Dass ganz Lindenthal in Aufregung ist, wäre wohl eine klare Übertreibung. Etwa 100 Menschen haben am 7. März 2023 in der örtlichen Gustav-Adolf-Kirche Platz gefunden, so viele wie lange nicht mehr, so Pfarrer Dr. Markus Hein. Noch einmal 50 warten vor der Tür. Während der erste richtige Schneefall 2023 die 7.000-Seelen-Gemeinde* in Watte packt, wird es im Gotteshaus laut. Es ist Ortschaftsratssitzung zu einem einzigen Tagesordnungspunkt: Fremde sollen kommen.
Begonnen hat alles, was sich in dem nördlichen Leipziger Stadtteil seit etwa Anfang Februar 2023 abspielt, bereits im Jahr zuvor und ist genau genommen eine der Folgen vorheriger Jahre.
Die Welt ist in Unruhe geblieben und während der CDU-Spruch „2015 darf sich nicht wiederholen“ die Runde macht, sind seit 2015 die Zahl der weltweit Fliehenden von ehemals 50 Millionen Menschen auf knapp 90 Millionen weiter angewachsen. Und zunehmend verlieren sie, getrieben von Kriegen, Klima und Not die Hoffnung, in ihren Heimatländern eine Zukunft zu haben.
Während sich Deutschland wie die ganze Welt mit den Folgen der Corona-Pandemie und des Russland-Krieges gegen die Ukraine herumschlägt, laufen in Griechenland, Italien und der Türkei die Flüchtlingslager nahezu unbemerkt erneut erst voll, dann über.
Der Ukraine-Krieg beginnt und erschöpft neben dem wieder anhebenden Bevölkerungswachstum in Leipzig die letzten Aufnahmereserven an freien Wohnungen, Privatunterkünften und aufnahmebereite Familien.
Der soziale Wohnungsbau, 2017 mit 5.000 neu zu bauenden Wohnungen mit sozialer Preisbindung im Stadtrat beschlossen, ist fünf Jahre später bei etwa 1.400 neuen Wohneinheiten in Leipzig angelangt, pro Jahr kommen etwa 400 bis 500 weitere hinzu. Und die Zuschüsse des Landes Sachsen sind noch immer zu niedrig, wie schon seit Jahren, um nachhaltig sozialen Wohnungsbau zu schaffen.
Die Messemetropole kommt schlicht nicht mehr hinterher, etwa nur ein Drittel dessen, was wirklich an Wohnungen im bezahlbaren Bereich benötigt wird, entsteht bis heute.
Gleichzeitig hat man sich ambitionierte Ziele gesteckt: Menschen, die auf ihrer Flucht in Leipzig ankommen, sollen dezentral, in eigenen Wohnungen untergebracht werden.
Doch genau das wird allmählich unmöglich, wie ein Blick auf die Nöte der bereits in Leipzigs „Sammelunterkünften“ lebenden Asylbewerber am Beispiel Grünaus zeigt.
Bereits am 16. Februar 2023 räumte OBM Burkhard Jung gegenüber dem Deutschlandfunk ein, dass die Kapazitäten auch in der Erstaufnahme erschöpft sind und man – will man nicht mehr und mehr Turnhallen umfunktionieren – über Lösungen auf dem Messegelände nachdenkt.
Entmietung in Lindenthal
All das und die Frage, wohin vor allem mit jenen Neuleipziger/-innen, die schon zu lange in den großen Sammelunterbringungen ausharren, rückt spätestens im Februar 2023 ein Mehrfamilienhaus an der Hauptstraße 50 in Leipzig-Lindenthal ins Zentrum des Verwaltungsinteresses.
Mittlerweile ist man hier offenkundig bereit, so manchen Vorschlag anzunehmen, der irgendwie den Druck auf der Unterbringungsfrage lindert und dabei hilft, die kommunale Pflichtaufgabe zu erfüllen, geflohenen Menschen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen.
