Beim ersten Mal reagierte das Leipziger Ordnungsamt tatsรคchlich ganz bรผrokratisch und lehnte den Antrag โAufenthaltsbeendende Maรnahmen durch die Auslรคnderbehรถrde Leipzig reduzierenโ einfach ab โ er sei rechtlich nicht gรผltig. Ein Unding, fand sogar FDP-Stadtrat Sven Morlok, der darauf auch OBM Burkhard Jung direkt ansprach. Ein menschlicher Appell wird einfach wegen Rechtsungรผltigkeit abgelehnt?
Da wรคre dann auch das Leipziger Ordnungsamt genau da, wo verbitterte sรคchsische CDU-Innenminister schon lange sind, die europรคische Flรผchtlingsabwehr Frontex oft genug auch, und die AfD sowieso, fรผr die am 15. Mรคrz natรผrlich Stadtrat Roland Ulbrich ans Rednerpult schritt. Um dann lang und breit zu erklรคren, dass der Wunsch des Leipziger Migrantenbeirats, die sรคchsische Auslรคnderpraxis ein bisschen menschlicher zu machen, vรถllig unangemessen und im Rahmen staatlicher Weisungsaufgaben รผberhaupt nicht umsetzbar wรคre.
Warum agieren einige Auslรคnderbehรถrden gnadenloser als andere?
Doch die simple Wahrheit ist: Auch die sรคchsische Asylgesetzgebung hat Ermessensspielrรคume โ sogar gesetzlich genau so definiert, dass Menschen, denen im Herkunftsland staatliche Sanktionen drohen, die in Ausbildung stehen oder gar in Arbeit, die schwer erkrankt sind oder aus anderen humanitรคren Grรผnden nicht abgeschoben werden dรผrfen, ein Bleiberecht bekommen. Das ist zwar noch kein Asyl, aber es schรผtzt sie davor, an einen Ort verfrachtet zu werden, an dem ihre รberlebenschancen massiv beeintrรคchtigt sind.
Dass sich Sachsen daran viel zu oft nicht hรคlt, machen die vielen Nacht-und-Nebel-Abschiebungen deutlich, bei denen Menschen einfach von der Polizei aus dem Bett geholt werden, ihre Kinder direkt aus Kitas und Schule, Auszubildende direkt aus ihren Betrieben. Sinn ergibt das Ganze nicht. Es reiรt dafรผr Familien auseinander und verbreitet gerade in den Asylunterkรผnften Angst und Schrecken.
In einer solchen hat Mohamed Okasha, Sprecher des Leipziger Migrantenbeirates, selbst eine Zeit lang gearbeitet. Er weiร, wie sich der Schrecken รผber die Menschen in so einer Einrichtung legt, wenn โwieder etwas passiert istโ, wenn wieder Menschen einfach so abgeholt wurden, um weggeschafft zu werden. Und das nicht einmal in Erfรผllung eines ohnehin schon rigiden Gesetzes, sondern einfach, weil sich verschiedene Auslรคnderbehรถrden einfach mal ein paar โFรคlleโ vom Hals schaffen wollen.
Wenn Sachbearbeiter ihre Menschlichkeit ausschalten
Denn das wurde sowohl in Mohamed Okashas Rede zum Antrag des Migrantenbeirats als auch in der von Linke-Stadtrรคtin Juliane Nagel und FDP-Stadtrat Sven Morlok deutlich: Es geht hier um Menschlichkeit. Und es betrifft nicht nur die Asylgesetzgebung. Sachbearbeiter haben immer Entscheidungsspielrรคume, die vorgetragenen Grรผnde der Antragsteller wohlwollend zu prรผfen und anzuerkennen โ oder sich stur zu stellen. So trocken ihr Job scheint, jeder Einzelne steht tatsรคchlich vor menschlichen Entscheidungen.
Und es macht einen gewaltigen Unterschied, ob einer die Argumentationsmuster von CDU und AfD im Kopf hat und in Flรผchtlingen vor allem eine Gefahr fรผr den schรถnen Wohlstands-Staat Deutschland sieht. Oder ob die Sachbearbeiterin den Menschen im Antragsteller respektiert und seine Grรผnde, in Deutschland Asyl und Aufenthaltsrecht zu beantragen, versteht und wรผrdigt.
Leipzig kรถnnte ein Vorbild sein fรผr den humaneren Umgang mit Antragstellern
Was der Migrantenbeirat sich tatsรคchlich wรผnschte, war nicht mehr als eine Beauftragung des Oberbรผrgermeisters, in Dresden dafรผr zu sorgen, dass auch die anderen Auslรคnderbehรถrden in Sachsen die gesetzlich mรถglichen Spielrรคume im positiven Sinn nutzen.
โMit Ziffer 1 a) bis 1 c) wird der Oberbรผrgermeister beauftragt, sich auf der Landesebene fรผr den effektiven Rechtsschutz vollziehbar ausreisepflichtiger Menschen einzusetzen. Progressive Erlasslagen anderer Bundeslรคnder zu den in 1a) genannten, aufenthaltsrechtlichen Bleiberechtsoptionen lassen sich beispielsweise in Bremen oder Niedersachsen findenโ, heiรt es im Antrag des Migrantenbeirats.
