Anna-Luise Conrad wurde nach ihrem Amtsantritt als „Sachsens jüngste Bürgermeisterin“ bezeichnet. Ob das tatsächlich stimmt, weiß die 33-Jährige selbst nicht. Doch es ist auch nicht wichtig, um die Geschicke der Stadt Naunhof im Landkreis Leipzig führen zu können. Das tut Conrad seit dem Frühjahr 2020, nachdem sie die Wahl mit 52,4 Prozent der Stimmen für sich gewonnen hatte. Wir haben mit ihr über die aktuelle Situation der Stadt und über die Wichtigkeit von Beteiligung gesprochen – und darüber, was durch die seit Jahren fortwährenden Krisen vielleicht auf der Strecke bleiben musste.  

Wie geht es Ihnen, wie geht es der Stadt Naunhof?

Im Moment ist es eine ziemliche Zerreißprobe, das Amt auszuführen. Ich bin vor zwei Jahren mit einer Idealvorstellung angetreten; schon mit Corona. Man hat vorher bestimmte Gestaltungsideen, Visionen, möchte sich einbringen. Das alles konnte nicht greifen. Natürlich war es für alle Neuland, aber man war im Dauerkrisenmodus. Entscheidungen mussten ad hoc getroffen werden, wir waren täglich mit neuen Problemen konfrontiert. 

Mit dem Kriegsbeginn sind wir im Prinzip in die nächste Krise hineingefallen. Ohne, dass irgendwo entsprechende Erfahrungswerte vorliegen. Das fordert natürlich insbesondere kleine Verwaltungsapparate. Es ist schwierig, weil ich einen anderen Anspruch hatte, doch das Tagesgeschäft erscheint anhand solcher Dimensionen manchmal kleinlich. Es läuft natürlich aber trotzdem. Wir können ja nicht alle Planungen fallenlassen.  

Was zum Beispiel hatten Sie sich vor Amtsantritt vorgenommen, was nun auf der Strecke bleiben muss? 

Ich mache das gerne an dem Thema „Bürgerbeteiligung“ fest. Ich wollte und möchte dieses Amt ausüben mit dem Anspruch, transparent in unserer Arbeitsweise als Stadtverwaltung zu sein und die Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig ins Boot zu holen. Ich möchte auch gern viele Beteiligungsmöglichkeiten anbieten. Insofern es in den letzten eineinhalb Jahren möglich war, haben wir das auch getan. 

Was ich aber merke, ist, dass die Bürger/-innen zwar einen großen Wunsch nach Beteiligung haben, nur wenige allerdings die entsprechenden Angebote wahrnehmen. Viele Menschen sind so eingenommen von ihren privaten, zum Teil existenziellen Problemen. Diese nehmen im Moment viel Raum und Zeit ein.  

Ich denke, es ist auch eine Einstellungsfrage. Doch diese übergeordneten Themen betreffen momentan ja wirklich alle Menschen. Denken wir beispielsweise an die Besitzer/-innen kleinerer und mittelständischer Unternehmen – diese sind derzeit eher damit beschäftigt, die Betriebe aufrechtzuerhalten anstatt sich Bebauungspläne etc. anzuschauen.  

Es ist auch eine Zerreißprobe für den Gemeinschaftssinn. Die Reaktionen auf übergeordnete politische Entscheidungen bekommen wir lokal zu spüren. Manches halten wir nicht für angebracht. Doch Politiker/-innen sind in der Sicht der Menschen dann alle eins, müssen die Regelungen mittragen. Das macht es schwierig, nach außen zu tragen, in welchem Zusammenhang das Ganze steht. Und das will die einzelne Bürgerin und der einzelne Bürger auch nicht mehr hören. Da ist es egal, ob man einer Partei angehört oder nicht.

Ein großer Teil meiner Amtskolleg/-innen zeichnet sich aus durchs Handeln und durch pragmatische Lösungsansätze. Das ist uns in den letzten Monaten genommen worden. Wir sind abhängig von langwierigen Entscheidungen, die wiederum Prozesse hier im Kleinen verlängern. Das nach außen zu kommunizieren, ist schwierig.  

Hat sich das Klima unter den Bürger/-innen hier in Naunhof Ihnen gegenüber verändert? 

Nein, bisher habe ich keine Frustration oder gar Hass mir gegenüber erlebt. Zum Glück können die Menschen das unterscheiden. Aber natürlich bemerke ich, beispielsweise in Ausschusssitzungen, Elternratskonferenzen oder Beteiligungsformaten, dass die Bereitschaft, sich zu engagieren, zurückgegangen ist. Wir feiern beispielsweise im kommenden Jahr unser 800-jähriges Jubiläum. Es ist erschreckend, wie gering die Beteiligung im Festkomitee ist. Dabei ist es doch ein Fest für die Bürgerinnen und Bürger, nicht für die Verwaltung. Ich lege extrem großen Wert darauf, dass sich alle einbringen.  

Würden Sie sagen, dass dieser Wunsch nach Beteiligung aller eine eher weibliche Herangehensweise ist? 

