Das, was da am 14. September im Leipziger Stadtrat passierte, war ein Novum. Während Ulrich Hörning (SPD) und Clemens Schülke (CDU) ohne Probleme ihre (Wieder-)Wahl zum Verwaltungs- bzw. Wirtschaftsbürgermeister bestanden, fiel Dr. Martina Münch auch im zweiten Wahlgang durch. Und das hat seine Gründe nicht nur im Parteienproporz in der Leipziger Ratsversammlung, sondern auch in der Ignoranz gegenüber den Beschäftigten im Dezernat Soziales, Gesundheit und Vielfalt.
Denn Bürgermeisterinnen und Bürgermeister besetzen in Leipzig nicht einfach nur Posten, die sie dann sieben Jahre lang verwalten. Sie müssen Stadtpolitik umsetzen, sind dem OBM genauso verantwortlich wie der Ratsversammlung.
Beschlüsse des Stadtrates sind für sie bindend und es liegt in ihrer Verantwortung, diese dann mit den verfügbaren Mitteln und Leuten auch umzusetzen. Sie müssen aber auch auf soziale und demografische Veränderungen reagieren. Und kaum ein Dezernat hat dabei in den vergangenen Jahren so viele eingreifende Veränderungen abfedern müssen wie das Sozialdezernat.
Aber die Strukturen genügen dem nicht mehr wirklich. Nach 16 Jahren, in denen Thomas Fabian das Dezernat leitete, sind im Grunde deutliche Umstrukturierungen und Lastenumverteilungen notwendig. Es braucht also jemanden an der Dezernatsspitze, der diese Veränderungen gestaltet und nicht bloß die nächsten fünf oder sieben Jahre im Auge hat, sondern das Dezernat tatsächlich zukunftsfähig macht.
Ute Elisabeth Gabelmann ist nicht schuld
Und es waren nicht nur die Grünen, die Dr. Marina Münch diesen Kraftakt nicht zutrauten. Das zeigte das Abstimmungsergebnis am 14. September, als die Kandidatin auch viele Stimmen aus jenen Fraktionen nicht bekam, die sie eigentlich nominiert hatten.
Und das lag nicht an Piraten-Stadträtin Ute Elisabeth Gabelmann, die bei den Freibeutern ausscherte und nicht der Fraktionsmeinung folgte, die Kandidatin zu unterstützen. Öffentlich wurde sie dafür von Fraktionskollegen Sven Morlok (FDP) gescholten.
Aber deutlich verwahrte sie sich in den „Social Media“ gegen diesen stillen Fraktionszwang und betonte genau das, was jetzt auch in einem anonym veröffentlichten Offenen Brief aus der Belegschaft des Dezernats 5 angesprochen wird.
Den Mitarbeiter/-innen des Dezernats geschrieben haben, die mit Sorge auf die nächste Ratsversammlung schauen, wo Martina Münch wieder zur Wahl stehen soll, als wäre das Wahlergebnis vom 14. September nur eine Art Betriebsunfall gewesen und nicht Zeichen dafür, dass die Findungskommission des Stadtrates diesmal keine wirklich gute Entscheidung getroffen hat, die für das Dezernat zukunftsfähig ist.
Der Offene Brief
Offener Brief zur Besetzung der Dezernatsleitung V – ein Desaster in mehreren Akten
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Politiker/Politikerinnen aller Fraktionen,
im Zusammenhang mit der Besetzung der Bürgermeister/der Bürgermeisterin sind (fast) alle zu Wort gekommen, mit Ausnahme von uns Beschäftigten selbst. Wieder einmal mehr zeigt sich in Leipzig, dass es der Verwaltungsspitze bei der Besetzung von Positionen nicht um Kompetenz, sondern um Versorgungsposten, Parteibuch und Aufrechterhaltung des Status Quo geht.
Kolleg/-innen anderer Dezernate wissen es bei der Besetzung von Amtsleitungen in den letzten Jahren sehr gut zu berichten (siehe Amt für Familie als unsere Stimmen der Belegschaft 2014 auch nicht gehört wurden). Wir steuern (bewusst) wieder in die Handlungsunfähigkeit.
Wir arbeiten alle sehr viele Jahre in unterschiedlichen Ämtern des heutigen Dezernates V und der Stadtverwaltung. Es reicht uns. Auf unseren Rücken werden politische Fehlentscheidungen ausgetragen. Mit Spannung haben wir auf die Neubesetzung der Bürgermeister/Bürgermeisterinnen gehofft. Wir wissen, dass es schwer ist, derartige Entscheidungen zu treffen und es am Ende immer ein politischer Kompromiss ist.
Das absolute Paket kann es nicht geben. Aber es ist genau die Kompetenz, die wir uns von Verwaltung und Politikspitze versprechen, genauso wie wir rechtssichere Verwaltungsverfahren und eine immer zufriedenstellende Bürgerfreundlichkeit sicherstellen müssen. Offensichtlich haben jedoch viele Politiker/Politikerinnen fraktionsübergreifend, von ganz links bis ganz rechts erhebliche Zweifel an der Fähigkeit von Dr. Münch geäußert.
