Noch vor wenigen Jahren war die Leipziger Messe froh, wenn sie Umsätze von 67 oder 70 Millionen Euro erreichte und die Zuschüsse der Eigentümer ausreichten. Das waren auch Zeiten, als der Verlust einer Spiele-Messe wie der Games Convention sofort tiefe Löcher in die Jahresergebnisse riss und Fachjournalisten über die Zukunft des Messestandorts Leipzigs nachzudenken begannen. Aber siehe da: Die „Mutter aller Messen“ strebt schon wieder nach Höherem.
Auch wenn Martin Buhl-Wagner, Geschäftsführer und Sprecher der Geschäftsführung, bei der Frage nach den 100 Millionen als Ziel heftig den Kopf schüttelt. Das war 2016 nicht der Plan, ist es auch 2017 und 2018 nicht. Da dimmt er die Erwartungen lieber herunter.
„Mit diesen Ergebnissen hat die Leipziger Messe ihre erfolgreiche Entwicklung über alle Unternehmensbereiche fortgesetzt. Wir freuen uns, dass auf Basis der Strategie der integrierten Veranstaltungskompetenz alle gesteckten Ziele erreicht wurden“, resümiert Martin Buhl-Wagner das Jahr, das eigentlich mit einem gewaltigen Knall begann: Der Absage der AMI Leipzig.
Zu der hatte man im Februar noch siegesgewiss auf die Tribüne der Leipziger Pferderennbahn eingeladen, weil man den Journalisten einen schönen Offroad-Parcours zeigen wollte. Das war tatsächlich der Trend der Zeit, obwohl die finsteren Wolken der Diesel-Abgas-Affäre schon über VW hingen und auch andere Diesel-Autobauer zunehmend nervös machten.
Politik und Medien schrieben und redeten zwar immerfort von sparsameren Motoren, sinkendem Spritverbrauch, sparsameren Autos und verbesserter Luftqualität in den Städten. Doch die Deutschen kauften nicht nur weiter Dieselautos, sondern stiegen zunehmend auf größere, PS-stärkere und mehr dieselschluckende Modelle um: Sportwagen, Geländewagen, SUVs. Die Luft in den Städten blieb belastet. Und noch im Februar zogen die Autobauer die Reißleine und bliesen den Leipziger Messeauftritt ab. Vorläufig, hieß es anfangs auch noch aus dem Hause Leipziger Messe.
Am Dienstagabend, 27. Juni, sagte Martin Buhl-Wagner nun ziemlich trocken: „Die AMI ist tot. Es wird keinen Nachfolger geben.“
Auch nicht anderswo. Die Zeit der großen Automessen in Europa geht zu Ende. Die großen Autobauer brauchen diese Schau der neuen Modelle nicht mehr. So jedenfalls nicht. Denn auch bei den Autobauern ist etwas passiert, was das Messegeschäft schon länger beschäftigt: Der Druck der Konsumenten, in immer kürzeren Abständen neue Modelle präsentiert zu bekommen, ist enorm gewachsen.
Nur so als Vermutung: Man könnte es den Apple-Effekt nennen. Denn wie kein anders Unternehmen hat Apple vorgemacht, wie man die potenziellen Käufer neugierig macht und in Aufregung hält, wenn man die Abstände zwischen den Präsentationen „absoluter Weltneuheiten“ immer mehr verkürzt und die echten „Fans“ dazu bringt, selbst die neuesten Geräte schon nach einem Jahr als völlig veraltet zu betrachten.
Eigentlich ist es eine katastrophale Entwicklung, die vor allem die Vermüllung der Welt und die Plünderung wertvoller Ressourcen vorantreibt. Aber nicht einmal die mächtige Autoindustrie konnte sich dem entziehen. Was schon vor dem Aus für die AMI zu spüren war. Und was auch die Produktionsketten der Autobauer verändert hat. Autos werden auch nicht mehr so gebaut wie zu Ferdinand Porsches Zeiten. Sie sind zu Hightech-Geräten geworden, die aus Komponenten aus aller Welt montiert werden, hochgradig abhängig von zunehmend spezialisierten Zulieferern.
Das kann für einen Produktionsstandort von Vorteil sein, wie man am Autostandort Dresden sieht, wo Bosch jetzt ein neues großes Werk baut. Ohne Bosch-Elektronik geht im deutschen Autobau eine Menge nicht mehr.
Und das Verblüffende für Buhl-Wagner und seinen Mit-Geschäftsführer Markus Geisenberger war 2016: Hätte man noch vier, fünf Jahre zuvor den Ausfall einer AMI als Leitpferd im Leipziger Messekalender als echte Katastrophe verbuchen müssen, entwickelte sich das Jahr 2016 zum erfolgreichsten in der Geschichte der Leipziger Messe. Zumindest der Geschichte ab 1990.
