähnlichen Handelsschaffungseffekten führen wird wie ähnliche, in den Daten bereits existierende Abkommen.”
Dass dieser Ansatz sehr fragwürdig ist, wird wenig später schon sichtbar, da nämlich, wo die ifo-Rechner die deutschen Handelsbeziehungen mit den EU-Staaten (definiert als EU 27), den USA und den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) untersuchen.
“Es wird deutlich, dass in allen Industriezweigen (mit Ausnahme des Mineralölsektors) die Dynamik des deutschen Außenhandels mit den USA geringer war als mit den BRICS-Staaten oder mit der Welt insgesamt. Das lässt sich einerseits darauf zurückführen, dass das Niveau des Handels mit den USA bereits deutlich höher ist als mit den Schwellenländern, bei denen im Vergleich zu den USA Nachholbedarf besteht. Allerdings hat der USA-Handel in zwölf von 16 Sektoren auch weniger stark zugelegt als jener mit der EU …”
Heißt im Klartext: Wirkliche Effekte hat ein neues Handelsabkommen immer nur dann, wenn zwischen zwei Handelspartnern noch ein starkes Gefälle besteht, das es zu überbrücken gilt. Aber auch die logistische Entfernung spielt eine Rolle. Für die meisten Waren sind kurze Handelsrouten zielführender.
Und das steht übrigens auch drin in dieser Studie: Aus dem Wegfall der Zollschranken erwarten sich auch die Leute vom ifo-Institut eher nur einen geringen Effekt auf die Handelsströme.
Aber woher dann?Das Stichwort lautet: “nicht tarifäre Barrieren (NTB)”. Und da listen wir einfach mal auf, was Wikipedia zu diesem Stichwort alles ausspuckt: “technische Vorschriften, rechtliche Vorschriften, Exportbeschränkungen, Einfuhrquoten, Einfuhrsteuern, Einfuhrverbote, Ausfuhrverbote, spezielle Importabgaben, Steuervorteile, finanzielle Förderung inländischer Unternehmen, Umwelt- und Sozialstandards, Qualitätsstandards, Verpackungs- und Bezeichnungsvorschriften, Herkunftsangaben”.
Darum geht es die ganze Zeit. Um die Abschaffung von in Europa und der Bundesrepublik geltenden Standards und die Einführung von Standards, die in den USA gelten. Das bekannteste Beispiel, das in den letzten Wochen für Diskussionsstoff sorgte, sind genmanipulierte Nahrungsmittel. Der große Gentechnik-Konzern Monsanto hat seinen Versuch, in Deutschland Genehmigungen für seine gentechnisch veränderten Produkte zu bekommen, in dem Moment aufgegeben, als die Gespräche über das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU begannen.
Wenn das ifo-Institut alias die Bertelsmann Stiftung also in diesem Abbau von “nicht tarifärer Barrieren” den Haupteffekt des Freihandelsabkommens sehen, dann ist natürlich der ganze Rest der Rechnung überflüssig, weil der Großteil der dortigen Exporte ohne “nicht tarifäre Barrieren” erfolgt. Wenn die Studie nur einigermaßen Sinn machen soll, dann muss man jene Warengruppen lokalisieren, wo eben solche “nicht tarifären Barrieren” existieren und die zum großen Teil den Handel auch mit Absicht unterbinden. Zum Beispiel weil man bestimmte Warengruppen vom eigenen Markt wirklich ausschließen will.
Und erst wenn man diese Warengruppen kennt, kann man die aktuelle und die möglichen künftigen Export-Volumina abschätzen und daraus auch Beschäftigungseffekte errechnen. Die mit einiger Sicherheit deutlich geringer sind als die hier versprochenen 160.000 Arbeitsplätze. Es ist schlichtweg Unfug, die Öffentlichkeit mit Untersuchungen zu “Sektoralen Handelseffekten” zu blenden, wenn es nur noch um ganz spezifische “Liberalisierungseffekte” geht.
Den ifo-Leuten, die die Studie für Bertelsmann erstellt haben, ist durchaus bewusst, worüber sie da lieber gar nicht erst im Detail reden, sondern alles mit einer Formel zu erfassen versuchen, hinter der sich die realen Beziehungen verstecken: “Nicht tarifäre Barrieren sind protektionistisch wirkende regulatorische Maßnahmen, die ausländische Anbieter gegenüber inländischen Anbietern benachteiligen. Diese können politisch induziert sein oder aber aus den geographischen und historischen Gegebenheiten resultieren.”
Auf Seite 19 sprechen die Autoren der Studie dann wirklich Klartext: “Es zeigt sich, dass die Bedeutung der nicht tarifären Barrieren und das Potenzial ihrer Absenkung durch bilaterale Abkommen wie THIP über die einzelnen Industrien variiert. Anpassbare NTBs (das sind die nicht tarifären Barrieren, d. Red.) sind besonders hoch in den Bereichen Möbelherstellung oder Land- und Forstwirtschaft. Gerade in Letzterem sind viele protektionistische Maßnahmen in Kraft, die
vorgeblich die Konsumenten vor schädlichen Lebensmitteln aus dem Ausland schützen sollen. Aber auch im Maschinenbau, im Metallbereich oder im Ernährungsgewerbe sind die nicht tarifären Barrieren beträchtlich.”In diesem “vorgeblich” steckt die ganze Absicht der Studie. Alles andere ist eine mit Formeln gespickte Augenwischerei.
Wie schräg die Berechnungen dann werden, wenn man all diese Annahmen übereinander packt, wird dann bei der Berechnung für die Bundesländer sichtbar. Sachsen landet dort übrigens ganz am Ende mit einer prognostizierten Exportsteigerung von 20 Prozent – was sowieso schon eine utopische Zahl ist. Aber ausgerechnet die Industriezweige, in denen Sachsen im Export stark ist, wären eigentlich prädestiniert für mehr Handelsvolumina in den USA – Kraftfahrzeugbau, Maschinenbau, Büromaschinenbau.
Der Rest der Rechnungen ist auf dieser Grundlage einfach abenteuerlich. Selbst Einkommenssteigerungen von 0,6 bis 1 Prozent leiten die ifo-Experten aus den Zahlen ab. Was komplett fehlt, ist die Gegenrechnung: Welche Wirtschaftszweige erleiden eigentlich Einbußen, wenn die Barrieren im Handel mit den USA fallen?
Denn Handel hat immer zwei Richtungen. Und auch die Beschäftigungseffekte im Dienstleistungssektor sind nur eine Annahme. Auf wie schwachen Beinen sie stehen, ahnt man, wenn man die Bertelsmann-Stiftung anpreisen sieht: “Eine Senkung der Handelskosten würde sich auch auf Bereiche der Volkswirtschaft auswirken, die nicht direkt im Export beteiligt sind, darunter der Dienstleistungssektor, auf den 75.000 der neu zu erwartenden Arbeitsplätze entfallen. Beispielhaft zu nennen sind hier etwa Kraftfahrzeughandel oder Reparaturdienstleistungen.” Kfz-Händler und Kfz-Werkstätten in Sachsen leiden nicht darunter, dass nicht genug Autos auf dem Markt sind, sondern darunter, dass es längst zu viele sind.
Es sind Rechenformeln aus einer idealisierten Welt. Hinter der sich das eigentlich Beabsichtigte versteckt. Man wird von diesen “nicht tarifären Barrieren” noch eine Menge hören und lesen in nächster Zeit.
Zur Bertelsmann-“Studie”: www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-B760610D-9CAB657E/bst/hs.xsl/nachrichten_118581.htm
Keine Kommentare bisher