โLeipzig kann durch seine Vorreiterrolle in Sachsen bei der Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnisse auch auf Landesebene darauf hinwirken, dass auch in Sachsen mehr und mehr Menschen ihren Aufenthalt legalisieren kรถnnen. Der Sachzusammenhang fรผr Leipzig greift hier unter anderem deshalb, weil zahlreiche Menschen in Leipzig arbeiten, fรผr die zwar eine andere Auslรคnderbehรถrde in Sachsen zustรคndig ist, deren Beschรคftigung jedoch bei einem Leipziger Unternehmen erlaubt ist.โ
Weshalb es ja auch in Leipzig immer wieder zu solchen nรคchtlichen Abholaktionen kommt, obwohl die betroffenen Menschen in Ausbildung und Arbeit sind.
Was dann irgendeinen Sachbearbeiter etwa in Chemnitz nicht die Bohne interessiert โ er gibt die Akte an die Polizei ab, die dann mitten in der Nacht in Leipzig auftaucht und โvollstrecktโ.
Wer schafft die โFantasiepapiereโ ab?
Gleichzeitig hatte der Migrantenbeirat beantragt: โMit Blick auf 1c) stรคrkt der Stadtrat Leipzig den OBM in seiner Stellung gegenรผber dem Sรคchsischen Staatsministerium des Inneren, sich auf politischem Wege dafรผr einzusetzen, den rechtlich nicht unumstrittenen Erlass รผber die Fantasiepapiere / โBescheinigungen รผber den vorรผbergehenden Aufenthalt ohne amtliches Aufenthaltsdokumentโ zu streichen. Gleichzeitig wird der Stadt mit 2.) auch ein von der sรคchsischen Staatsregierung unabhรคngiger Weg der juristischen Klรคrung รผber eine Normenkontrollklage erรถffnet.โ
Nach der rigiden und eigentlich unverstรคndlichen Ablehnung durch das Ordnungsamt hatte der Migrantenbeirat seinen Antrag neu formuliert.
Und diesmal lehnte das Ordnungsamt nicht rigoros ab, sondern formulierte einen Alternativvorschlag, der unter anderem erklรคrt, warum eine Abschaffung der โFantasiepapiereโ so einfach nicht mรถglich ist:
โGrundsรคtzlich wird auf den Verwaltungsstandpunkt Nr. VII-A-06348-VSP-01 verwiesen. Gegenรผber der Landesdirektion Sachsen verdeutlichte die Leipziger Auslรคnderbehรถrde in der Vergangenheit bereits, dass aus deren Sicht eine Beendigung des sรคchsischen Sonderwegs im Umgang mit der o. a. Bescheinigung zu prรผfen ist.โ
โInwieweit das Sรคchsische Staatsministerium des Innern in der Vergangenheit initiativ wurde, eine bundesweite Regelungslage im Aufenthaltsrecht herbeizufรผhren bzw. einen amtlichen Vordruck in der Aufenthaltsverordnung einzufรผhren, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Die Bewertung der Leipziger Auslรคnderbehรถrde kann auch durch den Oberbรผrgermeister ggรผ. dem Sรคchsischen Stรคdte- und Gemeindetag kommuniziert werden. Dies รคndert allerdings nichts daran, dass die Auslรคnderbehรถrde den Erlass weiterhin umzusetzen hat.โ
30 Jahre Murks
Man merkt schon, dass auch in Leipzigs Auslรคnderbehรถrde eine gewisse Unzufriedenheit gรคrt mit dem Murks, den deutsche Innenminister in der Asylgesetzgebung seit 30 Jahren angerichtet haben, um den Ressentiments der lauten deutschen Rechten immer wieder ein Stรผck entgegenzukommen. Wer diesem rechten Geraune folgt, landet bald bei einer bรผrokratischen Entmenschlichung der Personen, die sich eigentlich nur die Chance auf ein neues Leben in Frieden und Freiheit erhoffen, dann aber in diesen ganzen Zumutungen verbissener Grenzwรคchter zermahlen und entmutigt werden.
Ansonsten hatte das Ordnungsamt diesmal nichts dagegen, dass der OBM beim Deutschen Stรคdtetag und beim sรคchsischen Innenminister vorstellig wird, damit wenigstens die positiven Ermessenspielrรคume, die das Asyl- und Auslรคnderrecht bietet, auch angewandt werden. Was in Sachsen mit einem Erlass des Innenministers bewerkstelligt werden kรถnnte.
Ob der den Mumm hat, das zu tun, ist freilich vรถllig offen. Denn am 15. Mรคrz enthielt sich auch die CDU-Fraktion im Stadtrat der Stimme, wรคhrend die AfD mit dem bรผrokratischen Erklรคrmuster eines Roland Ulbrich dagegen stimmte, obwohl Okasha ja extra den eh schon sehr abgemilderten Verwaltungsstandpunkt zur Abstimmung gestellt hatte, bei dem kein Mensch weiร, ob OBM Burkhard Jung dabei in Dresden oder Berlin irgendetwas an einer 30 Jahre alten Verkrustung รคndern kann.
Letztlich gab es zumindest ein deutliches Abstimmungsergebnis mit 34 Stimmen fรผr den Verwaltungsstandpunkt, zehn Gegenstimmen und zehn Enthaltungen.
Die Debatte vom 15. Mรคrz
Video: Livestream der Stadt Leipzig
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Seit der โCoronakriseโ haben wir unser Archiv fรผr alle Leser geรถffnet. Es gibt also seither auch fรผr Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. รber die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.
Unterstรผtzen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tรคgliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikรคufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den tรคglichen, frei verfรผgbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit fรผr Sie.
Vielen Dank!
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher