Am heutigen Donnerstag, 4. November, ist es zehn Jahre her, dass ein seltsamer Vorgang in Eisenach fรผr Schlagzeilen sorgte. Erst ein gescheiterter รberfall auf die Wartburg-Sparkasse in Eisenach, auf Fahrrรคdern flรผchtende Tรคter und ein Wohnmobil, aus dem Polizeibeamte erst zwei Schรผsse hรถren, bevor es in Brand gerรคt. Damit endete die lรคngste rechtsradikale Mordserie der Nachkriegszeit. Aber bis heute ist nicht wirklich geklรคrt, warum die deutschen Sicherheitsbehรถrden derart versagt haben.
Eine Frage, die aus Anlass des zehnten Jahrestages auch Amnesty International thematisiert.
Denn die lรคngste rassistische Mordserie in der Geschichte der Bundesrepublik ist am 4. November 2011 nicht durch Ermittlungen der Polizei aufgedeckt worden. Allein diese Tatsache demonstriert aus Sicht von Amnesty International das umfangreiche Versagen mehrerer Polizei- und Sicherheitsbehรถrden.Nachdem der sogenannte โNationalsozialistische Untergrundโ (NSU) quasi unbehelligt insgesamt zehn Menschen tรถten, drei Sprengstoffanschlรคge und mehr als ein Dutzend รberfรคlle verรผben konnte, enttarnte sich das Trio schlieรlich selbst. Wenn man diesen Doppelselbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Bรถhnhardt und das anschlieรend wie geplant wirkende Agieren ihrer Komplizin Beate Zschรคpe denn als Selbstenttarnung bezeichnen kann.
Zehn Jahre spรคter zieht Amnesty International eine negative Bilanz: Die Polizei hat nicht genug aus dem NSU-Komplex gelernt, fรผr die nรคchste Bundesregierung besteht weiter viel Handlungsbedarf. ยญ
ยญNoch immer bedroht rechter Terror die Republikยญ
โIm Bundestagswahlkampf hat das Thema โSicherheit vor rassistischer, antisemitischer und rechtsextremistischer Gewaltโ keine wirkliche Rolle gespielt, so als hรคtte es den โNSUโ und die Anschlรคge von Halle und Hanau nicht gegebenโ, sagt Markus N. Beeko, Generalsekretรคr von Amnesty International in Deutschland.
โDer Schutz vor rassistischer Gewalt ist eine Frage der inneren Sicherheit und der Menschenrechte. Wir erwarten, dass die neue Bundesregierung mit Entschlossenheit den Auftrag angeht, sich fรผr eine Polizei einzusetzen, die alle Menschen in Deutschland vor menschenfeindlicher Gewalt schรผtzt.โ
Eine Kernforderung von Amnesty International an eine Polizei, die ihren rechtsstaatlichen Aufgaben und Pflichten wirkungsvoll nachkommen kann, ist die nach unabhรคngigen Untersuchungsmechanismen mit ausreichenden Ermittlungskompetenzen.
โIn den Niederlanden oder Groรbritannien kann man sehen, dass unabhรคngige Untersuchungsstellen ein wirkungsvolles Instrument zum Beispiel gegen Kรถrperverletzung im Amt sindโ, sagt Beeko.
โDie Unabhรคngigen Polizeibeauftragten in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern oder Schleswig-Holstein verfรผgen nicht รผber genug Befugnisse, um unverhรคltnismรครige Polizeigewalt strafrechtlich verfolgen zu kรถnnen.โ
Mit seiner bisherigen Weigerung, solche Stellen einzurichten, verstรถรt Deutschland seit Jahren gegen internationale Verpflichtungen, wie der Europรคische Menschenrechtsgerichtshof, der Europarat und der UN-Antifolterausschuss wiederholt kritisieren.
