Der 3. Oktober naht, dieser gesichtsloseste aller Deutsche-Einheit-Termine. Und jeder, der glaubt, seinen Senf dazu geben zu müssen, prescht in die Öffentlichkeit. Die LVZ hat am Montag, 21. September, ein großes Interview mit Kurt Biedenkopf geführt. Der heute 85-Jährige war von 1990 bis 2002 Ministerpräsident Sachsens. Und von ihm stammt der Spruch, die Sachsen seien immun gegen den Rechtsextremismus.

Den hat er im Jahr 2000 getätigt. Das war das Jahr, in dem die sächsische Landesregierung endlich anfing, die gewaltbereite Rechtsextremisten-Szene in Sachsen ernst zu nehmen. Jahrelang hatte man auch die Anfragen der Opposition im Landtag abgewiegelt, die Verfassungsschutzberichte fanden keinen Grund, verstärkte Aktivitäten der Rechtsextremisten in irgendeiner Weise ernst zu nehmen. Dabei waren erst 1998 die drei Jenaer Neonazis Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe erst in Chemnitz, dann in Zwickau untergetaucht, unterstützt von einem sehr wohl sehr aktiven “Blood and Honour”-Netzwerk. Und östlich von Dresden terrorisierten die Skindheads Sächsische Schweiz alles, was sich irgendwie als links, liberal und weltoffen zeigte. Damals begann die Abwanderung der jungen Menschen aus den sächsischen Provinzen.

Vielleicht hat das Biedenkopfs Regierung nicht mal registriert. Als Biedenkopf den bis heute zitierten Spruch losließ, hatten 200 Beamte des sächsischen Landeskriminalamtes endlich eine Großrazzia gegen das kriminelle Netzwerk gestartet, das rund um Pirna und Königsstein längst Wurzeln geschlagen hatte. 2011 wurden die Skinheads Sächsische Schweiz endlich verboten. Und natürlich tat die damalige sächsische Regierung alles, um die SSS, wie sie sich abkürzte, als einmaligen Vorgang im aufstrebenden Musterländle erscheinen zu lassen.

Das war aber schon damals nicht der Fall.

Aber in Biedenkopfs Spruch steckt ja auch der Versuch als Politiker, sich tatsächlich wie der König und Landesvater darzustellen, der seinen Kindern nichts Übles zutraut. 2000 konnte er vielleicht noch nicht ahnen, dass vier Jahre später die NPD in den Landtag einziehen würde. Die Frage, die die LVZ nun im Interview stellte, hätte also durchaus auf einen nachdenklichen Ex-Ministerpräsidenten treffen können, der einen Irrtum zugesteht.

“Wieso haben Sie sich mit Ihrer Aussage so getäuscht, dass die Sachsen immun gegen den Rechtsextremismus seien?”, fragte die LVZ. Vor dem Hintergrund der Krawalle in Meißen, Heidenau, Bischofswerda nur zu Recht.

Aber “König Kurt” hat sich nicht geirrt: “Wieso habe ich mich getäuscht? Die große Mehrheit ist immun und bleibt es – wie in Westdeutschland, wo der Rechtsextremismus in Gestalt der Republikaner in Baden-Württemberg seinen Anfang nahm. Überwiegend sind es zudem Westdeutsche, die ihn nach Osten bringen. Dort, wo es ihnen gelingt, erzeugen sie zwar eine Protesthaltung, aber keine strategische Kraft.”

Die Online-Ankündigung der LVZ zum Biedenkopf-Interview. Screenshot: L-IZ
Die Online-Ankündigung der LVZ zum Biedenkopf-Interview. Screenshot: L-IZ

Und dann versucht er den durchaus rechtslastigen Protest damit zu erklären, dass die Ostdeutschen erstens keine Erfahrung mit Flüchtlingen hätten und zweitens ja die großen Umwälzungen der letzten 25 Jahre hätten verkraften müssen.

Drei steile Thesen übereinander, die ihm Kerstin Köditz, Sprecherin für antifaschistische Politik der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, so nicht mehr abnimmt.

“Als Kurt Biedenkopf im Jahr 2000 verkündete, die Sachsen seien weitgehend immun gegen ‘Rechtsextremismus’, wusste jeder denkende Mensch, dass es sich dabei um eine fatale Fehleinschätzung handelte, die den offensichtlichen Fakten widersprach”, erklärte sie am Montag in Reaktion auf das schönmalerische Interview. “Bereits damals war Sachsen ein Schwerpunkt der extremen Rechten in der Bundesrepublik. Die Szene der Neonazi-Kameradschaften boomte, der Landesverband der NPD war der stärkste in ganz Deutschland. Seine apodiktische Aussage war allerdings charakteristisch für den Kurs seiner CDU, der die Bekämpfung der extremen Rechten sträflich vernachlässigte und stattdessen die politisch wie wissenschaftlich fragwürdige Extremismusdoktrin förderte.”