Nein. Ich denke, es ist eher eine Charakterfrage. Ich versuche immer, die Dinge, die mich stören, selbst anzupacken und zu verändern Deshalb habe ich mich auch für dieses Amt beworben. Schließlich ist der Weg, Dinge zu verändern und in höheren Positionen Einfluss auszuüben, für niemanden verschlossen. Es ist sicher mit Hürden und einem langen Atem verbunden. Doch ich teile nicht die Ansicht, dass irgendetwas anders wird, wenn man sich nicht engagiert.  

Vielleicht liegt es zum Teil auch an meinem Alter (Anna-Luise Conrad ist 33 Jahre alt, Anm. der Red.) Aber das Klischee, die Skepsis gegenüber einer jungen, blonden Frau, begegnet mir oft. Gerade in der politischen Arbeit begegnet mir oft die Ansicht, dass ich mich erstmal beweisen müsste. Bei einem jungen Mann würde das per se nicht zur Debatte stehen.

Aber ich bemerke das zwischen den Zeilen des Öfteren. Als junge Frau im Amt werde ich manchmal als eine Gefahr wahrgenommen. Das finde ich schon skurril. Im engeren Umfeld bekomme ich ab und zu hören, wie ich das mit meinen Kindern vereinbare. Viele Menschen sind – bewusst oder unbewusst – mit traditionellen Rollenbildern verbunden.  

Titelblatt der Dezember der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 109.
Titelblatt der Dezember der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 109. Foto: LZ

Haben Sie Ihre Entscheidung schon einmal bereut?

Nein. Schon immer mache ich nur Dinge, die mich herausfordern. Das ziehe ich schon mein ganzes Leben lang an. Und darüber mache ich mir keine Gedanken. Natürlich gibt es Abende, Nächte; Wochenenden, an denen ich mich frage „Wozu mache ich das alles?“ Offen darüber zu sprechen, ist denke ich eher eine weibliche Eigenschaft. Sicherlich äußern diese Ansichten nicht alle Amtskolleginnen und Kollegen so offen. Genau das ist ja aber oft der Vorwurf an Politiker/-innen: Dass sie so unnahbar erscheinen. Niemand spricht über Schwächen.  

Sie sind 2020 als parteilose Kandidatin angetreten und gehören auch jetzt keiner Partei an. Ist Ihnen deshalb schon einmal Ablehnung begegnet?

Ja. Bei den Bürger/-innen überhaupt nicht, aber innerhalb der Behördenebenen spielt das eine große Rolle, also wenn es um Fördermittel, Lobbyismus, Stellungnahmen usw. geht. Man merkt schon, beispielsweise bei der Besetzung von Gremien etc., dass die Parteizugehörigkeit, aber auch das Geschlecht eine Rolle spielen. Meiner Meinung nach darf es so etwas überhaupt nicht mehr geben. Auch über dieses Systemproblem spricht nach außen hin niemand gern. Mein Wunsch wäre schon, dass das zumindest auf kommunaler Ebene keine Rolle spielt. Da nehmen sich die Parteien untereinander tatsächlich alle nichts.  

Deshalb lege ich großen Wert darauf, meinen Status auch zu behalten – allein schon aus Verpflichtung den Wähler/-innen gegenüber. Schließlich haben manche mich genau wegen dieser nicht vorhandenen Parteizugehörigkeit gewählt. Und wenn ich dieses Bild der parteipolitischen Abhängigkeit nicht breche, verändert sich ja auch nichts.

Im Allgemeinen sind die Vorstellungen davon, was eine/-n Bürgermeister/-in ausmacht, sehr interessant: Ein Stadtoberhaupt ist um die 70 oder 80 Jahre alt, verdient Geld ohne Ende und hat Bedienstete. Wenn ich zu den Bürger/-innen gratulieren gehe, werde ich oft nach dem Verbleib meines Fahrers gefragt. Dabei fahre ich mit dem Fahrrad. Und übrigens gehe ich auch allein einkaufen (schmunzelt).

Auch die Medien tragen zu diesem unnahbaren Bild von Amtsträger/-innen bei. Ich möchte aber gern offen sein für die Anliegen der Menschen. Dafür nutze ich sämtliche Plattformen. Zum Beispiel besuche ich regelmäßig die Veranstaltungen der Bürgervereinigung „Grüner Tisch“ oder nehme an Elternratssitzungen und Ortschaftsratssitzungen teil.  

Natürlich weckt man damit auch eine extreme Erwartungshaltung. Das auf Dauer zu bedienen, ist die Kunst. Und je kleiner die Distanz, desto größer ist auch die Chance, Kritik zu ernten. Damit muss man umgehen können.  

Wie zufrieden sind Sie mit der Infrastruktur Naunhofs?

Ich denke, die Stadt hängt da in nichts nach. Wir sind angebunden an Leipzig, ab 2025 soll eine S-Bahn-Verbindung kommen. Wir haben die Autobahn vor der Tür und zahlreiche Buslinien. Das macht auch einen Teil der Attraktivität der Stadt aus.

