Die Landtagswahl ist zwar Geschichte. Aber nicht nur bei SPD und Linken diskutiert man darüber, warum man nicht besser abgeschnitten hat. Das Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig hat jetzt auch die Daten zu Wahlbeteiligung und Stimmenanteilen in den Wahlbezirken veröffentlicht. Schon am 1. September war ja deutlich, dass mit einer Wahlbeteiligung von 65,1 Prozent die Werte der vorherigen Wahlen deutlich übertroffen wurden.

2014 haben z. B. nur 44,3 Prozent der Leipziger an der Landtagswahl teilgenommen. Was eben auch bedeutet: Nach Jahren des Rückgangs der Wahlbeteiligung hat gerade die Frage, ob die AfD in Sachsen die Wahl gewinnt, viele Wähler mobilisiert, die das ganz und gar nicht gleichgültig ließ. Und der Blick auf die Wahlbeteiligung im Stadtgebiet zeigt auch, dass die Bewohner etlicher Ortsteile diesen Wahl-Kampf besonders ernst nahmen. Und zwar nicht nur in den Dörfern am Stadtrand, wo es der AfD augenscheinlich gelang, jede Menge Wähler für sich zu gewinnen, die für die seltsamen Heimatlandparolen besonders aufgeschlossen waren, sondern besonders in innerstädtischen Ortsteilen, wo insbesondere Grüne und Linke punkten konnten.

Die höchsten Wahlbeteiligungen gab es mit 82,6 Prozent in Schleußig und 79,1 Prozent in der Südvorstadt.

Wahlergebnisse der CDU am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen
Wahlergebnisse der CDU am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen

Deutlich wird auch in Leipzig das Auseinanderdriften der Milieus. Während die Stadtränder zunehmend den Denkweisen der AfD folgen, konzentrieren sich im Stadtinneren die modernen, eher linken Milieus, die vor allem steigende Wahlergebnisse für Bündnis 90/Die Grünen bedeuten.

Seit 1999 haben die Grünen in Leipzig ihr Landtagswahlergebnis permanent von 4,9 auf inzwischen 18,2 Prozent gesteigert. Damit haben sie 2019 erstmals auch die Linke hinter sich gelassen, die lange Zeit mit über 20 Prozent die Nr. 2 in Leipzig war. Woran es lag, dass die Linke in diesem Jahr von 22,6 auf 15,9 Prozent absackte, ist auch für die Linke selbst ein Rätsel und es hat auch ganz gewiss mehrere Ursachen.

Wahlergebnisse der Grünen am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen
Wahlergebnisse der Grünen am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen

Eine davon ist natürlich, dass auch die Leipziger sehr wohl mitbekommen haben, dass sich der 2019er Wahlkampf in Sachsen auf die Frage zuspitzte: Überholt die AfD die CDU und wird damit Wahlsieger? Auch viele Wähler ticken ja so, wie es sich Zeitungskommentatoren gern wünschen: Sie wollen das Schlimmste verhindern.

Also geben sie ihre Stimme nicht der Partei, die sie in ruhigeren Zeiten gewählt hätten, sondern der, die dieses Schlimmste verhindern könnte. Das war in Sachsen die CDU, die am Wahlabend nicht nur erstaunlich viele Nichtwähler mobilisieren konnte, denen ganz und gar nicht egal war, wer in Sachsen regiert. Sie bekam auch – wie die „Spiegel“-Analyse dazu zeigte – eine Menge Stimmen von Wählern der SPD und der Linken. Und zwar sogar mehr, als die AfD der Linken abjagen konnte.

Wahlergebnisse der AfD am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen
Wahlergebnisse der AfD am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen

Da kann man natürlich – wie es die großen Zeitungen alle getan haben – darüber orakeln, ob die AfD nun anstelle der Linken zur neuen Ostpartei geworden ist.

