26. September 2021, 18 Uhr, Neues Rathaus und lange Gesichter in der Oberen Wandelhalle, als die Ergebnisse der ersten Leipziger Wahllokale eingeblendet werden. Während alle über mögliche Koalitionen in Berlin nachdenken, bangt Die Linke mit gerade noch 13,7 Prozent in Leipzig längst um ihr parlamentarisches Überleben im Bundestag.
„Maximal zwei Direktmandate in Berlin“, so Linken-Stadtvorstand Adam Bednarsky am Rande der Auszählungen zur LZ über die Ahnung, dass es das Erststimmenergebnis von Sören Pellmann im Leipziger Süden sein könnte, welches der gesamtdeutschen Linken am Ende 39 Bundestagsmandate rettet.Seit Montagmorgen ist dann klar: Nach einem rasanten Fall um Minus 4,3 Prozent auf 4,9 Prozent Parteistimmen gegenüber 2017 haben noch rund 2,27 Millionen Wähler/-innen aufgrund der Grundmandatsregel eine linke Repräsentanz im Bundestag. Dank der rund 125.000 Wähler/-innen von Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Sören Pellmann gelten die Zweitstimmenprozente wieder. Und weil die sonstigen Parteien wegfallen, hat die Linke damit 5,3 Prozent im Parlament oder eben 39 Sitze von insgesamt 735 im 20. Bundestag. Damit ist sie die kleinste, aber vollwertige Fraktion, die überhaupt erst ab 37 Mandaten möglich ist.
Warum Sören Pellmann derzeit zu einem gefragten Gesprächspartner, medial wie parteiintern und bereits als neuer möglicher Fraktionschef gehandelt wird, zeigt auch ein Blick auf seine geringen Verluste. Während Gregor Gysi mit einem Minus von 4,4 Prozent im Korridor der Parteiverluste liegt, ist Gesine Lötzsch mit Minus 9,1 deutlich drüber und nur Pellmann mit seinen 2,5 Prozent weniger im Vergleich zu 2017 deutlich unterhalb der 4,3 Prozent.
Zudem ist der 1977 geborene Leipziger der jüngste der drei Direktwahlsieger und wie er selbst betont „in der Kommunalpolitik verankert“.
„Blumen und Tränen“ in Berlin
Telefonzeit Mittwochmorgen, Pellmann wirkt aufgeräumt. „Es hat Blumen und Tränen gegeben“ und noch keine Wahlen zu Fraktionsvorsitzen, beschreibt er die Stimmung beim gemeinsamen Treffen etwa 60 neuer und ausscheidender Abgeordneter am Dienstag im Bundestag. Und das Eingeständnis mancher Parteikolleginnen, dass die, die 2017 ihn für sein Festhalten am Stadtratsmandat in Leipzig belächelt haben, heute anders darüber denken.
Fast 2 Millionen Wähler/-innen kamen der Linken bei den Wanderungsbewegungen zwischen den Parteien und den Nichtwählerinnen abhanden, besonders neben Verlusten im Osten vor allem in Westdeutschland, wie in NRW, wo, so Pellmann „fast so viele Menschen leben wie in ganz Ostdeutschland und es von 6,9 auf 3,8 Prozent für uns runterging“. Dort habe man teilweise selbst in innerlinken Strukturen die rot-rot-grüne Regierungsbeteiligung nicht gewollt, „die bereits vor der Wahl laut ausgesprochenen Kompromissvorstellungen haben hier eher geschadet“.
Nach den ersten Analysen befragt, vergleicht er gegenüber LZ die Situation 2021 für die Linke mit der 2002. Damals verpasste die Linke sogar den Einzug in den Bundestag, weil die Kanzler-Frage zwischen Edmund Stoiber oder Gerhard Schröder derart polarisierte, dass es darüber die Linke auch ganz ohne eine heute existierende AfD zerrieb.