„Die Leipziger Messe steht nicht nur für ein starkes Messe- und Kongressgeschäft und eine hervorragende Infrastruktur in Leipzig, sondern weist auch an anderen nationalen und internationalen Standorten ihre Kompetenzen auf wachsendem Niveau nach“, sagt Geisenberger. Mit 97,3 Millionen Euro legte sie im Vergleich zum Vorjahr 17,4 Millionen Euro zu und erreichte einen neuen Umsatzrekord.
Bei so einem Wort stutzen natürlich Journalisten. Wie sah es denn vor 1990 aus, bevor Leipzigs Messe wieder begann, ein eigenes Messeportfolio aufzubauen und sich mit den größten Messeplätzen Deutschlands zu messen?
„Das hätten wir auch gern gewusst“, sagt Buhl-Wagner. „Aber die schlichte Wahrheit ist: Es gibt keine Zahlen.“ In DDR-Zeiten war die Messe kein eigenständiges Unternehmen mit eigener Unternehmensbilanz. Die Kosten und Gewinne wurden in den verschiedensten Ministerien in zuweilen völlig versteckten Posten abgerechnet. Die Messe galt als „Aushängeschild des Sozialismus“. Niemand wollte wissen, ob die Frühjahrs- und Herbstmessen am Ende schwarze Zahlen schrieben. Lieber wollte man 50 oder 90 Mal den Staatsratsvorsitzenden beim Messerundgang in der Zeitung ablichten.
Es wäre auf jeden Fall eine jahrelange Recherchearbeit für einen Wirtschaftshistoriker, diese Zahlen einmal zusammenzutragen. Buhl-Wagner betont aber auch, dass man 2016 auch nicht mit 97 Millionen Euro Umsatz gerechnet hätte. Nicht mal mit AMI. Wobei er noch daran erinnerte, dass ja noch eine zweite Messe abgesagt werden musste – diesmal wegen der Vogelgrippe: die Lipsia im Dezember. Eher hätte man mit einem Umsatz wie im Vorjahr im 80-Millionen-Euro-Bereich gerechnet.
Aber dann zeigte sich im Lauf des Jahres, dass man bei der Ausdifferenzierung der Messen in den Vorjahren augenscheinlich auf den richtigen Weg gesetzt hat. Das hat zwar die Zahl der Veranstaltungen enorm in die Höhe getrieben, aber dabei habe sich die zunehmende Spezialisierung der eigenen Leute als Pluspunkt erwiesen, so Buhl-Wagner.
Insgesamt 35 Messen, 195 Kongresse und Veranstaltungen im Congress Center Leipzig (CCL) und in der KONGRESSHALLE am Zoo Leipzig sowie 48 Events sorgten zudem für einen neuen Höchstwert von insgesamt 278 Veranstaltungen. Im Jahr davor hatte man rund 200 geschafft und hatte auch schon gestöhnt. Die Unternehmensgruppe begrüßte über 9.500 Aussteller und rund 1,2 Millionen Besucher in Leipzig sowie an anderen nationalen und internationalen Standorten.
Aber nicht nur die Kongresshalle hat mitgeholfen, noch mehr Veranstaltungen für ein sehr spezialisiertes Publikum anzubieten. Es ist auch die Firmenphilosophie der Messe, die hier für einen Modernisierungssprung gesorgt hat. Was zeitlich irgendwie besonders gut passte. Denn vor 120 Jahren hat man ja mit der Einführung der Mustermessen in Leipzig die letzte große Messerevolution initiiert. Und die wird dieser Tage gefeiert, weil das berühmte Doppel-M der Mustermessen seinen 100. Geburtstag feiert.
Die Messe zu dem Jubiläum:
„2017 feiert die Leipziger Messe mit dem 100. Geburtstag ihres Markenzeichens ein außergewöhnliches Jubiläum. Das Doppel-M gilt als älteste deutsche Messe-Marke und gehört zu den ältesten Messe-Signets der Welt. Es erinnert an die Mustermessen, die in Leipzig entwickelt wurden und bis heute die Grundlage des Messewesens bilden. Der Übergang von der Waren- zur Mustermesse markierte im ausgehenden 19. Jahrhundert einen entscheidenden Wandel im Messewesen. Das 1916 gegründete ‚Meßamt für die Mustermessen‘ beauftragte 1917 den renommierten Leipziger Grafiker und Künstler Erich Gruner, ein international unverwechselbares Logo für die Mustermessen zu entwerfen. Gruners erster Entwurf enthielt ursprünglich drei übereinander stehende ‚M‘. Zwei ‚M‘ waren positiv gesetzt, den Weißraum interpretierte er als drittes ‚M‘ – das jedoch bald in Vergessenheit geriet. Gruner begleitete die vielfältige Gestaltung des Markenzeichens bis in die 1950er-Jahre. Das Doppel-M ist bis heute das Wahrzeichen der Leipziger Messe und steht für die einzigartige Innovationskraft des Unternehmens.“
Heute bestimmen Mustermessen das Messegeschehen weltweit. Aber sie spielen bei der Leipziger Messe nicht mehr die zentrale Rolle. Was die Leipziger schon damals beim Kampf um die Games Convention miterleben konnten. Nicht mehr die Warenmuster stehen im Zentrum moderner Wirtschaftsmeetings, sondern die Besucher selbst. Die immer öfter deshalb kommen, weil das Messeereignis das in den Mittelpunkt stellt, was sie selbst so besonders macht. Was nicht nur auf Orthopäden, Maschinenbauer und Handwerker zutrifft. Sondern zum Beispiel auch auf Designer und andere Kreative, die mit der Designers Open längst auch zum Messegeschehen gehören. Genauso wie die Spielbesessenen, die sich zum zweiten Mal auf der Dreamhack in Leipzig trafen. Oder die Manga-Feunde, die die Buchmesse nun auch schon seit Jahren bereichern.