Angeboten wird das Mehrfamilienhaus der Stadt zur Miete durch eine Beherbergungs-Firma, welche sich auf Asylbewerberunterbringungen spezialisiert hat. Dabei heißt es nach LZ-Informationen gegenüber der Stadt Leipzig, das Haus sei leer, unbewohnt, so ist am Beginn auch der Stand des Wissens bei der Stadtverwaltung.
Für Andreas Geisler, Stadtrat der SPD und Ortschaftsratsmitglied in Lindenthal Grund genug, bei der Februar-Ratsversammlung massive Nachfragen über die Qualität der Prüfung des Angebotes durch die Stadt Leipzig zu formulieren.
Der angebliche Leerstand ist mindestens aktuell eine halbe Lüge, weil er sich auf die Zukunft bezieht. Im Erdgeschoss der Immobilie im Ortskern, direkt gegenüber dem Rathaus gelegen, führen Danilo und seine Mutter einen gut gehenden Imbiss, in der ersten Etage befindet sich eine Physiotherapie und in den Etagen darüber wohnen mindestens zwei ukrainische Flüchtlingsfamilien. die ehemalige Besitzerin A. (Name d. Red. bekannt) samt ihrer kürzlich verstorbenen Mutter.
Die Überraschung: alle im Haus Lebenden und die Gewerbetreibenden haben bereits ihre Kündigung erhalten.
Doch wer sie wann genau gekündigt hat, will niemand sagen. Auf Angebote der LZ vor Ort, sich wenigstens über einen Anwalt zu melden oder zurückzurufen, folgen keine Reaktionen. Vor die Kamera will niemand, auch Ortschaftsräte nicht, nicht einmal namentliche Zitate sollen in die Zeitung.
Mal, weil man nicht als rechts gelten will, mal, weil man als Gewerbetreibender in der Hauptstraße 50 Befürchtungen hat, dass eine offene Debatte um die Befürchtungen zur Zukunft der kleinen Geschäftsstraße nicht ohne Folgen für einen selbst führbar sei.
Denn bis vor kurzem gehörte die Immobilie mit A. einer Lindenthaler Gastronomin, welche es bereits 2022 für 1,2 Millionen Euro zum Kauf anbot.
Glaubt man den Informationen im Ort, hat ein Landsmann der Griechin, welche angeblich ihre Geschäfte in Deutschland aufgeben und wieder nach Griechenland zurückwill, erworben. Der in der Höhe unbekannte Kaufpreis selbst sei jedoch noch nicht entrichtet, so ein weiteres Gerücht.
Befeuert wird es durch reale Fehler: in den Unterlagen der Stadt Leipzig stehen anfangs 300 Quadratmeter nur für den Innenhof, dabei ist die gesamte Objektgröße gemeint.
Hausbesitzerin A. selbst äußert bei einem Besuch der LZ vor Ort ihr Interesse an einem Gespräch zu diesem Vorgang, ja man müsse reden, heißt es freundlich: das vereinbarte Gespräch findet jedoch nie statt, die Geschäftsfrau schweigt lieber.
Der Grund auch für ihr Schweigen könnte die Angst sein, dass sich der Frust einiger Lindenthaler bei ihr entlädt. Denn der Immobilienverkauf hat Folgen, aus dem Wohn- und Geschäftshaus wird ein Entmietungsprojekt, um einen Deal mit der Stadt machen zu können.
Eine Einladung auch an jene, die grundsätzlich rassistische Vorurteile gegenüber Fremden haben und dabei jede Information nutzen, um gegen die Aufnahme von Geflohenen Stimmung zu machen.
Ob A. die Pläne ihres Käufers kannte oder nicht, bleibt also ebenso unklar, wie auch, ob sie oder der Käufer die Kündigungen an die Bestandsmieter ausgesprochen hat. Ändern würde es ebenso wenig.
Die Stadt betont lediglich, dass die Beherbergungsfirma einen rechtsgültigen Vertrag vorlegen konnte, welcher ihr erlaubt, mit der Stadt einen Miet- und Betreuungsvertrag abzuschließen. Wer der Eigentümer des Hauses sei, müsse die Stadt nicht prüfen, so Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst am 7. März 2023 in der Lindenthaler Kirche.