Viele Menschen zieht es von der Stadt hierher. Naunhof ist schließlich kein Dorf, wir haben eine vielfältige Vereinslandschaft, Schulen, Kindergärten, Supermärkte, Seen und Wälder im Umland. Die Ortsteile haben eine tolle Gemeinschaft. Diese Mischung aus Dorfzusammenhalt und städtischer Struktur macht viel aus.  

In den letzten Jahren sind extrem viele Menschen, vor allem Familien, hergezogen. Wir als Umlandsgemeinden wollen diese Entwicklung gern mit der Stadt Leipzig gemeinsam denken. Das funktioniert allerdings bisher nicht so gut. Oft werden wir einfach vor die Ergebnisse gestellt. Manchmal scherze ich, Burkhard Jung einen Brief zu schreiben und zu sagen „Meine Einwohner/-innen arbeiten bei dir in der Stadt und wohnen bei mir, du schuldest mir etwas“.

Die Wertschöpfung findet also in der Stadt statt, davon profitiert Leipzig. Das ist gut so, aber in diesen Sphären sollte gemeinsam gedacht werden. Da besteht definitiv ein Defizit. Das äußere ich auch bei jeder Gelegenheit, bei der ich einen der Bürgermeister der Stadt Leipzig „erwische“. Wir als Kommunen im „Speckgürtel“ um Leipzig haben deshalb einen interkommunalen Bund gegründet.  

Kommen wir nochmal zum Thema Energiekrise. Welche Maßnahmen werden hier in Naunhof umgesetzt? 

Ich muss schon sagen, dass wir vom Bund lange alleingelassen wurden. Wir müssen uns neu sortieren. Fast alle Stromverträge wurden gekündigt, man fällt in die Ersatz- und Grundversorgung rein und muss ein Vielfaches für Strom bezahlen. Für die Haushalte schlägt das finanziell stark ein. Da müssen wir flexibel sein. Allein schon wegen der öffentlichen Einrichtungen.

Wir haben verschiedene Sparmaßnahmen entwickelt. Zum Beispiel wird jede zweite Straßenlaterne ausgeschaltet. In vielen kleineren Liegenschaften, beispielsweise Turnhallen, sollen Vereine ihre Trainingszeiten abstimmen, sodass ein Objekt nicht durchgängig geheizt wird. Natürlich werden auch hier im Rathaus die Temperaturen reguliert.  

Wie ist die Stadt finanziell aufgestellt?

Nicht gut. Bevor ich ins Amt gekommen bin, war die Stadt jahrelang in der vorläufigen Haushaltsführung. Zum einen konnte man den Haushalt nicht ausgleichen, zum anderen bestanden zu große Unstimmigkeiten zwischen Stadtrat und Bürgermeister. Außerdem musste ein Rückstau an Krediten abgebaut werden, um die Stadt wieder handlungsfähig zu machen. Ich muss aber ganz klar sagen: Uns fehlen die Gewerbeeinnahmen. Man hat Naunhof in den letzten 30 Jahren zu einer Wohn- und Schlafstadt entwickelt. Das ist natürlich keine gute Voraussetzung für die Einnahmesituation einer Kleinstadt.  

Ich wünsche mir da ein ausgeglicheneres Verhältnis. Allerdings hat die Stadt keine Gewerbeflächen mehr. Deshalb müssen wir den Flächennutzungsplan ändern. Die Stadt liegt außerdem in den höchsten Trinkwasser-Schutzzonen. Die Wasserwerke, die auch Leipzig versorgen, sind hier stationiert. Deshalb sind die Restriktionen zur Gewerbeansiedlung streng. Viele produzierende Gewerbe fallen damit raus. Für uns sind vorwiegend Dienstleistungsgewerbe interessant. Diese Restriktionen muss man kennen und mitdenken, das ist ein langwieriger Prozess. 

Welche Visionen für die Stadt haben Sie außerdem? 

Ich wünsche mir, dass es mir gelingt, den Gemeinschaftssinn wieder herauszuarbeiten und unsere Stärken als Kleinstadt wieder in den Vordergrund bringen. Naunhof ist ein tolles Naherholungsgebiet, dahinter brauchen wir uns nicht zu verstecken. Wir werden im nächsten Jahr einen Leitbildprozess starten. Auch soll es einen Austausch zwischen neu hinzugezogenen Bürger/-innen und „Alteingesessenen“ geben, um Dinge vielleicht auch mal neu anzugehen. Die Chancen dazu haben wir.

Und natürlich geht es darum, diese Krisen so gut wie möglich unbeschadet zu bestehen. Aber wir wissen. Die goldenen Zeiten sind vorbei. Es geht jetzt darum, zusammenzustehen und Probleme gemeinsam zu bewältigen. Dafür wünsche ich mir ein politisches Umdenken auf allen Ebenen. Momentan reagieren wir nur – nehmen wir Punkte wie die Energiewende und die Digitalisierung. Ich wünsche mir, dass man „Macher“ vor Ort mit Ideen und Hingabe unterstützt und gewähren lässt, anstatt einen Riegel vorzuschieben durch Vorschriften.  

„Ich lege großen Wert darauf, dass sich alle einbringen“: Im Gespräch mit Naunhofs Oberbürgermeisterin Anna-Luise Conrad erschien erstmals am 16. Dezember 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 109 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

 

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