Es ist doch schön, wenn Ideen so langsam reifen. Man lässt einen Gedanken fallen wie einen Samen. Erst schauen sich ein paar Akteure den sonderbaren Gedanken an, wundern sich, sind schon kurz davor, ihn im Papierkorb zu entsorgen. Dann kommt ein anderer Gedanke von anderswo, der den ersten greifbarer macht. Und auf einmal wird das Ganze zur Idee. Beispielsweise: die Neuseenland-Card.

Seit dem Frühjahr lädt die Steuerungsgruppe Leipziger Neuseenland ein, über die “Charta Leipziger Neuseenland” zu diskutieren. Mitzudiskutieren, es nicht wieder nur den “Experten” zu überlassen. Denn das Neuseenland ist eben auch der Erholungsraum der Leipziger und der anderen Bewohner der Region. Was will man mit den gefluteten Seen anfangen? Welche Art Freizeitangebote soll es geben? Wie geht man mit Natur um? Will man lauten oder leisen Tourismus?

Die Charta ist eine Selbstverpflichtung. Zur Wassersportmesse “Beach & Boat” Anfang 2013 soll die Charta verabschiedet werden. Im Frühjahr wurde schon eifrig diskutiert mit den Kommunen, die Mitglied im “Grünen Ring Leipzig” sind, mit IHK-Mitgliedsunternehmen, mit Sport- und Freizeitvereinen. Eigentlich war, als der Vorentwurf im Juni zur öffentlichen Diskussion veröffentlicht wurde, alles klar.

Die erste These lautet: “Das dynamische Leipziger Neuseenland. Gewässer im Einklang mit Mensch und Natur entwickeln!” – Das setzt Behutsamkeit an erste Stelle. Auch beim Umgang mit dem Bootsverkehr. Umso verblüffender der Vorstoß einiger IHK-Mitglieder, mehr Motorbootverkehr im Neuseenland zu fordern. Das würde mehr als fünf Jahre gemeinsame Arbeit komplett in Frage stellen. Denn genau das ist – so betonten es die Mitglieder der Steuerungsgruppe Neuseenland am Donnerstag, 6. September, nicht Ziel der gemeinsamen Arbeit. Ab 2005 hat man extra ein Wassertouristisches Nutzungskonzept erarbeitet, wohl wissend, dass jede Art touristische Nutzung im Neuseenland auch Auswirkungen auf Flora und Fauna hat.

Nicht nur beim Floßgraben, wo absehbar war, dass diese Verbindung von Leipzig-Stadtmitte zum Cospudener See mit Eröffnung der Schleuse Connewitz zur Hauptroute werden würde für alle Paddler und Ruderer und die genehmigten Leipzig-Boote. Die Zählungen in den Jahren 2010 und 2011 haben es bestätigt. An schönen Sommertagen fahren deutlich mehr als die prognostizierten 300 Boote am Tag durch den schmalen Wasserlauf.

2006 hat man dazu erste Monitorings gemacht, hat eine Aufstellung über bedrohte Arten und Habitate gemacht. Am Donnerstag wurden die Monitorings für die Jahre 2010 und 2011vorgestellt. Und man wurde bestätigt. Beim Eisvogel etwa, der in den letzten Jahren im Leipziger Auwaldgebiet immer nur in maximal sechs Brutpaaren gezählt wurde, bis zu zwei wurden vor der Eröffnung von “Kurs 1” im Floßgraben gesichtet. In den letzten beiden Jahren nicht nicht mehr. Was nicht unbedingt nur mit dem Bootsverkehr zu tun hat, der sogar bewusst noch eingeschränkt wurde, um dem Eisvogel die nötigen Ruhephasen zu geben, eventuell doch zu brüten.
Die Schleusen öffnen erst um 10 Uhr, was den Vögeln ab Sonnenaufgang mindestens drei Stunden Ruhe lässt, nach Insekten zu jagen. So dass sich der Hauptverkehr auch auf “Kurs 1” in der Regel zwischen 11:30 und 17:30 Uhr abspielt. Da man sich um den Eisvogel besonders sorgt, will man das spezielle Eisvogelmonitoring künftig jedes Jahr durchführen.

“Umso wichtiger ist es, dass wir in anderen Teilen des Gewässersystems im Auewald eine komplette Sperrung für Wassertourismus absichern”, sagt Angela Zabojnik, die die AG Gewässerverbund leitet. Heißt im Klartext: Wichtige Gewässerteile werden für Monate komplett für die Bootsbefahrung gesperrt – bis Ende Juli. Das trifft auf die Obere Weiße Elster zu, die für volle sieben Monate des Jahres genauso für Bootsverkehr gesperrt ist wie die Untere Weiße Elster, die sich westlich vom Auensee durch die Landschaft schlängelt in ihrem ursprünglichen, unbegradigten Zustand. Hier haben Flora und Fauna ihre Ruhe vor der Geschäftigkeit der Menschen. Und auch in den restlichen Monaten dürfen diese Flussabschnitte nur mit Genehmigung befahren werden. Übrigens auch auf Sachsen-Anhalter Seite. “Naturvorranggebiete” heißen sie.

Das aktuelle Monitoring zeigt, dass man mit den Eingrenzungen der wassertouristischen Nutzung tatsächlich geschafft hat, weitere Beeinträchtigungen für die Artenvielfalt und die Intaktheit wichtiger Habitate zu verhindern. Bedroht sind einige Populationen trotzdem. Die des Eisvogels etwa sind stark von der Witterung abhängig. Der Schwarzmilan findet möglicherweise nicht mehr genug Beute. Zur Stabilisierung der Lebensräume hat – so Zabojnik – auch die Verbesserung der Wasserqualität beigetragen.

Wie wichtig den Neuseenländern die geschützte Natur ist, zeigt auch These 2 der Charta: “Das naturnahe Leipziger Neuseenland. Einzigartige Naturlandschaft bewahren und erlebbar machen!”

Man merkt schon, wie hier die Mehrheit hin zu einem sanften, naturschonenden Tourismus tendiert, der sich sehr wohl mit wirtschaftlichen Aktivitäten verbinden kann. These 6: “Das wirtschaftliche Leipziger Neuseenland. Gewachsene und neue Landschaften nachhaltig in Wert setzen!”

Das verträgt sich nicht wirklich mit lärmenden Motoren. Zumindest nicht in größerem Ausmaß. Und auch nicht mit immer größeren Parkplätzen direkt am See, wie es jetzt Markkleeberg vorhat, weil die dortige Stadtverwaltung nicht den Mumm hat, das gemeinsame Verständnis vom Neuseeland auch gegen die Immer-Motorisierten durchzusetzen.

Sieben Thesen wurden seit Juni diskutiert. In der letzten Woche formulierte die Steuerungsgruppe eine weitere, achte These, die just jenem Gedanken entspringt, der vor einem Jahr bei der Kooperationsvereinbarung des Tourismusvereins Leipziger Neuseenland und des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes geäußert wurde: Warum gibt es eigentlich kein Ticket, mit dem man das gesamte Neuseeland bereisen kann?

Die These dazu heißt jetzt: “Die vielfältigen Orte des Leipziger Neuseenlandes entdecken! Unterwegs mit Fahrrad, Bus, Bahn und den eigenen Füßen”. In die Reihe der aufgezählten Verkehrsmittel gehören noch die Fähren. Man soll einfach mit einem Ticket mit allen Regionalzügen, S-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen fahren können, da, wo Fahrradtransport möglich ist, mit Fahrrad – in den Gewässerlandschaften dann sowieso mit Fahrrad oder zu Fuß. “Neuseeland-Card” heißt die Vision. Naturnaher Tourismus, der eben nicht mit dem PS-starken Mobilsein in Konflikte gerät. Das kann ein echtes Markenzeichen werden für den Tourismus im Neuseenland.

Dazu muss – das steht auch fest – noch einiges in ein möglichst barrierefreies Nahverkehrssystem investiert werden. Aber Bahnhöfe und Busstationen werden so zu einem “Eingangstor ins Leipziger Neuseenland”.

Und wohin mit den Autos? – Auf Park+Ride-Plätze, wo das Umsteigen leicht ist – entweder auf ÖPNV oder auf Fahrräder aus einer Verleihstation.

Es ist schön, wenn kleine Ideen, die man so hinstreut, tatsächlich zu einer großen Vision werden. Vor allem zu einer, die zu dem passt, was sich die Akteure von ihrem Neuseenland von Anfang an wünschen.

“Nur die Beteiligung an der Diskussion der Charta ist noch etwas gering”, meint Dr. Gerhard Gey, Landrat des Landkreises Leipzig und derzeit Sprecher der Steuerungsgruppe. “Internet allein genügt eben doch nicht. Da melden sich zwar die Engagierten zu Wort, die sich schon immer ernsthaft mit den Themen beschäftigen. Aber wir wollen wirklich eine breite öffentliche Beteiligung. Das soll eine Charta werden, die auf breiter öffentlicher Zustimmung beruht.”

Deswegen wolle man auch noch ein großes Bürgerforum organisieren und eine Werkstatt.

Wer sich einbringen will, findet den Charta-Entwurf hier:
www.charta-leipziger-neuseenland.de

Der Gewässerverbund:
www.gewaesserverbund.de

Der Tourismus im Leipziger Neuseenland:
www.leipzigerneuseenland.de

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