Erneutes Versagen nicht auszuschlieรen
Auf etwa 1.400 Seiten hat der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages im August 2013 Empfehlungen vorgestellt, die den deutschen Polizeibehรถrden dabei helfen sollten, ein solches kapitales Versagen wie bei der Aufklรคrung der NSU-Morde in Zukunft zu vermeiden.
โDiese Empfehlungen sind damals schon nicht weit genug gegangen, so ist zum Beispiel eine unabhรคngige Untersuchung zu institutionellem Rassismus in Polizeibehรถrden nicht gefordert wordenโ, sagt Philipp Krรผger, Experte fรผr Polizei und Menschenrechte bei Amnesty International in Deutschland.
โZehn Jahre spรคter muss man leider feststellen, dass selbst die schwachen Empfehlungen des Untersuchungsausschusses nur unzureichend umgesetzt worden sind. So wie die Polizei heute aufgestellt ist, erscheint es nicht wirklich wahrscheinlich, dass ein erneutes Versagen wie beim NSU-Komplex tatsรคchlich verhindert werden kann.โ
Anti-Rassismus-Trainings fรผr Polizist/-innen sind weiterhin eine Ausnahme, obwohl sie entscheidend dafรผr sind, dass Opfer rassistischer Gewalt ernst genommen werden, und daher verpflichtend sein sollten. Die interne Fehlerkultur bei der Polizei zeigt zwar kleine Fortschritte, ist aber noch nicht ausreichend entwickelt, wie die Aufdeckung diverser Chat-Gruppen zeigt, in denen sich Polizist/-innen rechtsextrem und rassistisch geรคuรert haben.
โEs kann durchaus Hoffnung machen, dass einige dieser rassistischen Polizei-Chatgruppen durch Anzeigen einzelner Polizist/-innen aufgeflogen sind. Es ist im รbrigen aber besorgniserregend, dass nur wenige den Mut aufbrachten, dieses Fehlverhalten ihrer Kolleg/-innen zu melden, und viele andere die menschenverachtenden Inhalte unwidersprochen hingenommen habenโ, sagt Amnesty-Experte Krรผger.
โHier zeigt sich, dass ein effektiver Schutz polizeilicher Whistleblower/-innen vor Kolleg/-innen, aber auch vor Vorgesetzten, zentral ist. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass formal oder auch informell abgestraft wird, wer zurecht auf Missstรคnde hingewiesen hat.โ
In einem Newsletter โEinsatzbereit gegen Rassismus?โ hat Amnesty seine sechs Kernforderungen an eine rechtsstaatliche Polizei zusammengefasst. Man kann ihn hier herunterladen.
Kerstin Kรถditz: Auch Sachsen fehlt ein Konzept gegen Rechtsterrorismus
โDer 4. November sollte den Opfern, Hinterbliebenen und Betroffenen der Mord-, Anschlags- und รberfallserie des rechtsterroristischen NSU gehรถren. Dieser Tag gehรถrt nicht Behรถrden, die von โAufarbeitungโ reden, die aber zur Aufdeckung nichts beigetragen, die seither nicht alle Mitwisserinnen und Mitwisser ermittelt und die bis heute โ ein Jahrzehnt danach โ nicht alle mutmaรlichen Mittรคterinnen und Mittรคter vor Gericht gestellt habenโ, erklรคrt Kerstin Kรถditz, Sprecherin fรผr antifaschistische Politik der Fraktion Die Linke im Sรคchsischen Landtag und zustรคndig fรผr Innenpolitik.
Was das Agieren der sรคchsischen Behรถrden angeht, waren auch die beiden im Dresdner Landtag eingesetzten Untersuchungsausschรผsse letztlich hรถchst unbefriedigend.
โWenn das Sรคchsische Staatsministerin der Justiz den kommenden Jahrestag nutzt, um vor Medien einen Fรถrdermittelbescheid fรผr die Entwicklung eines Dokumentationszentrums zum NSU-Komplex zu รผbergeben, ist das vielleicht ein richtiger Schritt โ aber doch ein allzu milder Ausgleich, der keineswegs genรผgtโ, sagt Kรถditz.
