Eigentlich war Leipzig schon 2014 reif für die Freibeuter-Fraktion. Aber damals fehlte den beiden FDP-Stadträten Sven Morlok und René Hobusch und der frisch in den Stadtrat gewählten Piratin Ute Elisabeth Gabelmann die Nummer 4: Erst ab vier Stadträten bekommt man den Fraktionsstatus, bekommt Sachmittel, Arbeitsräume und Sitze in allen Ausschüssen. Mit dem Austritt von Naomi-Pia Witte aus der Linksfraktion wurde die Freibeuter-Fraktion jetzt Wirklichkeit.

Natürlich ging gleich am Mittwoch, 3. Mai, als die vier die Gründung der neuen Fraktion bekanntgaben, die Frage um: Kann das gutgehen? Sind die vier nicht politisch viel zu weit auseinander? Eine ehemalige Linke und zwei Liberale, dazu die emsige Piratin, die auch deshalb in den Stadtrat wollte, damit die Arbeit des Gremiums transparenter wird – sichtbarer für die Bürger.

Und da war ihr, so betonte sie am Mittwoch, 3. Mai, extra, in der SPD-Fraktion Vieles möglich. Sie habe sich dort auch wohl gefühlt. Aber sie konnte sich um einige Themen nicht kümmern, die ihr wichtig waren, weil sie schon von altgedienten SPD-Fraktionsmitgliedern besetzt waren. Vor allem ging es ihr um Stadtentwicklung.

Ein Thema, das auch bei René Hobusch, dem am Montag gewählten Sprecher der Fraktion, auftaucht, als er die zentralen Arbeitsthemen der neu gegründeten Fraktion benennt. Von Schnittmengen spricht er, dem, was die vier so unterschiedlichen Fraktionsmitglieder eben doch verbindet: Freude an der politischen Arbeit, die Rahmenbedingungen einer wachsenden Stadt, Transparenz, Offenheit und Bürgerbeteiligung, bürgernahe Verwaltung, Schutz von Minderheiten.

Eigentlich alles Themen, die auch andere Fraktionen im Stadtrat bewegen. Und zwar schon ziemlich lange. Zu lange, wie es nicht nur Sven Morlok kritisiert, als er beispielhaft den CDU-Antrag zu einem Autotunnel am Hauptbahnhof benennt. Beispielhaft, weil es für das Klein-Klein in der Leipziger Politik steht, das eingezogen ist, seit die großen strategischen Visionen einfach verschwunden sind. „Wir haben keine strategisch ausgerichtete Politik mehr“, sagt der FDP-Stadtrat. Mit solchen Vorschlägen wie denen aus der CDU könne man die wachsenden Verkehrsprobleme nicht lösen.

Und da sind die beiden FDP-Männer mit Ute Elisabeth Gabelmann auf einer Wellenlänge. Der Austritt aus der SPD-Fraktion sei keine Entscheidung gegen die SPD-Fraktion gewesen, betont sie, sondern eine für die Freibeuter. Sie wolle mehr machen auf dem Gebiet der Stadtentwicklung. Auch ihr fehlen die großen Leitlinien „für die nächsten 50 Jahre“. Doch Leipzig wächst – und bekommt damit Probleme, die die Stadt in den nächsten 20 Jahren in Atem halten werden.

Schulen und Kitas nennt Hobusch. Schulen und Kitas nennt auch die ehemalige Linke Naomi-Pia Witte, die auch schon das nächste Thema heranbrodeln sieht: die Integration  der Flüchtlinge. Dazu hat sie extra im Jobcenter Leipzig hospitiert. Und ist alarmiert.

Kann es trotzdem sein, dass die Vier sich aufgrund ihrer unterschiedlichen ideologischen Positionen mal zerstreiten?

„Kann passieren“, sagt Hobusch. „Aber das ist egal. Im Gegenteil: Wir wollen auch wieder zeigen, dass Stadträte ihre eigene Meinung haben und auch vertreten sollen.“ Das ginge im Fraktionszwang der anderen Fraktionen oft verloren. Und dann spricht er ein Thema an, das möglicherweise politische Gremien in Deutschland künftig immer stärker prägen wird. „Die politische Landschaft ist immer zersplitterter“, sagt er. „Deswegen sind solche Regenbogenfraktionen immer öfter zu finden.“

Auch wenn sie anderswo anders zusammengesetzt sind und aus unterschiedlichen Gründen entstanden. Lokalpolitik sei zwangsläufig lokal, sagt Morlok. Wer sich ehrenamtlich als Stadtrat engagiere, dem gehe es eher nicht um eine ideologische Position, sondern um seinen Einsatz für die lokalen Probleme. Sonst mache man so etwas nicht.

Am Mittwoch, 3. Mai, hat René Hobusch die neue Fraktion ganz offiziell beim Oberbürgermeister angemeldet. Jetzt braucht es noch etwas Zeit, bis ein eigener Raum gefunden ist und die Sache mit den Sachmitteln und möglicherweise Personal für die Geschäftsstelle geklärt ist. Zur nächsten Stadtratssitzung wird dann wohl auch geklärt, wo die vier sitzen werden und wer künftig welchen Ausschuss wahrnehmen wird. Denn diese Ausschussmitgliedschaften stehen den vier Freibeutern jetzt zu. Man merkt Hobusch und Morlok schon an, dass sie sich nun zwei Jahre lang wie Stadträte zweiter Klasse gefühlt hatten, weil ihnen die meisten Informationen aus den Ausschüssen verwehrt blieben. Da fällt es schwer, mitzureden und über die Argumente der Verwaltung auf dem Laufenden zu bleiben.

Vielleicht fällt ihnen auch noch mehr zum Thema Transparenz ein. Man kann die Schnittmengen tatsächlich nehmen und bekommt so ein Gefühl dafür, wie unbehaglich sich die gewählten Stadträte mit dem zähen Fluss der Leipziger Stadtpolitik mittlerweile fühlen. Zu vieles klemmt und stockt und wird immer wieder auf die lange Bank verschoben. Man kann gespannt sein, ob es den Freibeutern gelingt, mehr Feuer unterm Kessel zu machen.

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Mehr Stimmenvielfalt im Stadtrat ist per se positiv. Viel zu viel geschieht unter Fraktionszwang. Aber wenn Frau Witte in der LVZ vom 4. Mai mit dieser Position zitiert wird: „Ich habe geheult vor Neid, als ich gesehen habe, wie im Kulturbereich mit Geld umgegangen wird. Das muss dringend besprochen werden“ – dann läuten die Glocken in der Freien Kulturszene Leipzigs. Denn um Kürzungen bei den großen Häusern vorzunehmen, findet sich keine Mehrheit. Werden bei der Finanzmittelvergabe zugunsten von sozialen Projekten Kompromisse gemacht, wird es die Freie Szene treffen. Bisher haben die 4 Freibeuter nicht den Eindruck hinterlassen, als kennen sie die Probleme der Kulturvereine in dieser Stadt. Aber vielleicht ist das auch eine falsche Wahrnehmung meinerseits. Gern lasse ich mich eines besseren belehren.

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