Karsten Peterlein ist noch immer aufgewühlt. Es begann mit einem Anruf im April: Nachbarn alarmierten die Leipziger Wildvogelhilfe, weil sie an einem Haus in Wiederitzsch beobachtet hatten, wie Stare mit Würmern im Schnabel verzweifelt an einer Hauswand flatterten. Der böse Verdacht: Arbeiter hatten bei der Sanierung einfach ein Brutnest verfüllt und zugespachtelt, ohne auf die hilflosen Jungvögel zu achten, die folglich in der Falle saßen.
Peterlein, ehrenamtlicher Arbeitskreisleiter für Ornithologie und Vogelschutz beim NABU Leipzig, nahm sich der Sache an, eilte nach Wiederitzsch. Sein geschultes Auge sah sofort, dass der Notruf berechtigt war: Elternstare flogen mit Würmern gegen die Hauswand, versuchten offenbar vergeblich, Brutnester zu erreichen – ein untrügliches Signal. Am Telefon lieferte sich Peterlein daraufhin ein „böses Streitgespräch“ mit der Hausverwaltung.
„Ich konnte zwei Tage nicht schlafen“
Die beharrte, die Hohlräume seien vor der Versiegelung geprüft worden. Dann lenkte man ein und schickte doch nochmal die Baufirma mit der Hubbühne vorbei. Peterlein selbst barg insgesamt acht Jungstare aus aufgebrochenen Höhlen. Fünf davon konnte er nicht mehr helfen, sie waren qualvoll am verfestigten Bauschaum erstickt oder an Unterkühlung gestorben. Ein weiteres Tier überlebte die kommenden Stunden nicht. Zwei wurden gerettet, mühsam vom Bauschaum befreit, versorgt und später in andere Nester umgesetzt.
„Die hat es richtig zerrissen“, sagt Karsten Peterlein traurig mit Blick auf den grausamen Tod der kleinen Stare. Und wird deutlich: „Das ist für uns auch ein dramatisches Erlebnis. Ich konnte zwei Tage überhaupt nicht schlafen.“
Warum werden Wildvögel beim NABU gepflegt?
Immerhin wurde hier ein Verstoß gegen das Bundesnaturschutzgesetz angezeigt, auch wenn Peterlein zweifelt, ob die Verantwortlichen mit einer wirklich spürbaren Geldstrafe belangt werden. Der 48-Jährige betont, den Arbeits- und Kostendruck der Baubranche zu verstehen. „Aber unser Auftrag als NABU ist, Anwalt für die Tiere zu sein und das öffentlich zu machen.“ Achtung und Rücksichtnahme, gerade jetzt in der Brutzeit von März bis September, seien essenziell und jeder gefragt, appelliert Peterlein.
Nicht nur Ignoranz oder Ausflüchte bringen den gebürtigen Thüringer zur Verzweiflung. Auch sehen sich er und seine Mitstreiter immer wieder in der Nachweispflicht, warum Vögel in Notsituationen geraten. Dabei weist die NABU-Statistik der letzten zehn Jahre 20 Ursachen aus, die dazu führen, dass Wildvögel stationär gesundgepflegt werden müssen, sofern sie das Glück haben, in professionelle Obhut zu kommen und zu überleben.
Trauriger Spitzenreiter der erfassten Fälle ist nach wie vor der Vogelschlag an Glasfronten wie zuletzt in der Prager Straße, wo die Stadt als Mieterin nun endlich Muster von außen angeklebt hat, damit Vögel auf ihrem Flug die Fassade als Hindernis wahrnehmen. Etliche waren zuvor mit ganzer Wucht dagegengeprallt und teils gestorben.
Tierangriffe und Klebepasten
Weit vorn in der Aufnahmestatistik rangieren auch Angriffe durch frei umherlaufende Katzen, die Vögel aufgrund ihres Jagdtriebs angreifen, sie schwer verletzen oder zu Tode beißen. „Das ist ein sinnloser Tod, der nicht sein muss“, ist Peterlein überzeugt. Hier sieht er die Halter in der Verantwortung, sich in der Wohnung ausreichend um die Hauskatze zu kümmern.
Verkehrsopfer unter den Vögeln stoßen oft mit Fahrzeugen zusammen, weswegen Peterlein, obgleich selbst für seine Arbeitseinsätze auf ein Auto angewiesen, auch für ein mehr Tempo-30-Zonen plädiert, zumindest in sensiblen Gebieten. Denn dann könne im Notfall rechtzeitig gebremst werden.
Vor einiger Zeit sorgten zudem spezielle Kleber für Aufregung, die auf Dächern und Balkonen vor allem der Taubenabwehr dienen sollten. Nicht nur Tauben, sondern auch andere Vögel wie Turmfalken oder Meisen nehmen die Paste über ihre Krallen auf, mit denen sie sich dann ahnungslos das Gefieder putzen und so am Körper bis zur Flugunfähigkeit verkleben. Ein sicheres Todesurteil, wenn ihnen keiner hilft – oder sie nicht schon vorher haften bleiben und qualvoll verenden.