โIm Ergebnis zweier parlamentarischer Untersuchungsausschรผsse im Sรคchsischen Landtag, die auch auf Verlangen der Fraktion Die Linke eingesetzt worden waren, sind weit umfangreichere Konsequenzen empfohlen worden. Dazu gehรถrt unter anderem ein Fonds zur Entschรคdigung von Opfern, Hinterbliebenen und Betroffenen.โ
Der 4. November erinnert auch aus ihrer Perspektive daran, dass die Gefahr des Rassismus und des Rechtsterrorismus nicht gebannt ist.
โSeit dem Ende des NSU sind in Sachsen mehrere militante Neonazi-Gruppen aufgeflogenโ, betont Kรถditz. โZu unseren Forderungen gehรถrt daher seit langem, dass der Freistaat Sachsen die extreme Rechte auf Grundlage eines Gesamtkonzepts gezielt zurรผckdrรคngen muss. Vor rund anderthalb Jahren hat der Sรคchsische Landtag die Staatsregierung aufgefordert, ein solches Konzept zu schaffen und umzusetzen. Seither haben wir davon nichts mehr gehรถrt. Wir bleiben dran!โ
Henning Homann: Das NSU-Netzwerk wurde nicht vollumfรคnglich aufgedeckt
โDer 4. November erinnert uns an die ungeheuerlichen Verbrechen des NSU. Die Morde und das damit verbundene Versagen der Sicherheitsbehรถrden bei der Verfolgung von Uwe Mundlos, Uwe Bรถhnhardt und Beate Zschรคpe erfรผllen uns bis heute mit Entsetzenโ, kommentiert Henning Homann, Co-Vorsitzender der SPD Sachsen, den Stand der Dinge zum 10. Jahrestag der Selbstenttarnung des extrem rechten Terrornetzwerks โNationalsozialistischer Untergrundโ.
โWir gedenken Enver ลimลek, Abdurrahim รzรผdoฤru, Sรผleyman Taลkรถprรผ, Habil Kiliรง, Mehmet Turgut, ฤฐsmail Yaลar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaลฤฑk, Halit Yozgat und Michรจle Kiesewetterโ, erklรคrt Henning Homann.
Der Bundestag und auch der Sรคchsische Landtag haben intensiv an der parlamentarischen Aufarbeitung gearbeitet und vieles erreicht, merkt Homann an. โZehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU bleibt aber auch eine groรe offene Wunde. Das rechtsterroristische Netzwerk hinter Mundlos, Bรถhnhardt und Zschรคpe ist nie vollumfรคnglich aufgedeckt worden.
Fehlende Strafverfolgung von NSU-Unterstรผtzern, die ungeklรคrte Rolle von V-Leuten, die Vernichtung von Akten und lediglich vier rechtskrรคftige Urteile sind eine unzureichende Bilanz der Aufklรคrung der NSU-Morde. Viele der Rechtsextremisten aus dem NSU-Netzwerk sind bis heute aktiv und gefรคhrlich. Wir verstehen deshalb die Wut der Angehรถrigen. Wir mรผssen uns ihrer Kritik um fehlende Aufarbeitung stellen.โ
Die Tรคterinnen und Tรคter des NSU planten Anschlรคge, รberfรคlle und die Mordserie an neun Opfern mit Migrationsgeschichte sowie einem weiteren Opfer.