In den Medien war zu lesen, sie sei eine ausgewiesene Sozialpolitikerin. Alleine ihr Werdegang lässt dies jedoch zumindest nicht für unseren Fachbereich erkennen. So bedauerlich die Wahlgänge für Frau Dr. Münch auch persönlich waren, so bedauerlich ist die Tatsache, dass mit allen Mitteln des politischen Parketts versucht wird, eine Personalie durchzusetzen, die offensichtlich nicht gewollt und nicht mehrheitsfähig ist.
Sie hat bereits an Ansehen verloren, bevor sie überhaupt die Stelle antritt. Dies schadet Frau Dr. Münch, der Verwaltung und damit unseren Zielgruppen. Aus dem Rathaus tönt lautes Gelächter und kopfschüttelndes Unverständnis bei allen Gesprächen zu diesem einmaligen Vorgang. Es heißt, auf Wunsch des OBM werden zur Vorbereitung eines dritten Wahlgangs Probeabstimmungen in den Parteien durchgeführt, Verhandlungen und Diskussionen absolviert bis es passt.
Dies ist ein Schaden für die Demokratie und für unsere Arbeit. Kommende Woche soll in der Ratsversammlung zum dritten und wahrscheinlich vierten Mal abgestimmt werden. Absolutes Unverständnis für die erneute Wahl herrscht in weiten Teilen der Belegschaft.
Wir sehen abermals: Ein Bezug zu Leipzig ist wieder bei der Besetzung von Spitzenpositionen nicht gegeben. Die sozialen Härten und das soziale Milieu in Leipzig überhaupt nicht bekannt, wird eine Person präsentiert, die das schon „irgendwie machen will“. Selbst wenn sie wollte, sie kann dies nach den ersten Wahlgängen nicht im Ansatz realisieren.
Leipzig ist anders. Leipzig hat andere Problemlagen als Cottbus oder die Landesebene. Wie viel Innovationskraft dürfen wir Beschäftigten denn erwarten, wenn kurz vor Renteneintritt diese Position angetreten wird? Wie langfristig können wir als Beschäftigte mit dieser Person planen?
Nachdem sich zwei Jahre eingearbeitet wurde, gilt es ab Jahr drei umzusetzen und dann den Ausstand vorzubereiten. Das reicht in Leipzig bei den Herausforderungen wegen Corona, Ukraine, steigenden Flüchtlingszahlen, gesundheitspolitischen Krisen, angespannte Wohnungs- und Sozialpolitik in Leipzig, völlig überarbeitetem und fehlendem Personal und den offenen Baustellen sowie den Krisen der Zukunft in unseren Verwaltungen bei weitem nicht. Die 1990er sind vorbei.
Durch den fehlenden inhaltlichen Bezug, auch zu Leipzig, kann sie kaum Strukturen und auch nicht die Stadtgesellschaft kennen. Ein Bezug nach Leipzig ist nicht erkennbar. Es ist keine Kritik an der Person Frau Dr. Münch selbst, vielmehr an der Verwaltung und der Politik, die den Blick für das Wesentliche wieder einmal verloren hat: die Menschen, für die wir Überstunden machen, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen und für uns Belegschaft, die eine Führung mit Leitlinien und Visionen brauchen.
Auch die deutliche Kritik aus dem Stadtrat wird nicht gehört – im Gegenteil. Es war nicht die Ablehnung der AfD oder der Grünen, vielmehr eine übergreifende Ablehnung aller Parteien, die zu diesem Ergebnis für Frau Dr. Münch führten. Es gab parteiübergreifend schlicht keine Mehrheit, weil große Zweifel bestehen.
Mit allen Mitteln wird nach Medieninformationen und gemäß Tagesordnung des Stadtrates im Oktober ein dritter und vierter Wahlgang durchgesetzt, gefeilscht und getrickst, damit etwas beschworen wird, was nicht hätte sein sollen.
Die Verwaltung und Politik leistet mit der erneuten Kandidatur auch für Frau Dr. Münch einen Bärendienst und sorgt für die falschen Vorboten. Auch für die Demokratie ist dieses Agieren mehr als schädlich. Wir können Verwaltungsspitze und Politik nicht mehr ernst nehmen.
Wir werden keinen Einfluss auf die Wahl haben, aber wir wollen nicht nur hinter vorgehaltener Hand unsere Kritik zum Ausdruck bringen, sondern das, was seit Wochen auf den Fluren im Rathaus kritisiert wird, aussprechen. Diese Entscheidungen sind einfach nur frustrierend, schaden Leipzig und damit auch uns – ein Desaster und Führungsversagen mit Ansage.
Verlassen Sie Ihren Sitzungssaal und sprechen Sie auch mit den Beschäftigten, welche die Konsequenzen Ihres politischen Taktierens tragen müssen.
Wir wünschen uns, dass künftig mehr nach den Interessen der Leipzigerinnen und Leipziger, Kompetenz und weniger nach Parteibuch und persönlichen Seilschaften der Stadtspitze gehandelt wird und die Belegschaft mit eingebunden wird.
Mit freundlichen Grüßen
Belegschaft
Es gibt 2 Kommentare
Mutig von den Beschäftigten das offen anzusprechen, müssen sie doch mit Sanktionen rechnen, falls die Kandidatin diesmal durch den Stadtrat durchgeschleift werden kann.
Kommt mir aus meiner Jugend bekannt vor. Die Führung bestimmt was die Abgeordneten zu wählen haben.