Messeplätze werden immer öfter zu Treffpunkten von Communities, die sonst vor allem über das Internet miteinander kommunizieren und die Chance nutzen, einmal im Jahr mit Gleichgesinnten an einem Ort zusammenzukommen. Was natürlich für Anbieter wieder der ideale Ort ist, sich der Community direkt zu präsentieren.
Davon, so stellten Buhl-Wagner und Geisenberger in Aussicht, wird es in Zukunft noch mehr geben. Die Messegesellschaft wird immer mehr zum Ausrichter von „Events“. Und am Nerv der Zeit bleibe man, wenn man die Fachleute im eigenen Haus habe, die in der Lage seien, zu verstehen, was da draußen in den Communities passiere und welche Bedürfnisse sie haben. Bedürfnisse, die manchmal scheinbar banal sind. So banal, dass große Veranstalter sie einfach vergessen haben und dann Wochen vor ultimo losgehen und jemanden suchen, der die Sache für sie organisiert.
Da kommt der Leipziger Messe zugute, dass sie zwei entsprechend profilierte Tochtergesellschaften hat, die sogar dann springen können, wenn’s brennt.
Oder etwas nüchterner im Ton der Messe zum Jahrsauftakt 2017: „Für das Reformationsjubiläum realisierte FAIRNET den bislang umfangreichsten Event-Auftrag der Unternehmensgeschichte, zeichnete für die Realisierung der Weltausstellung verantwortlich und schuf die gesamte technische Infrastruktur für den Festgottesdienst in Wittenberg. fairgourmet war im ersten Halbjahr mit ihrem gesamten Leistungsspektrum gefragt, dazu gehörte als ein besonderer Höhepunkt der Empfang des niederländischen Königspaares. Auch im Rahmen des Reformationsjubiläums kamen die kulinarischen und logistischen Fähigkeiten der fairgourmet zum Einsatz, die innerhalb von nur zwei Tagen 20.000 Lunchboxen bestückte und nach Wittenberg lieferte. Mit der Verleihung des Meeting Experts Green Award 2017 in der Kategorie Nachhaltiges Unternehmen wurde darüber hinaus die Firmenphilosophie der fairgourmet ausgezeichnet.“
Den Preis gab es dann auch für die gar nicht einfache Kunst, das Catering für Tausende mit Produkten aus regionaler Landwirtschaft zustande zu bringen.
„Glauben Sie mir, das ist gar nicht so einfach“, sagt Martin Buhl-Wagner.
Glauben wir gern. Und wann kommen nun die 100 Millionen?
„Das haben wir uns wirklich nicht als Zielmarke gesetzt“, sagt Buhl-Wagner. „Darum geht es auch nicht.“
Trotzdem freuten sich die Gesellschafter, die Stadt Leipzig und das Land Sachsen: Sie konnten zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte den Zuschuss an die Messe von 7 auf 6,5 Millionen Euro senken. „Wohl wissend, was unsere Arbeit für die ganze Region bedeutet“, sagt Buhl-Wagner.
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Prinzipiell finde ich die Entwicklung gut, trotzdem finde ich zwei Fakten durchaus merkwürdig bzw. bedenklich:
Eine Messe plant ja nicht von Monat zu Monat, sondern weit voraus.
Dass nun MIT Wegfall der AMI auf einmal 17 Millionen mehr Umsatz zustande kommen und Herr Buhl-Wagner mit offenem Mund da steht, ist grandios!
Wie planen die Herrschaften denn? Drauf los und ein Jahr später sehen, ob sich’s gerechnet hat?
Und nun kommt Punkt 2: Trotz dieses Umsatzes darf Leipzig immer noch “nur 6.500.000 Euro” zuschießen!? Wie viel Umsatz braucht es denn, damit sich die ganze Veranstaltung einmal selber trägt, plus minus 0?
Die Messe zieht Leute an. Profitieren tut der Hotelbetrieb, ein wenig Einzelhandel. Die Infrastruktur wird leider nicht dafür ertüchtigt. Das freut die Leipziger…
Dafür sonnen sich einige Herren im sicheren steuermittelfinanzierten “Schein-große-Welt-Milieu”, ohne groß zu planen. So möchte ich auch mal eine Firma führen können.