Wir leben in seltsamen Zeiten. In Zeiten, da der Glaube, man müsste nur jede Menge Daten sammeln und könne damit Verbrechen verhindern oder aufklären, nicht nur die politischen Gremien beherrscht, sondern auch Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte. Und Sachsen ist seit 2011 Testfeld für große Funkzellenabfragen. Wenn Ermittler nicht weiter wissen, wird eine Funkzellenabfrage beantragt.
Eigentlich hatte Valentin Lippmann, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Sächsischen Landtag, sehr detailliert gefragt, aber nicht auf alle Fragen bekam er von Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) eine Antwort, auch wenn der sich redlich bemüht zu erklären, warum es so schwer und aufwendig wäre, die ganzen Verfahrensakten durchzuforsten. Was ja auch Lippmann so nicht beantragt hat.
Aber augenscheinlich hat die sächsische Justiz aus den Vorgängen in Dresden 2011 nichts gelernt. Jedenfalls etwas Selbstverständliches nicht: Dass man ein solches Sonderinstrument, wie es die Funkzellenabfrage ist, auch statistisch nachweisbar und möglichst transparent erfassen muss.
Vielleicht hat man aber gerade das daraus gelernt, dass man lieber nichts erfasst, damit nicht nachvollziehbar wird, in welchem Umfang Funkzellen- und Verbindungsdaten eigentlich abgerufen wurden.
Das wäre tragisch. Damit würde sich Sachsens Justiz kein gutes Zeugnis ausstellen.
Denn natürlich haben die Bürger nicht nur ein Recht darauf zu erfahren, wie oft und in welchem Ausmaß die Justiz auf ihre Verbindungsdaten zurückgreift – und sei es auch nur im Umfeld eines Verbrechens, das damit eventuell aufgeklärt werden kann. Mit Betonung auf „kann“, denn da eine händische Auswertung der ganzen Akten personell nicht machbar ist, kann der Justizminister natürlich auch keine Auskunft darüber geben, ob auch nur eine einzige Funkzellenabfrage für die Ermittler einen entscheidenden Beweis oder eine Spur zur Lösung eines Falles beigetragen hat.
Und dass die händische Auswertung nicht zu leisten ist, hat mit der schieren Menge der beantragten Funkzellenabfragen zu tun.
Allein die Bilanz für das erfragte Jahr 2015:
Die Zahl der Ermittlungsverfahren in Sachsen, in denen Funkzellenabfragen durchgeführt wurden, sind im Jahr 2015 im Vergleich zum Vorjahr um rund 30 Prozent − von 257 auf 360 Verfahren − angestiegen. Die meisten Abfragen betrafen Verfahren der Staatsanwaltschaft Zwickau. Insgesamt wurden über 20.000 Verkehrsdaten-Dateien übermittelt, fast so viel wie in den Jahren 2013 und 2014 zusammen. So geht es aus der Antwort von Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Valentin Lippmann, der auch Sprecher für Datenschutz der Grünen-Fraktion ist, hervor.
„Der erneute Anstieg bei dieser schwer in Grundrechte Unschuldiger eingreifenden Ausspähungsmethode ist im höchsten Maße bedenklich“, kritisiert Lippmann. „Offenbar gehört die Funkzellenabfrage bei Sachsens Ermittlungsbehörden mittlerweile zur Standardermittlungsmethode, obwohl sie nur eingesetzt werden darf, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.“
Da aber die händische Auswertung fehlt, gibt es auch keine Zahlen zum erfolgreichen Einsatz des Ermittlungsinstruments. Gab es auch nur in einem Fall einen stichhaltigen Hinweis auf einen möglichen Täter? Oder wird die Abfrage mittlerweile schon prophylaktisch eingesetzt, frei nach dem Motto: Erst mal die Daten sichern, nachstöbern, ob verdächtige Verbindungen drunter sind, können wir später noch?
Das ist zumindest ein Verdacht, der sich aufdrängt, wenn der Justizminister von „unter Umständen sehr umfangreichen, häufig mehrere Bände umfassenden, nicht elektronisch geführten Verfahrensakten der oben genannten 399 Ermittlungsverfahren“ spricht. Und das bei einer in allen Dienststellen knapp besetzten Polizei?
Wer will da behaupten, die Ermittler hätten diese Berge von Papier überhaupt jemals komplett durchgeforstet? Oder hatten sie die Daten sogar digital vorliegen und konnten mit Computerroutinen arbeiten?