Die Hersteller hätten womöglich nie damit gerechnet, dass Natur- und Tierschützer dem tückischen Leim auf die Schliche kämen, so jedenfalls wurde es Peterlein von einem Insider erzählt. Behauptet wurde dann, die Substanz würde nur falsch angewandt. Peterlein sieht das als widerlegt. Verkauft werden Produkte dieser Art weiterhin. Gerade jetzt wurde wieder eine stark verklebte Stadttaube gerettet und vor einigen Tagen eine Graugans, die Unbekannte illegal abgeschossen hatten. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
„Wir haben großen Lebensraumverlust“
Wer mit Karsten Peterlein spricht, spürt seine Leidenschaft und Sachkenntnis. Schon als 10-jähriger Steppke fand er in den Ferien auf dem Bauernhof seiner Großeltern eine Rauchschwalbe, die aus dem Nest gefallen war, pflegte das Tier. Der Funke ließ ihn nicht mehr los und er grub sich über Jahre immer tiefer in die Thematik ein.
Jenseits aller Geschichten, die der 48-jährige NABU-Mann zu erzählen weiß, sieht er das Grundsatzproblem hinter dem Thema Wildvögel in der Stadt: „Der Vogelschutz muss immer intensiver betrachtet werden, weil wir großen Lebensraumverlust haben.“ Schon in den etwa 18 Jahren, die er hier lebt, sei das Stadtgrün deutlich zurückgegangen, weiß der zugezogene Wahl-Leipziger.
Und es ist ja kein Geheimnis: Diese Stadt wächst und mit ihr der Bedarf an Infrastruktur, Wohnraum und Schulen. Dazu kommt der fortschreitende Klimawandel mit Dürresommern wie ab 2018, was das Absterben von Vegetation beschleunigt.
Solche Faktoren zwingen Wildvögel immer mehr zum Ausweichen, sodass sie sich auf Glasflächen, Hausdächern und an Straßen ansiedeln – mit allen Konsequenzen. Peterlein erkennt den Konflikt von Natur und menschlichem Flächenanspruch, sieht auch die Notwendigkeit des Bauens ein, aber: „Man kann geschickter bauen“, ist er überzeugt.
Neben höherer Bebauung auf kleinerer Fläche und weniger Versiegelung erkennt Peterlein einen Nachholbedarf auch beim Anlegen einheimischer Gehölze, die der Insektenvielfalt helfen und damit wiederum den Vögeln eine Nahrungsgrundlage bieten. Doch jenseits vieler Bekenntnisse und schöner PR-Bilder passiere in dieser Hinsicht noch immer viel zu wenig, kritisiert Peterlein.
Beratungsbedarf steigt und steigt
Einen seriösen Gesamttrend beim Thema Vogelgefährdung und Vogelschutz abzuleiten, sei schwierig, sagt er und nennt ein Beispiel: Haben die Fälle des Vogelschlags „da draußen“ wirklich zugenommen, wie oft gefragt wird und die NABU-Statistik auch nahelegt? Oder werden einfach nur mehr Fälle erfasst, weil die Leute dank zunehmender Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wissen, an wen sie sich im Notfall wenden?
Was Peterlein und das NABU-Team unzweifelhaft freut, ist das positive Feedback aus der Bevölkerung und auch, dass mehr Leute mit ihren Fragen die niedrigschwellige Telefonberatung in Anspruch nehmen: Wo stelle ich die Vogeltränke im Sommer am besten auf? Wie bringe ich den Nistkasten richtig an? Hier ist es zum Beispiel wichtig, die Brutstätte hoch zu installieren, sodass Katzen und Waschbären nicht herankommen und die gefiederten Tiere in Ruhe brüten und für den Nachwuchs sorgen können.
Auch in der Lokalpolitik ist das Thema Vogelschutz immerhin auf der Agenda. Nur: Deren Mühlen mahlen bekanntermaßen langsam, zudem können Gesetze und Verordnungen allein die Probleme nicht beheben. Vielmehr ist jeder Einzelne gefragt.
Es fängt schon damit an, etwa beim Fund von Wildvögeln richtig zu reagieren. Wie überall gilt: Nicht jedes (Jung)Tier in vermeintlicher Not ist es tatsächlich – gut gemeinter Aktionismus kann schnell großen Schaden anrichten. Daher hat der NABU eine verständliche Handreichung erstellt, wie im Fall eines Vogelfunds vorzugehen ist.
Hohe Quote der erfolgreichen Auswilderung
Ohnehin wissen Peterlein und seine Mitstreiter, dass sie angesichts des begrenzten Personal- und Zeitpools nur einem Bruchteil aller in Not geratenen Wildvögel überhaupt helfen können. Daher liegt der Fokus des NABU auch eher in der Aufklärungs- und Präventionsarbeit.
Aber wenn es darauf ankommt, zögert Peterlein keine Sekunde. Während wir unser Gespräch führen, bringt eine Frau aus Knautkleeberg eine Gruppe hilfloser kleiner Kohlmeisen vorbei – etwa eine Woche alt. Deren Eltern waren nicht mehr zum Nest zurückgekehrt, vermutlich wurden sie Opfer eines Waschbären.
Peterlein wird sich um die sechs Jungtiere kümmern und sie aufpäppeln. Sie sehen gesund aus, stellt er mit geübtem Blick fest, während er sie behutsam auf die Polsterung einer Transportbox legt. Von den beim NABU aufgenommenen „Patienten“ sterben etwa 13 Prozent. 87 Prozent aber können erfolgreich in die Freiheit ausgewildert werden. Auch das gibt Kraft, weiterzumachen.
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Die Wildvogelhilfe Leipzig steht Ihnen bei Fällen eines Vogelfunds und allen Fragen rund um das Thema Vogelschutz unter 0341/927 62 027 während der Telefonzeiten zur Verfügung. Viele weitere Informationen und Möglichkeiten zur Spende finden Sie jederzeit auf der Website. Aktuelle Fälle und Tipps der Wildvogelhilfe gibt es zudem auch bei Facebook.
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