Fest steht lediglich, dass damit dem Vorwurf Raum gegeben wird, dass Mieter und Gewerbetreibende in mehreren Schritten bis spätestens Juni 2023 weichen müssen, um aus Sicht der Kritiker dem besseren Geschäft Platz zu machen.
Dem mit der Unterbringung Geflohener, im Falle der Hauptstraße 50 laut Angaben der von Kador-Probst fünf Familien, welche damit erstmals ein Zuhause außerhalb einer Sammelunterbringung in den 60 bis 70 Quadratmeter großen Wohnungen finden sollen.
Und dieses Geschäft wirkt auf Außenstehende auf den ersten Blick wie ein monströser Geldsegen für den neuen Eigentümer.
Denn oberflächlich betrachtet sind Mietzahlungen der Stadt Leipzig in Höhe von knapp über 400.000 Euro pro Jahr inklusive der notwendigen Betreuung, Versorgung und Beratung der neuen Mieter gegenüber den realistischen Jahres-Miet- und Gewerbemieteinnahmen von rund 40.000 bis 45.000 Euro ein unerklärlicher, zehnfacher Geldfluss.
Einer, der Nachahmer einladen könnte, ihre Häuser zu entmieten, um ins Geschäft mit der Unterbringung von Geflohenen einzusteigen, so das Argument von Gewerbetreibenden in Lindenthal.
In der Realität liegt der eigentliche Mietzins laut Stadt Leipzig bei 8,60 Euro pro Quadratmeter, der Vertrag soll zehn Jahre laufen. Am 15. März 2023 soll der Stadtrat über den Vertrag entscheiden.
Der 7. März 2023 im Ortschaftsrat Lindenthal
Dass auch die Stadtverwaltung bei diesem ganzen Verlauf nicht alles richtig gemacht haben kann, zeigt sich am 7. März 2023 auch in einer Entschuldigung seitens Sozialamtsleiterin Kador-Probst.
In die aufgeheizte, teils von rassistischen Vorurteilen geprägte Stimmung bei den Anwesenden hinein entschuldigt sie sich, nachdem sich der Imbiss-Betreiber Dilo zu Wort meldet.
Er habe keinerlei Unterstützung von der Stadt erhalten, um seinen baldigen Umzug in einen anderen, kleineren Gewerberaum an der Hauptstraße zu realisieren.
Das Johlen mancher rings um die ausländerfeindlich motivierte Initiative „Lindenthal steht auf“ an diesem Abend daraufhin vergisst allerdings, dass die Stadt hier für eine Kündigung seines Ladenmietvertrages in Haftung genommen wird, die sie nicht zu verantworten hat.
Am lautesten schreien die, die am wenigsten verstehen, mancher auch allein aus Gründen, die mit den vertraglichen Eigentümlichkeiten dieses Projektes nichts zu tun haben. Nicht grundlos gibt es Szenenapplaus für eine Mutter, die die Angst ihrer Tochter schildert, auf dem Schulweg vorbei an der Hauptstraße 50 umgebracht zu werden.
Unternehmer Dilo selbst steht offenbar unter Druck, sein Dönerladen scheint bereits unter den Vorgängen zu leiden. Der Vorwurf mancher in Lindenthal gegen ihn: er habe sich bestechen lassen, damit er umzieht.
Am Rande erfährt die LZ, dass manche seinen Laden deshalb neuerdings meiden würden. Weshalb er wohl an diesem Abend öffentlich erklärt, kein Geld erhalten zu haben.
Dennoch verspricht Kador-Probst, dazu mit dem selbst vor einigen Jahren geflohenem Kurden in Kontakt zu treten. Auch hier scheint die Stadtverwaltung bereit, die Folgen einer möglichen Anmietung eines bis heute bewohnten Hauses mitzutragen.