Welche Ausmaße da – wahrscheinlich von einem Staatsanwalt – durchgearbeitet werden müssten, steckt in diesem Satz: „Um die Anzahl der in jedem Verfahren erhobenen Bestandsdaten zu ermitteln, müssten außerdem die gesamten Verfahrensakten vollumfänglich Blatt für Blatt gesichtet werden, da diese nicht zusammen mit den Verkehrsdaten vom Netzbetreiber übermittelt, sondern nur bei Bedarf von der ermittlungsführenden Stelle abgefragt werden. Zudem wäre ein Abgleich der Verfahrensdaten mit den lnhalten der zugehörigen Antwortdateien erforderlich, wofür jede einzelne der ca. 20.440 Verkehrsdatendateien entsprechend der Fragestellungen ausgewertet werden müsste.“
Was dann die Fragen 3 und 4 von Valentin Lippmann immer noch nicht beantwortet: „Wie viele Verkehrsdaten wurden nach Ziffer 1 und 2 jeweils erhoben? Wie viele Rufnummerninhaber waren jeweils betroffen?“
Selbst wenn man pro Funkzelle nur ein paar Hundert Betroffene annimmt (in Großstädten wie Leipzig sind es wohl eher mehr), kommt man auf stattliche Zahlen im Millionenbereich, was die möglichen Rufnummerninhaber betrifft. Einige davon wahrscheinlich sogar mehrfach erfasst. Denn wenn es allein in Leipzig 335 Beschlüsse zu Funkzellenabfragen gab, kann man ziemlich sicher sein, dass einige Ortsteile immer wieder erfasst wurden.
Eine transparente Erfassung des gesamten Ausmaßes der Funkzellenabfragen und der tatsächlich verwertbaren Erfolge in der Verbrechensaufklärung wäre also eigentlich zwingend. Alles andere schürt nur – berechtigterweise – das Misstrauen der unbescholtenen Bürger.
„Ich fordere Justizminister Gemkow auf, dafür Sorge zu tragen, dass von diesem Instrumentarium mit der gebotenen Zurückhaltung Gebrauch gemacht wird“, erklärt Valentin Lippmann. „Mittelschwere Delikte mittels Funkzellenabfragen aufklären zu wollen, ist mit Blick auf die große Anzahl unschuldig Betroffener vollkommen unverhältnismäßig. Diese Praxis muss endlich beendet werden.“
Und er fordert noch etwas, was natürlich mit der jetzigen nicht auswertbaren Methode gar nicht zu leisten ist: „Zudem müssen unschuldig Betroffene solcher Maßnahmen künftig über die Funkzellenabfragen unterrichtet werden. In Sachsen wird dies seit Jahren rechtswidrig unterlassen.“
Berechtigterweise hat er auch noch nach besonderen Funkzellenabfragen im Zusammenhang mit einigen Demonstrationen in Sachsen gefragt. So etwa bei den eklatanten Vorfällen im Sommer in Heidenau: „lm Zusammenhang mit den gewalttätigen Ausschreitungen vom 21. bis 30. August 2015 in Heidenau, am 19. Oktober 2015 in Dresden und am 12. Dezember 2015 in Leipzig wurden keine Funkzellenabfragen durchgeführt“, teilt aber der Justizminister mit.
Aber bei einem gewalttätigen Ereignis war dann der öffentliche Druck so groß, dass man das Instrument dann doch lieber anwendete. Das war der rechtsradikale Überfall auf Connewitz am 11. Januar 2016. „Im Zusammenhang mit den gewalttätigen Ausschreitungen am 11. Januar 2016 in Leipzig wurden Funkzellenabfragen durchgeführt, zu denen der Polizei noch keine Ergebnisse vorliegen bzw. die übermittelten Daten noch nicht gesichtet werden konnten“, so Sebastian Gemkow. Geantwortet hatte er freilich auf Lippmanns Anfrage schon am 24. Februar. Aber auch das sagt einiges aus darüber, wie lange die polizeiliche Auswertung so einer Funkzellenabfrage tatsächlich dauert – sechs Wochen scheinen dabei eher ein Minimum zu sein.
Was erst recht die Frage aufwirft, welchen Sinn die vielen Funkzellenabfragen in Sachsen eigentlich machen und ob die Ermittler in dem Datenmeer nicht eigentlich nur noch hilflos untergehen, ohne dass sie die Fülle überhaupt nur ansatzweise für die Spurensicherung nutzen können.
In eigener Sache
Frühling? Jetzt bis 8. April (23:59 Uhr) für 49,50 Euro im Jahr die L-IZ.de & die LEIPZIGER ZEITUNG zusammen abonnieren, Prämien von den “Hooligans Gegen Satzbau”, Schwarwel oder fhl Verlag abstauben und vielleicht mit einem „Leipzig-Rad“ in den Sommer radeln. Einige Argumente, um Unterstützer von lokalem Journalismus zu werden, gibt es hier.
Überzeugt? Dann hier lang zu einem Abo …
Keine Kommentare bisher