Aber trifft nicht eher eine ganz andere Interpretation zu? Die AfD wurde zur Partei der abgehängten Regionen? Auch in Sachsen. Dort punktet sie mit simplen Ressentiments, suggeriert den dort Zurückgebliebenen, eine Politik nur noch für die Eingeborenen könnte alles wieder gutmachen. Motto: Grenzen dicht, Ausländer raus, dann wird auch für die Bewohner in den Randregionen Deutschlands wieder alles gut, darf das Selbstbewusstsein wieder wachsen. Ein Buhlen um Wählergunst, das natürlich davon profitiert, dass die regierende CDU bis heute keine Idee hat, wie sie die ländlichen Regionen wieder stärken kann.

Denn die neuen Arbeitsplätze und die noch funktionierenden Infrastrukturen findet man in den Großstädten. Dort, wohin auch die jungen Leute aus den Provinzen ziehen, weil hier das Angebot qualifizierter Arbeitsplätze noch existiert. Und auch noch eine demokratische Debatte bis in die Medien hinein. Wer anders denkt, lebt und liebt, muss nicht damit rechnen, öffentlich diskriminiert zu werden und jeden Tag Spießruten zu laufen in einer Dorfgemeinschaft, in der die Müden, Frustrierten und Verbissenen immer mehr unter sich bleiben.

Wahlergebnisse der Linken am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen
Wahlergebnisse der Linken am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen

Das Abrutschen sächsischer Landkreise in eine zunehmend menschenfeindliche Stimmung hat ja nicht erst 2013 mit dem Aufkommen der AfD begonnen. Das begann schon früher.

Und es hat sich verschärft seit 2015, seit klar ist, dass Deutschland sich aus den negativen Entwicklungen in der Welt nicht mehr heraushalten kann.

Tatsächlich gerät das sächsische Heimatland-Modell von allen Seiten unter Beschuss. Und ein Viertel der Sachsen reagiert darauf mit purer Abwehr: Wollen wir nicht! Schafft uns das vom Hals!

Was nicht nur die Flüchtlinge betrifft, die auch in Sachsen Aufnahme finden, sondern längst auch alle Folgen des Klimawandels.

Wahlergebnisse der SPD am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen
Wahlergebnisse der SPD am 1. September. Karte: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen

Übrigens der größte Hinkefuß der CDU, die den Wählern noch immer versucht weiszumachen, dass man keine Windkraft braucht und die Kohle-Arbeitsplätze noch bis 2038 erhalten bleiben, dass also das Kohleland Sachsen irgendwie noch eine Extrawurst braten kann, wenn es um die Folgen des Klimawandels geht. Da ergänzt sich auch das Herumdrucksen des Landwirtschaftsministers mit dem Gemurmel in den Provinzen. So wurde wertvolle Zeit verspielt und der irre Glaube gestärkt, Sachsen müsse nicht auch seine Wald-, Gewässer- und Landwirtschaftspolitik anpassen. Es gäbe gar noch Spielraum, jenseits der eh schon aufs Bremsen fixierten CDU-Politik noch weiter zurückzufallen in Verhaltensmuster des vergangenen Jahrhunderts.

So betrachtet ist der „Rechtsruck“ vor allem auch eine emotionale Reaktion auf Nicht-Politik, auf eine regierende Selbstgefälligkeit, die vor allem auf Besitzstandswahrung aus war, aber nicht auf die Gestaltung eines modernen Sachsen, das auch noch die Lebensgrundlagen der nächsten Generationen sichern kann.

Die Zukunftsthemen werden vor allem in den Großstädten diskutiert, wo eine durchschnittlich jüngere Bevölkerung auch weniger Angst davor hat, dass sich alles ändert und auch ändern muss.

Und in gewisser Weise wäre die Landtagswahl genau der richtige Zeitpunkt gewesen, genau das zu plakatieren. Denn das steckt hinter dem scheinbaren Zweikampf AfD versus CDU: Die Frage, ob Sachsen wirklich eine Politik bekommt, die dem Land eine bessere Zukunft sichert. Oder ob ein Triumph der von Angst und Neid Beherrschten das Land letztlich unregierbar macht, handlungsunfähig in allen wichtigen Zukunftsfragen.

Die Wanderung in die großen Städte geht weiter

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