โSie konnten in Sachsen untertauchen und wurden unterstรผtztโ, mahnt Homann. โDer Rechtsextremismus ist und bleibt die grรถรte Gefahr fรผr unsere demokratische Gesellschaft.โ Dieser mรผsse man sich entschlossen entgegenstellen. Hier stehe Sachsen in einer besonderen Verantwortung. โEin zeitnaher Beschluss der Gesamtstrategie gegen Rechtsextremismus der sรคchsischen Staatsregierung ist deshalb ein wichtiger Schwerpunkt der SPD in Sachsen.โ
Valentin Lippmann: Kampf gegen Rechtsextremismus muss weiterhin Prioritรคt haben
โAuch zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU bleiben wichtige Fragen offen. Das gilt mit Blick auf Sachsen vor allem fรผr die Rolle und den Umfang von Unterstรผtzungsnetzwerken und die Finanzierung der Terroristenโ, geht auch Valentin Lippmann, Obmann der Fraktion Bรผndnis 90 / Die Grรผnen im Sรคchsischen Landtag im 2. Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Verbrechen des NSU, auf offenkundigen Lรผcken in der Aufarbeitung ein.
โEs bleibt Aufgabe des Generalbundesanwaltes und der Ermittlungsbehรถrden, die notwendigen Ermittlungen zu Unterstรผtzungsnetzwerken zu intensivieren und dieses gegebenenfalls anzuklagen.โ
Auch aus seiner Sicht war Sachsen nicht ohne Grund der Ruhe- und Rรผckzugsort des NSU.
โDass den kaltblรผtigen Morden und den Verbrechen des NSU รผber Jahre kein Einhalt geboten wurde, ist und bleibt eines der grรถรten Versagen der Sicherheitsbehรถrden. Zum Abschluss der Untersuchungen im Sรคchsischen Landtag mussten wir Bรผndnisgrรผne 2019 konstatieren, dass es die organisierte Verantwortungslosigkeit, die fehlende Kompetenz, die Unbestรคndigkeit und das Desinteresse beim Landesamt fรผr Verfassungsschutz waren, die es dem Trio und seinen Unterstรผtzerinnen und Unterstรผtzern ermรถglichte, unbehelligt in Sachsen unterzutauchen und von hier aus die Morde zu planen und Bankรผberfรคlle zu begehenโ, so Lippmann.
โOb die Sicherheitsbehรถrden in Sachsen aus ihrem Versagen unmittelbar die richtigen Schlรผsse gezogen haben, darf mit Blick auf die vergangenen Jahre bezweifelt werden. Das Versprechen, dass sich so etwas wie der NSU nie wiederholen dรผrfe, wurde bereits wenige Jahre spรคter mit dem eklatanten Behรถrdenversagen im Zusammenhang mit der Terrorgruppe Freital gebrochen. Die Neuaufstellung von Polizei und Verfassungsschutz beim Vorgehen gegen rechtsterroristische Gruppierungen ist und bleibt eine groรe, permanente Aufgabe, der sich alle politisch Verantwortlichen stellen mรผssen. Der Kampf gegen Rechtsextremismus, als die grรถรte Bedrohung unserer freien Gesellschaft muss uneingeschrรคnkt oberste Prioritรคt haben.โ
Am 2. November hatten die Grรผnen zu einem Livestream zur Aufarbeitung der NSU-Verbrechen eingeladen. Hier kann man ihn anschauen.
Und auch Valentin Lippmann erwartet von der Regierung die baldige Vorlage des vereinbarten Handlungspaketes: โWir haben als Koalitionsfraktionen eine Vielzahl von Maรnahmen vereinbart und als Landtag die Staatsregierung zur Vorlage eines Gesamtkonzeptes gegen Rechtsextremismus aufgefordert. Ich erwarte, dass dieses Konzept nun unverzรผglich dem Landtag vorgelegt wird. Der Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU ist ein geeignetes Datum hierfรผr.โ
Lesetipps:
Eine รbersicht zu einigen Bรผchern zum rechten Terror in Deutschland finden Sie hier.
Die abgebildete Untersuchung zu Staatsversagen von Hajo Funke bei der Aufklรคrung des NSU erschien 2015. Die Besprechungen dazu finden Sie hier und hier.
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