Dietmar Berndt ist seit 1. September 2015 Bürgermeister der rund 6.700 Einwohner zählenden Kleinstadt Böhlen südlich von Leipzig. Davor arbeitete der parteilose Politiker, von Hause aus Elektroingenieur, als Geschäftsführer der Städtischen Kultur- und Betriebsgesellschaft und war bereits seit 1999 im Stadtrat aktiv. Mitte 2022 will er sich erneut zur Wahl stellen. Mit der LZ sprach der 59-jährige Familienvater über aktuelle Entwicklungen, seine Kritik am frühen Kohleausstieg und die Mentalität der Menschen vor Ort.

Herr Berndt, Sie sind Ihr Leben lang in Böhlen gewesen. Ist das ein Vorteil als Bürgermeister? Ja, vor allem für die Bürger. Man kennt sich, hat kurze Wege, Menschen sprechen mich an, weil sie mich kennen. In einer Kleinstadt ist das ein Vorteil, dass Anliegen auch mal direkt an den Bürgermeister herangetragen werden können, nicht nur über Dritte, Stadträte oder Telefon. Die Leute kennen mich und ich sie, ich kenne die Mentalität, das ist wichtig. Diese Mentalität hat man selbst, sodass die Chemie irgendwie stimmt.

Was wollen die Leute, wenn Sie auf der Straße oder beim Einkauf angesprochen werden?

Es kommt vor, dass einfach „Hallo“ gesagt wird. Sonst: Von der defekten Straßenlaterne bis zum Schlagloch kann alles dabei sein. Und gerade in dieser Zeit: „Wo kann ich mich testen lassen? Wann findet wieder eine Impfaktion statt?“ Solche Sachen sind alltäglich.

Auffallend ist, dass Sie, anders als die meisten Ihrer Vorgänger, keiner Partei angehören.

Es ist bewusst, dass ich parteilos bleibe und immer war. Das hat, denke ich, Gründe in der älteren Vergangenheit, noch aus DDR-Zeiten.

Aber wo verorten Sie sich am ehesten?

Ich stehe der SPD nahe, das ist kein Geheimnis. Ich bin ja auch damals von der SPD aufgestellt worden, für deren Fraktion ich im Stadtrat saß. Es ist schon meine Richtung. Aber ein Parteibeitritt kommt nicht infrage.

Weil Sie als Bürgermeister alle ansprechen und eine gewisse Neutralität ausstrahlen wollen?

Auch das. Damit der Bürger, als Mitglied einer anderen Partei, nicht die Schwelle hat zu sagen: „Der ist jetzt in die oder die Richtung eingebunden.“ Ich versuche, offen zu sein. Von allem, was wir im Stadtrat haben, Linke bis AfD, höre ich mir alles an. Aber man hat auch eine eigene Meinung und die ist nahe bei der SPD.

Worin liegt der Reiz Ihres doch sehr fordernden Amtes?

Ich bin gern Bürgermeister, sonst strebt man das nicht an. Obwohl man nicht weiß, was alles dazugehört, trotz langjähriger Arbeit in der Stadt und im Stadtrat. Um reinzukommen hat man auch eine Lernphase gehabt. Aber es macht Spaß zu sehen, wenn sich was entwickelt und man merkt, dass man ein Stück Zukunft mitgestaltet.

Bei uns entstehen viele Neubauten, an der Schule, am Rathaus und eine neue Sporthalle. Die alte war notgedrungen noch im Betrieb, aber die neue wird bessere Möglichkeiten bieten, ein anderes Ambiente. Und auch an der Schule wird gebaut. Wir haben in Böhlen eigentlich alles, von der Krippe über das Gymnasium und die Berufsschule. Das ist ein Standortfaktor, der nicht zu unterschätzen ist.

Wird Böhlen in der Öffentlichkeit gut wahrgenommen?

Ja. Wir sind der Industriestandort Böhlen-Lippendorf, hier ist das Dow Chemical Werk, hier ist das Kraftwerk. Zu DDR-Zeiten war Böhlen noch ein schmutziger Industrieort, mittlerweile sind wir eine „grüne Perle“ im Neuseenland. Wir haben ein großes Kulturhaus und zielen darauf, auch Publikum aus Leipzig zu ziehen, was schwierig ist. Aber es ist ein Flaggschiff, aus der Region bis Altenburg, Zeitz und Geithain kommen Leute hierher. Also: Wir werden wahrgenommen, über die Industrie und die Kultur.

Und das Leipziger Symphonieorchester, kurz LSO.

Das sitzt im Kulturhaus. Viele wissen nicht, dass das LSO eine hundertprozentige Tochter der Stadt Böhlen ist. Es ist ja über die Grenzen des Kulturraums bekannt und nachgefragt. Auch das ist eine Wahrnehmung Böhlens.