Damals wie heute, so Pellmann „war das die Frage der letzten Wochen. Armin Laschet zu verhindern, war ein starker Grund, warum unsere Wähler/-innen mit der Zweitstimme die SPD und damit Olaf Scholz gewählt haben.“ In der Tat hat die Linke den größten Wählerverlust Richtung SPD erlebt, 590.000 Menschen mehr setzen nun ihre Hoffnung in eine Regierung der Sozialdemokraten. Dicht gefolgt von 470.000 Wähler/-innen, die laut INSA-Wählerwanderung dieses Mal bei den Grünen ihr Kreuz machten.
Ebenso mächtig waren drei weitere Bewegungen der linken Wählerschaft, welche sich in 250.000er Größenordnung Richtung der sonstigen Parteien von Team Todenhöfer, MLPD, Die PARTEI bis zur „Basis“ abspielten, der Verlust von 370.000 Menschen, die gar nicht mehr wählten und 110.000, die als einziger Zufluss für diese Partei zur AfD wechselten.
Der Einbruch von 2019 in Sachsen und die kommenden vier Jahre
Überraschend kam die Gesamtentwicklung für Pellmann dennoch nicht, bereits der linke Einbruch bei den sächsischen Landtagswahlen 2019 habe ihn alarmiert. „Da hatte sich unsere Landtagsfraktion nahezu halbiert“, weshalb Pellmann danach vor allem in jene Gegenden Sachsens gefahren sei, „wo schon 2009 die NPD stark und nun die AfD dominant gewählt wird“.
Dort sei mit den Leuten im Gespräch klar geworden, dass es außerhalb der urbanen Zentren Sachsens tatsächlich jene Gegenden gibt, wo „sich die Menschen vergessen fühlen. Kein Bus, keine Schule, keine Zukunft“. Hier ist der Gedanke verschwunden, dass Politik überhaupt etwas löst, was dann das Wahlkreuz egal erscheinen lässt. Erfahrungen, die er bereits 2021 in den Wahlkampf einfließen ließ. „Wir müssen als Linke die verschiedenen Milieus nicht nur ansprechen, sondern wieder lernen, mit ihnen zusammenzuarbeiten.“
Der Draht zwischen den Gewerkschaften und der Linken sei zudem gerissen, „wir haben als Partei die geringsten Zustimmungswerte bei den Arbeitern“.
Dominierend neben diesen Effekten bleibt jedoch die Wanderung einer Million linker Wähler hin zu zwei eher progressiven Parteien, die sie näher an der Regierungsverantwortung sahen. Und die selbst im Wahlkampf betonten, gern als Rot-Grün ohne das zweite Rot regieren zu wollen. Nun jedoch ist aus Sicht Pellmanns bei den anstehenden Gesprächen zwischen Grünen, SPD und FDP „die FDP die Grenze“ dessen, was von den rot-grünen Wahlversprechen überhaupt machbar sei.
„12 Euro Mindestlohn, die Angleichung der Löhne zwischen Ost und West, die von uns abgeschriebene Kindergrundsicherung und vor allem der Mietendeckel und die Steuerentlastung für kleinere und mittlere Einkommen – ich sehe nicht, wie das mit der FDP zusammengehen soll“, so Pellmann.
Denn bei den Steuern habe die FDP eher vor, durch angeglichene Steuersätze angebliche Gleichbehandlung zu erreichen, in Wahrheit aber die oberen Einkommen und Vermögen zu entlasten. „25 Prozent von 1.000 Euro Einkommen sind halt weniger als 25 Prozent von 100.000 Euro“, so Pellmanns Überschlag der liberalen Vorstellungen vor den Koalitionsgesprächen der Ampel. „Auch einen Mietendeckel wird es mit der FDP nie geben“, so Pellmann, der sogar eine Kanzlerschaft Söders statt Laschets derzeit nicht für ausgeschlossen hält.
Mit Blick auf die kommenden vier Jahre im Bundestag steht für Sören Pellmann derzeit vor allem ein linkes Arbeitsziel fest. „2025 muss jedem klar sein, was alles mit Rot-Rot-Grün möglich wäre“.
„Wie weiter, Herr Pellmann? Eine Richtungswahl begräbt beinah die Linke im Bund“ erschien erstmals am 1. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 95 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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