Für die Ergotherapie kann Kador-Probst zumindest verkünden, dass diese bald quer über den Platz ziehen wird, ins Rathaus gegenüber und danach sogar barrierefrei sei. Auf die Frage angesprochen, warum die Stadt die Immobilie nicht selbst erworben hat, weicht Kador-Probst allerdings aus. Ob das Kaufangebot der Stadtverwaltung bekannt war, ist ungeklärt und damit auch, ob die Stadt von dem bewohnten Zustand wusste.
Als es nach über zwei Stunden wieder in den Schneefall vor der Kirchtür geht, bleibt ein schaler Nachgeschmack nicht nur bei dem älteren Herren, der sich nach Ende der Debatte bei Stadtrat Andreas Geisler angesichts der Migrationsfeindlichkeit einiger entrüstet erkundigt, in was für einen Ort er hier gezogen sei.
Weniger wegen den mehr oder minder klaren Lösungen und Antworten, die seitens der Stadtverwaltung zumindest jetzt, zwei Monate nach Beginn der Gerüchte und Geschichten, gegeben wurden.
Mehr wegen eines Ortschaftsrates, der sich angesichts der versammelten Wut der 100 aus 7.000 Lindenthalern weitgehend wegduckte oder gar, wie Stadtrat Claus-Uwe Rothkegel (CDU) seine Unzuständigkeit erklärte.
Wie auch Stadtrat Christian Kriegel (AfD), der gleich mal anbot, doch bei den nächsten Wahlen besser seine Partei zu wählen, versuchte sich Rothkegel so auf die Seite der Empörten zu manövrieren, während die Gemeindevertreter/-innen von Linken und Grünen den ganzen Abend schwiegen.
Der Rest des unguten Gefühls verursachten die teils ausländerfeindlichen Haltungen in der nördlichen Ortschaft Leipzigs mit derzeit einem Prozent migrantischem Bevölkerungsanteil.
Die so mancher mitgebracht hatte, um sie in Sachfragen zu manteln und nicht einmal zur Besinnung kamen, als gegen Ende des Abends klarwurde, dass die Stadt Familien in die Unterkunft lenken will.
Das höhnische Gelächter bei ihnen blieb, ganz gleich, was in der Sache vorgetragen wurde.
Hinzu kommt erneut der Eindruck wie schon 2015/16, dass zu viele Menschen sich durch die Politik der letzten Jahre über deutsche Grenzen hinaus nicht richtig informiert fühlen.
Informationen, die die Realität einer im Wandel begriffenen Welt aufgreifen und klarmachen, dass das Gegenteil einer humanistischen Gesellschaft letztlich Abschottung und Schießbefehle an Grenzen bedeuten.
Hoffen hingegen kann man nur, dass die Lindenthaler die neuen Mitbewohner herzlicher aufnehmen und ihnen so ein angstfreies Leben ermöglichen, als der Abend ahnen ließ. Zudem werden darunter auch Kinder sein, die in die örtlichen Kitas und Schulen gehen möchten.
Mit Stand 15. März 2023 ruft die Initiative „Lindenthal steht auf“ bei Telegram bereits zur Teilnahme an Demonstrationen auf, die durch die rechtsextremen „Freien Sachsen“ unter dem Slogan „Nein zum Heim“ für den Raum Dresden beworben werden. Die Gruppe hat allerdings nur knapp 280 Mitglieder und man ist seit gestern etwas verärgert.
Zur eigenen örtlichen Demo am 13. März kamen nur 70 Menschen.
Nachtrag d. Redaktion: Während der Ortschaftsratssitzung am 7. März 2023 wurde durch den Ortschaftsrat das Fotografieren, Filmen und Mitschneiden der Debatte vollständig für alle Anwesenden untersagt. Deshalb veröffentlichen wir unseren Audio-Mitschnitt nicht, um der unter großem Druck des Publikums ausgesprochenen und dennoch pressefeindlichen Aufforderung im Sinne der Ehrenamtlichkeit von Ortschaftsräten Rechnung zu tragen.
*Die Bevölkerungszahl Lindenthals war in einer früheren Version mit rund 6.600 Wikipedia entnommen. Die Statistik der Stadt Leipizg weist hingegen neuere Zahlen von über 7.000 aus.
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