Die „Zeit“ konnte sich am 5. Juni nicht so richtig entscheiden, wie sie ihren Demontage-Artikel zum Rücktritt der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles am 2. Juni betiteln sollte: „Demontiert in 408 Tagen“ oder doch lieber „408 quälende Tage“? Es sind ja nicht nur die Satiresendungen im deutschen TV, die sich über den Vorsitzendenverschleiß der SPD lustig machen. Keine einzige große Zeitung hat sich den Fledderspaß entgehen lassen. Und nicht mal gemerkt, was eigentlich die schnoddrigen Medienkommentare mit der „Zerstörung der SPD“ zu tun haben.
Denn die Debatte über das Ende der kurzen Ära Nahles wurde schon vor der Europawahl am 26. Mai in allen großen Medien geführt. Die Umfragewerte für die SPD waren schlecht. Man berichtete über „Putschgerüchte“, erklärte den Lesern lang und breit, dass bei dem befürchteten Wahlergebnis natürlich jemand „den Hut nehmen“ müsse. Exemplarisch machten edle und weniger edle Federn vor, wie man die Stimmung anheizt und einen Wahlkampf als Shakespearesches Königsdrama inszeniert, bei dem am Ende natürlich der König (oder die Königin) hingemeuchelt hinterm Vorhang liegt.
Die politische Berichterstattung ist zu einem Schmierentheater geworden, dem natürlich die handelnden Personen nicht entkommen können. Denn wie die Bürger über Politik denken, das formen die Medien. Sie sorgen dafür, worüber diskutiert wird – und worüber nicht. Und sie bauen den Druck auf (mit Interviews und Talkshows in immer kürzerer Frequenz), der die handelnden Politiker/-innen permanent zum Reagieren zwingt.
Das könnte man toll finden und als eine Art gelebte Demokratie begreifen, wenn hinter diesem Pingpong auch noch irgendwelche Inhalte stecken würden.
Aber eine Parteiführung, die permanent auf immer neue Anfragen, Angriffe, medial erzählte Gerüchte reagieren muss, die hat keine Zeit mehr, über Inhalte nachzudenken.
Das Ergebnis ist eine kurzatmige, kaum noch durchdachte Politik, in der immer wieder nur auf das reagiert wird, was so öffentlich gerade gekocht wird. Das kommt nur Politikern zugute, die lieber gar nichts machen, medial aber mit immer neuen Sticheleien und Zumutungen permanent „für Quote sorgen“.
Und die SPD kommt ja seit Jahren nicht aus diesem Hexenkessel heraus. 2017 hätte sie wirklich den Moment gebraucht, in die Opposition zu gehen und endlich mal wieder über Inhalte nachzudenken. Sich neu zu finden oder auch zu heilen. Denn dass die Koalitionen mit der Union jedes mal schwere Schäden hinterlassen, ist zumindest den aufmerksameren SPD-Genossen noch bewusst. Die, die noch eine Erinnerung daran haben, dass die SPD eigentlich mal eine Partei mit zutiefst sozialem Profil war, die sich deutlich von den konservativen und marktradikalen Haltungen der Unionsparteien unterschied. Die sich auch solche Eskapaden, wie sie der CSU-Innenminister, die CDU-Verteidigungsministerin oder der CSU-Autominister zelebrieren, nicht hätte gefallen lassen.
Eine soziale Partei, die in einer solchen Koalition so etwas mitmachen muss, wird schwer lädiert. Das geht an die Substanz und schleift natürlich auch das öffentlich wahrgenommene Profil.
Was dann auch dazu geführt hat, dass die große Zahl neuer SPD-Mitglieder, die 2017 auf den „Schulz-Zug“ aufsprangen und in die SPD eintraten, kein Gehör fanden, nicht an die Stellen vordrangen, an denen sie Gehör und Mitsprache bekommen hätten. Ein Thema, das jetzt Martin Dulig, Vorsitzender der SPD Sachsen und Ostbeauftragter der Bundes-SPD, in einer kleinen, deutlichen Vorschlagsliste zur Reparatur der SPD aufgreift.
Er nennt es „Moritzburger Manifest“ und hat es am Samstag, 8. Juni, an die drei kommissarischen Bundesvorsitzenden gesandt. Er fordert darin die grundlegende Erneuerung der Partei.
