Leipzig möchte der Todesopfer rechter Gewalt würdevoll gedenken. Das hat der Stadtrat am Mittwoch, den 17. Juni, mit großer Mehrheit beschlossen. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Aus den Reihen jener, die dagegen stimmten – der AfD –, gab es einen Redebeitrag, der die Opfer verhöhnte, rechte Gewalt verharmloste und die Mitglieder der anderen Fraktionen sicht- und hörbar erschütterte. Diese äußerten sich anschließend in seltener Deutlichkeit und Einigkeit.
Nach Zählung der antirassistischen Amadeu-Antonio-Stiftung haben Rechtsradikale seit 1990 mehr als 200 Menschen in Deutschland umgebracht – davon sechs in Leipzig. Laut dem lokal aktiven „Initiativkreis Antirassismus“ gibt es in Leipzig sogar acht Todesfälle mit rechter Tatmotivation und zwei weitere „Verdachtsfälle“. Der bislang letzte Fall datiert vom 24. Oktober 2010, als zwei Neonazis am Hauptbahnhof aus rassistischen Gründen den Iraker Kamal Kilade töteten.
Was bislang fehlte, war ein städtisches Gedenken an diese Opfer. Es gibt zwar immer wieder Demonstrationen und einige Gedenksteine – aber all das basiert auf dem Engagement antirassistischer Akteur/-innen aus der Gesellschaft.
Die Linksfraktion beantragte deshalb, dass die Stadt für diese Todesopfer ein „würdiges Gedenken“ organisieren soll. Dieses soll Gedenktafeln, Veranstaltungen und eine Thematisierung im Stadtgeschichtlichen Museum beinhalten. Die Angehörigen der Opfer sollen in dieses Gedenken einbezogen werden.
Linke-Stadträtin Juliane Nagel argumentierte in der Ratsversammlung am Mittwoch, den 17. Juni, dass Leipzig mit acht Ermordungen die Stadt in Sachsen mit den meisten rechtsmotivierten Morden von gesamt 19 sei. Die Fälle mit rassistischem Hintergrund habe der Staat offiziell als rechtsmotiviert anerkannt. Doch wenn Homofeindlichkeit oder Sozialdarwinismus eine Rolle spielten, sei die Lage anders.
So ist beispielsweise der am 23. Juli 2008 von einem Neonazi auf einer Parkbank zu Tode geprügelte Obdachlose Karl-Heinz Teichmann offiziell kein Todesopfer rechter Gewalt – obwohl selbst der Verteidiger des Mörders von einer „Tat mit rechtem Hintergrund“ sprach. Ähnlich ist es beim homosexuellen Bernd Grigol, der am 8. Mai 1996 auf offener Straße von Neonazis mit Schlägen, Tritten, Stichen und einem Ziegelstein ermordet wurde.
„Moralisch höherstehende Edeltodesopfer“ nannte Roland Ulbrich diese Menschen heute, knapp 25 Jahre später im Leipziger Stadtrat und meinte es offenkundig höhnisch. Der AfD-Politiker warf der Linksfraktion vor, die Todesopfer rechter Gewalt aus politischen Gründen bevorzugt zu behandeln – im Gegensatz etwa zu angeblichen „Opfern von Antifaterror“.
Fakt ist, dass es in Leipzig seit 1990 keine Todesopfer antifaschistischer Gewalt gibt. Den Angriff auf eine Polizeiwache in Connewitz vor fünf Jahren, bei dem zwei Beamte zumindest psychische Schäden erlitten, stellte Ulbrich im Vergleich zu den von Neonazis ermordeten Menschen als schlimmer dar. Und behauptet gar, die Angreifer hätten versucht in die Polizeiwache einzudringen, um die Beamten zu töten. Zudem rechnete er dem versammelten Stadtrat Leipzigs vor, dass es „nur“ 0,33 Todesopfer rechter Gewalt pro Jahr gewesen seien.
Für diese Rechnung erhielt er später eine Mahnung durch Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD).
Auch die angeblich durch „illegal eingewanderte“ und „kulturell inkompatible“ Personen getöteten Frauen erwähnte Ulbrich. Ein Wort des Mitleids oder Bedauerns für jene Opfer oder deren Angehörige, um die es im Antrag eigentlich ging, hörte man hingegen nicht. „Unsinnig“ sei der Antrag, so Ulbrich, weshalb ihn seine Fraktion „selbstverständlich“ ablehnen werde.
Es folgt eine Welle der Empörung, die von der Linksfraktion bis zur CDU reichte. Als „widerlichen und demaskierenden Beitrag“ bezeichnet die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Krefft die Rede des AfD-Stadtrates. Sie sei froh, dass die Mutter des ermordeten Kamal Kilade das nicht hören musste, ergänzt Juliane Nagel. CDU-Stadtrat Michael Weickert erklärt, dass die AfD damit „den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ verlasse und kein Partner für seine Partei sein könne.
„Es geht hier langsam unanständig zu“, erkannte auch Stadtrat Christian Kriegel (AfD), meint damit allerdings nicht das Verhalten seiner Fraktion oder Ulbrichs, sondern angeblich unberechtigte Vorwürfe aus anderen Fraktionen.
CDU-Stadträtin Andrea Niermann richtete sich anschließend an Oberbürgermeister Jung und fordert diesen dazu auf, künftig „sofort einzugreifen, wenn hier Tote aufgerechnet werden“. Gegenüber Ulbrich, der als Rechtsanwalt ähnlich wie Richterin Niermann eine juristische Ausbildung durchlaufen habe, zeigte die CDU-Politikerin Fassungslosigkeit auch innerhalb des Berufsstandes.
Dass diese Rede Ulbrichs kein einmaliger Ausrutscher war, erklärt kurz darauf FDP-Stadtrat Sven Morlok. Er erinnert daran, dass der gebürtige Düsseldorfer den versuchten Massenmord in einer Synagoge in Halle im vergangenen Oktober als „Sachbeschädigung“ an einer Tür verharmlost hatte.
Dass es sich nicht um eine „normale“ Provokation aus der AfD-Fraktion handelte, sondern um eine besonders abstoßende Wortmeldung, zeigt sich auch in den sozialen Medien, wo Juliane Nagel noch Stunden später erklärt, „sprachlos“ zu sein, und der grüne Stadtrat Martin Meißner schreibt, dass ihn „noch keine Rede im Stadtrat so wütend gemacht“ habe wie diese.
Der Verlauf der Diskussion stellt sich am Ende auch im Abstimmungsergebnis dar. 50 Stadträt/-innen stimmen für den von der Linksfraktion übernommenen Verwaltungsstandpunkt, der ein „zeitgemäßes Gedenken“ unter Einbeziehung verschiedener Akteur/-innen vorsieht. Die AfD stimmt – wie angekündigt – gegen ein würdiges Gedenken für die Todesopfer rechter Gewalt in Leipzig.
Die Debatte vom 17. Juni 2020 im Leipziger Stadtrat
Video: Livestream der Stadt Leipzig
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