Die übrigens bis heute gilt – immer wieder neu untersetzt auch mit fragwürdigen Berichten des sächsischen Verfassungsschutzes, der sich jahrelang regelrecht blind stellte, wenn es um die Gewaltbereitschaft der rechtsextremen Netzwerke ging.

Da kann man fragen: Hat die LVZ wenigstens nachgefragt?

Sie hat es versucht und Stanislaw Tillichs Reaktion auf den in Heidenau randalierenden Mob zitiert: “Das ist nicht unser Sachsen.”

Biedenkopfs verblüffende Antwort: “Ein nicht unwesentlicher Teil der Leute, die für die Übergriffe in Heidenau verantwortlich waren, waren keine Sachsen. Sie kamen aus Westdeutschland.”

Das sieht schon sehr konsequent aus, wenn es um die Verklärung “seiner Sachsen” geht. Natürlich haben auch die Städte im Osten Dresdens ihre Strukturumbrüche erlebt. Aber das immunisiert eben nicht alle Menschen gegen die Heilsbotschaften der Rechten. Dass die sächsische CDU sich dem Problem lieber nicht stellte, sondern lieber die schöne Heimat pries, hat dem Land nicht gut getan. Aber es erstaunt auch, wie sehr Biedenkopfs nun schon etwas angejahrte Sichtweise noch immer zur aktuellen Weltverklärung der sächsischen Regierung passt.

Köditz lässt es aber auch dem 85-Jährigen nicht einfach durchgehen.

“Wenn er heute, 15 Jahre danach, im Brustton der Überzeugung auf der Richtigkeit seines damaligen hanebüchenen Unsinns beharrt, muss man einen notorischen Realitätsverlust diagnostizieren. Er kann doch nicht schon vergessen haben, dass die NPD für zehn Jahre in den Landtag gewählt worden ist? Ignoriert er wirklich, dass aktuell fast 20 Prozent der Sachsen Parteien rechts von seiner CDU wählen würden? Blendet er tatsächlich aus, dass in keinem anderen Bundesland die Ressentiments gegenüber Geflüchteten so stark sind wie in Sachsen? Es muss in den Bereich der Legendenbildung verwiesen werden, dass der rassistische Mob in Heidenau, Freital und anderen Orten aus dem Westen angereist ist”, stellt sie fest.

Ein Blick ins LVZ-Interview: Nein, an dieser Stelle hat sich Dieter Wonka, der Chef-Interviewer der LVZ, weggeduckt. Er hat nicht weitergefragt und nicht wissen wollen, woher Biedenkopf das wissen will.

Und so steht es da. Noch eine Legende mehr.

Aber irgendwie scheint das bei Kurt Biedenkopf die Regel zu sein. Selbst zur westdeutschen Geschichte der Rechtsextremen muss ihn Kerstin Köditz korrigieren.

“Auch von einem Juristen wie Kurt Biedenkopf sollte man einige geschichtliche Grundkenntnisse erwarten dürfen. Entgegen seiner Meinung begann der Aufstieg der ‘Rechtsradikalen’ keineswegs mit den ‘Republikanern’ in Baden-Württemberg. Die Erfolgsgeschichte dieser politischen Strömung reicht leider bis in die Gründungsphase der Bundesrepublik zurück”, stellt sie fest. “Bis in diese Zeit zurück reicht leider auch die – zurückhaltend ausgedrückt – zwiespältige Haltung seiner Partei gegenüber der extremen Rechten. Fazit: wenn er jetzt geschwiegen hätte, hätte man ihn zwar nicht für den sprichwörtlichen Philosophen gehalten, aber er hätte seinen Ruf wenigstens nicht noch stärker demontiert.”

Und das Ganze wäre vielleicht nicht ganz so tragisch, wenn die aktuelle Politik der sächsischen CDU nicht noch immer abwiegeln würde. Und anheizen, das kommt ja noch hinzu. Man spielt ja in Sachsen selbst gern mit rigiden Parolen und bestärkt damit erst die rechtsradikalen Proteste vor den Asylbewerberunterkünften. Es ist wohl doch Tillichs Sachsen, das man da zu sehen bekommt, auch wenn er das – ganz Schüler Kurt Biedenkopfs – so nicht sehen will.

 

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