Sicher auch ein Standortvorteil.

Hauptsächlicher Standortvorteil ist die S-Bahn. Sie ist Lebensader für alle, die an der Strecke liegen. Wir haben die Halte Großdeuben, Böhlen-Bahnhof und Böhlen-Werke. Sie wird gut genutzt, da wir hier die Berufsschule haben und die Industrie mit ihren Arbeitsplätzen. Viele, die aus Leipzig wegziehen wollen, schauen dann, wie sie das gemanagt bekommen.

Der Vorteil ist die S-Bahn, und die Verkehrsanbindung. Jetzt entsteht die Autobahn und die Zuführung. Wir haben auch schon vor Jahren eine Umgehungsstraße für Böhlen gebaut, die das Industriegebiet anschließt, sodass wir den Werks- und Güterverkehr nicht hier in der Stadt haben.

Nutzen Sie die S-Bahn, um nach Leipzig zu kommen?

Des Öfteren. Ich bin leidenschaftlicher Autofahrer, aber nach Leipzig zu fahren ist so kürzer und günstiger, ohne Parkplatzsuchstress in der Stadt.

Der Leipziger Südraum ist von der Braunkohle geprägt. Nun hat die neue Ampel-Koalition den Kohleausstieg „möglichst 2030“ im Visier, was Sie kritisch sehen. Warum?

Ich würde es nicht der Ampel auf die Fahne schreiben, das Thema ist ja aus der alten Regierung geboren. Natürlich müssen wir aus der Kohle raus und wegen des Klimawandels etwas tun. Die Frage ist: In welcher Zeit schaffen wir das mit welchen Folgen? Wir können aussteigen, wenn wir unser Land 24 Stunden, 7 Tage, 365 Tage mit Strom versorgen können, Privathaushalte und Industrie. Dafür tun wir eine Menge.

Die Witznitzer Kippe ist ein Thema, dort tun Böhlen, Rötha und Kieritzsch einiges dafür, dass diese Photovoltaik-Anlage entsteht. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir hoffen, dass dieser Standort noch anderes anzieht, wie beispielsweise Wasserstoff-Herstellung oder ähnliches. Aber pauschal zu sagen, wir steigen noch eher aus, 2030, ist problematisch.

Politische Entscheidungen sollten immer fachlich fundiert sein. Es ist politisch entschieden worden sowohl mit der Fernwärme (Beschluss Leipzigs, auf die Fernwärme-Versorgung des Kraftwerks Lippendorf zu verzichten, was auch die Versorgung Böhlens kappen würde – Anm. d. Red.) und es ist genauso mit Kohleausstieg und Strukturwandel.

Solange wir es nicht ersetzen können durch Photovoltaik, Sonnen- und Windenergie, werden wir auf Kohle angewiesen sein. Beim Atomstrom ist der Ausstieg passiert.

Manche Fachleute halten einen Ausstieg 2030 für machbar, mit dem massiven Ausbau regenerativer Energien und dazu z. B. Erdgas-Kraftwerken. Ist das nicht glaubhaft?

Das halte ich nicht für glaubhaft, und schon gar nicht für sinnvoll, von Kohle auf Erdgas umzusteigen. Natürlich verbessert es die Bilanz um einiges. Aber es bleibt ein fossiler Brennstoff, von Kohle auf Erdgas.

Ist das Thema Kohleausstieg ein „heißes Eisen“ in der hiesigen Bevölkerung?

Weniger. Momentan ist die Stimmung sehr diskussionsfreudig in puncto Pandemie. Gespräche auf der Straße beginnen oder enden meist mit dem Thema.

Gutes Stichwort. Wie hat Böhlen die Pandemie bisher bewältigt?

Wie überall gab es auch hier Erkrankte und Verstorbene. Aber nicht mehr als anderswo, wir sind nicht hervorstechend. Als Landkreis sind wir in der Inzidenz manchmal mit vorn gewesen und jetzt immer noch, das wirkt sich auch auf Böhlen aus. Auch von Schulschließungen waren wir betroffen.

Gegen Sie lag im Frühjahr eine Strafanzeige vor, weil Sie sich beim Impfen „vorgedrängelt“ haben sollen.

Die Strafanzeige ist eingestellt worden. Es war ganz einfach so, dass bei der Impfaktion im Altenheim Restimpfdosen übrig waren. Ich wurde ad hoc angerufen, dass diese zu verimpfen sind. Nach mehreren Rückfragen, ob es nicht Leute gibt, die noch ansprechbar waren, haben sie gesagt: Nein, sie fragen mich ausdrücklich als Bürgermeister. Es hieß dann: „Komm’ in der nächsten halben Stunde, sonst müssen wir es verkommen lassen.“

Ich fand, jeder Geimpfte ist wichtig, ob das nun der Bürgermeister ist oder nicht, und eine Impfdose verfallen zu lassen, fand ich zu schade. Es war eine schnelle Entscheidung.