„Ja, viele Menschen in unserem Land fühlen sich von uns nicht mehr verstanden“, schreibt er zum Beispiel in seinem sechsten Forderungspunkt. „Sie sind verärgert, wütend oder gleichgültig geworden. Oft auch rat- und hilflos. Haben wir ihnen in der Vergangenheit wirklich zugehört? Oder haben wir sie in Wahrheit nicht irgendwann einmal abgeschrieben, weil sie uns zu unbequem wurden und nicht in unsere strategischen Zielvorstellungen passten? Eines ist sicher: Diese Menschen kommen nicht mehr von sich aus zu uns. Wir müssen wieder zu ihnen gehen. Auch um den Preis, Abbitte leisten zu müssen.“
Aber dieses „Wir“ funktioniert nicht mehr. Das nimmt der alten „Volkspartei“ niemand mehr ab. Sie hat irgendwann nicht nur ihre Basis in starken und agilen Ortsvereinen verloren, sondern auch den Kontakt zu den Wählern, für die sie einmal gekämpft hat (Oh ja, „Hartz IV“ hängt der SPD nach wie vor wie ein Mühlstein um den Hals), den Menschen, die sich eben nicht mehr, wie noch vor 100 Jahren, als Arbeiter, Proletarier oder kleine Angestellte begreifen, sondern eher ̶ wie Dulig es formuliert ̶ als die „weniger Starken, Fleißigen und Anständigen“. Das ist Punkt 2. Und wahrscheinlich war die Ausarbeitung des Satzes ein bisschen zu eilig. Denn das „weniger“ soll sich wahrscheinlich nur auf die Starken beziehen, nicht auf die Fleißigen und Anständigen. Denn das ist ja nun mal eins der drängendsten Probleme, die die SPD mit der CDU nie gelöst kriegt. Die ist nun mal die Partei der sogenannten „Leistungsträger“, also der Besserverdiener und Vielbesitzenden, die auf die „Fleißigen und Anständigen“ so gern mit Verachtung herabschauen und ihnen dann, wenn sie nach 35 oder 40 Jahren Fleiß im Billiglohn eine ordentliche Rente wünschen, sagen: „Dann leistet doch erst mal was!“
Das empfinden auch diese „weniger Starken“ als zynisch, erst recht, wenn die SPD da mitmacht.
Aber warum hält sie nicht gegen?
Die Hinterzimmer haben ausgedient, stellt Dulig fest. Wo es keine starken Ortsvereine mehr gibt, muss die SPD rausgehen und sich den engagierten Bürgern öffnen: „Sie muss ihre Hinterzimmer gründlich auslüften und für immer verschließen. Sie muss stattdessen die Türen weit aufreißen und all die einlassen, die reden, streiten, etwas bewegen und sich engagieren wollen für unser Land, für unsere Demokratie und für eine gemeinsame gute Zukunft. Wir brauchen auch wieder mutige Querdenker in unseren Reihen, die uns helfen, unsere Denkblockaden zu überwinden. Und dafür braucht es nicht unbedingt gleich ein Parteibuch als Einlass-Karte.“
Das ist zumindest ehrlich und das sagen auch SPD-Vorsitzende selten: Dass sie selbst das Gefühl haben, Denkblockaden zu haben, also vieles nicht mehr zu sehen oder nicht (mehr) denken zu können.
Was übrigens auch die vielen jungen Leute zu spüren bekommen, die 2017 in die SPD eingetreten sind, weil sie hofften, den Kanzlerkandidaten (und SPD-Vorsitzenden) Martin Schulz auf einem neuen, wieder menschlicheren Kurs unterstützen zu können.
Martin Dulig: „Dass wir das können, haben wir vor zwei Jahren gesehen, als tausende junge Frauen und Männer bereit waren, sich für Martin Schulz zu engagieren und in die Partei eintraten. Die haben wir enttäuscht. Auch, weil sie auf eine Partei-Wirklichkeit gestoßen sind, in der formalisiertes Gremienunwesen und Machtspielchen das Feuer ihrer Begeisterung erstickt hat. Die klassische ,Ochsentour‘ durch die Parteiinstanzen als das Maß aller Dinge muss ein Ende haben. Und dafür brauchen wir nicht nur eine Frauen- sondern auch eine Jugendquote, um den Weg zu ebnen, bei uns auch Ziele verwirklichen zu können.“
„Formalisiertes Gremienunwesen und Machtspielchen“. Das ist schon mal deutlich. Wenn in einer Partei nur Diejenigen in die entscheidenden Wahlämter kommen, die diese „Machtspielchen“ am besten beherrschen, dann sorgt das natürlich dafür, dass nur noch ein bestimmter Politikertypus die Ränge besetzt, der shakespearsche nämlich. Während die nicht so machtbewussten und blitzlichtaffinen Leute, die für belastbare Inhalte, kluge Konzepte und Verlässlichkeit sorgen, bestenfalls auf ein paar hinteren Listenplätzen landen.
Was die Wähler, wenn sie es nicht wissen, dann doch zumindest ahnen, wenn sie die ganzen Königsdramen im TV sehen. Mit gut bezahlten medialen Hofnarren, die von den Inhalten meist auch keine Ahnung haben, aber die Spannung von Verschwörung, Putsch und Königsmord aus dem Effeff beherrschen.
Mal sehen, ob Martin Duligs Vorschläge Wirkung zeigen.
Keine Kommentare bisher
Wo kein Inhalt ist, nutzt auch ein schöner Name (“Manifest”) nicht. Dulig nennt keinen konkreten Punkt, sondern verbleibt auf der abstrakten Metaebene, wie diskutiert werden sollte.
Interessierte niemanden, weil das doch selbstverständlich sein sollte.