Dass das einigen Leuten nicht gefallen hat, weil sie selbst gern eine Impfung zu dem Zeitpunkt gehabt hätten, dass da ein gewisser Zorn war, kann ich nachvollziehen. Was ich nicht nachvollziehen kann ist, dass es Leute gibt, die gefälschte Unterlagen an die Presse geben, ich hätte mich eintragen lassen in ein Impfverzeichnis.

Es gab ein Foto von einem Bildschirm mit meinem Namen und meiner Privatadresse, also auch noch ein Datenschutzverstoß. Dass gesagt wird, ich hätte mich absichtlich vorgedrängelt. Das verstehe ich nicht.

Sie haben die Böhlener Mentalität angesprochen. Wie lässt sie sich beschreiben?

Ein Beispiel: Den Ur-Böhlener juckt es nicht, wenn die Fackel der Dow brennt (gemeint ist die Fackel des Böhlener Chemiewerks Dow, durch die eine kontrollierte Verbrennung von Abfallgasen erfolgt und deren weite Sichtbarkeit mitunter für Unruhe sorgt – Anm. d. Red.).

Er weiß: Dort wird etwas „abgefackelt“, damit nichts passiert. Wir hatten es in den 90ern und 2000ern, dass Leute aus Leipzig kamen und das als Attraktion oder was Gefährliches gesehen haben.

Der Ur-Böhlener ist ein Industriemensch. Viele haben da gearbeitet und sich an Industrienähe gewöhnt. Sie leben damit, ohne aufgeregt zu sein. Die neuen Leute sind nicht so geprägt. Es ist eine gesunde Mischung. Es gibt verschiedene politische Strömungen und Meinungen, gerade in der Pandemie. Aber ich denke, Böhlen ist eine Gesellschaft, die gut miteinander klarkommt.

Politische Strömungen ist ein gutes Stichwort. Wie empfinden Sie die Stimmung im Stadtrat von Böhlen, wo Linke, SPD, Grüne, FDP, CDU und AfD vertreten sind?

Es ist eine andere Arbeit, seit die AfD im Stadtrat ist. Es ist Bewegung reingekommen und auch Reiberei, und verschiedene Meinungen. Früher gab es schon eine andere Kultur, keine Frage. Die Streit- und Umgangskultur haben sich geändert.

Also ist der Ton rauer geworden?

Zum Teil ja.

Ist diese Art Reiberei auch produktiv im Sinne des Anliegens oder eher lähmend?

Es ist oft parteiorientiert, nicht mehr sachorientiert. Klar gibt es immer auch Parteiliches, was mit hereinspielt, aber in der Kommune sollte man doch vorrangig um die Sache kämpfen, nämluich die Gemeinde, den Fortschritt und das Fortkommen, und Parteiliches außen vor lassen. Zur Wahlzeit kann man politisch streiten, ansonsten sollte es zumindest im Gemeinderat um die Sache gehen. Das ist meine Meinung.

Gibt es noch einen Dauerbrenner abseits der Pandemie, der die Menschen hier bewegt?

Ein Dauerbrenner bereits vor der Pandemie und auch jetzt noch ist, hier zu wohnen, auch günstiger zu wohnen als in der Großstadt, und mit der Anbindung relativ günstige Arbeitswege zu haben. Das betrifft nicht nur die S-Bahn, sondern wir haben auch eine gute Straßenanbindung. Ein Bauvorhaben, was gerade begonnen hat, ist unser Bahnhofsvorplatz.

Er ist ÖPNV-Verknüpfungsstelle zwischen Bus und Bahn. Man kann also auch mit dem Bus sehr gut ins Ländliche fahren, Wir sind verkehrstechnisch sehr gut angebunden, und ich denke, das ist der Hauptgrund, dass Leute hierher kommen.

Noch ein Punkt, der auch oft nachgefragt wird: Wie ist es mit dem Internetanschluss? Wir sind schon einmal von der Telekom mit der Vectoring-Technik ausgebaut worden. Das hat uns erstmal geholfen. Anfang diesen Jahres haben wir mit der Vorvermarktungsphase begonnen mit der enviaTEL.

Es war ein bisschen zäh am Anfang, aber dann doch erfolgreich, sodass wir im Frühsommer 2022 vollflächig mit Glasfaser ausgebaut werden und zwar FFTH, also bis ins Haus. Da kann sich dann jeder, der will, bis zu 1 GB Geschwindigkeit in jedem Haus anschließen. Das ist, denke ich, auch ein Standortvorteil.

Das Interview „Der Ur-Böhlener ist ein Industriemensch“ erschien erstmals am 17. Dezember 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 97 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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