Mit geballter Medienaufmerksamkeit versuchen ja gerade CDU und CSU, noch ehe sie 2025 mit geballter Kompetenz wieder die Hebel der Macht ergreifen dürfen, das gerade erst von der Ampelkoalition implementierte Bürgergeld zu kastrieren und in etwas zu verwandeln, was noch rücksichtsloser ist als Hartz IV. Und das tun die Granden der CDU mit Argumenten aus der Mottenkiste, die auch vor 20 Jahren bei der Diskussion über die Hartz-Reform nicht stimmten.

Aber wenn es darum geht, auf den Schwächsten in der Gesellschaft herumzutrampeln, war gerade konservativen Parteien keine Behauptung zu fett, um damit nicht falsche Bilder an die Wand zu werfen und die gerade mal wieder regierenden Sozis unter Druck zu setzen.

Ein Thema, das Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin am 2. August in seiner Kolumne auf „Zeit Online“ aufgriff, denn nichts an den genüsslich auch medial ausgewalzten Behauptungen stimmt, egal, ob sie von CSU-Chef Markus Söder, CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann oder direkt aus der „Bild“-Zeitung stammen.

Kinder, Jugendliche, Aufstocker, Alleinerziehende …

Knapp 5,5 Millionen Menschen beziehen in Deutschland Bürgergeld zur Abdeckung des Existenzminimums.

„Ein erster Mythos ist die Behauptung, dies seien allesamt Menschen, die arbeiten könnten, aber nicht wollen“, schreibt Fratzscher, der sich die Zahlen der Arbeitsagentur natürlich angeschaut hat. „Fakt ist, dass 1,8 Millionen, also ein Drittel, davon Kinder und Jugendliche sind. Hinzukommen mehr als zwei Millionen Menschen, die dem Arbeitsmarkt nicht für (weitere) Arbeit zur Verfügung stehen.

Darunter befinden sich knapp 800.000 sogenannte Aufstocker, also Menschen, die sehr wohl arbeiten, aber mit ihrer Arbeit so wenig Einkommen erzielen, dass sie zusätzliches Geld vom Staat benötigen. Dazu zählen auch Menschen wie Alleinerziehende, die Sorgearbeit und Beruf nicht unter einen Hut bekommen können, weil es beispielsweise an Betreuungsplätzen für ihre Kinder fehlt.“

Was bleibt rechnerisch übrig? Rund 1,7 Millionen Menschen, die arbeitslos sind und prinzipiell arbeiten könnten.

„Aber auch von diesen 1,7 Millionen verweigert nur eine kleine Minderheit die Arbeit. Für die große Mehrheit liegt das Problem anderswo: Knapp zwei Drittel dieser Menschen haben keinen Berufsabschluss, in vielen Fällen noch nicht einmal eine Schulausbildung, und die meisten haben gesundheitliche Probleme“, stellt Fratzscher fest.

„Mit keiner noch so guten Unterstützung durch die Jobcenter und mit keiner noch so großen Motivation der Betroffenen kann das Hauptproblem für deren Integration in den Arbeitsmarkt gelöst werden: Potenzielle Arbeitgeber stellen diese Menschen häufig nicht ein, weil die Kosten und Risiken zu groß sind. Und wenn Arbeitgeber es doch wagen, dann passiert es allzu häufig, dass die Betroffenen nach wenigen Monaten wieder in Arbeitslosigkeit und Bürgergeld landen.“

Was ja wohl deutlich macht, dass die konservativen Politiker, die derzeit mit dem Bürgergeld wieder für Stimmung sorgen, entweder die Zahlen nicht kennen – oder absichtlich ein falsches Bild malen, um dann ausgerechnet auf Kosten der Menschen, die dringend auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, „Sparvorschläge“ zu machen.

Schwelgen im Bürgergeld?

Das zeigt ein kapitales Unverständnis dafür, warum so viele Menschen in mies bezahlten Jobs landen und immer wieder in der Arbeitslosigkeit landen. Denn das Problem löst man nur, indem man diese Menschen besser qualifiziert, damit sie „in eine Arbeit kommen, die ihnen eine realistische und dauerhafte Perspektive bietet. Der sogenannte Vermittlungsvorrang in Arbeit wurde abgeschafft, damit die Betroffenen die Chance haben, sich zu orientieren, zu qualifizieren und eine passende Arbeit zu suchen“, schreibt Fratzscher.

Die Unionspolitiker haben ganz offensichtlich nicht verstanden, worum es dabei geht.

Und sie wiederholen auch den zweiten Mythos aus der „Hartz IV“-Debatte immer wieder: Der Lohnabstand zum Bürgergeld sei nicht groß genug, „Bürgergeldbeziehende hätten am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche als arbeitende Menschen.“

„Die Behauptung ist schlichtweg falsch, denn auch Menschen mit Niedriglohn stehen Sozialleistungen zu und haben dadurch immer und in jeder Konstellation – von einem Single bis hin zu einer Großfamilie – mehr Geld als Menschen im Bürgergeld.“

Wer Bürgergeld bekommt, lebt in Armut. Alles andere ist ein Märchen. Und: „Auch die Behauptung, der Abstand zwischen Bürgergeld und Arbeitslohn sei kleiner geworden, ist falsch. Seit Einführung des Mindestlohn 2015 sind die Einkommen im Niedriglohnbereich sogar etwas schneller angewachsen als die Bezüge im Bürgergeld.

Und jeder, der sich mit der Berechnung des Bürgergelds auseinandersetzt, weiß warum: weil die Berechnung des Bürgergelds an die Lohnentwicklung im Niedriglohnsektor gekoppelt ist. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht angemahnt: Es gehört zur Pflicht von Staat und Gesellschaft, alle Menschen mit einem angemessenen Existenzminimum auszustatten.“

Ein Heer von Totalverweigerern?

Und dann gibt es noch den dritten Mythos, der immer wieder aufgewärmt wird, weil er so herrliche Neiddebatten nach sich zieht: Viele Bürgergeldbezieher würden Jobangebote einfach verweigern, es sich also „in der sozialen Hängematte bequem machen“.

„Fakt ist jedoch auch, dass die Totalverweigernden eine kleine Gruppe sind: Gemessen an den Sanktionen sind das etwa 16.000 von den 5,5 Millionen Beziehenden“, nennt Fratzscher die tatsächlich belastbare Zahl. „Dies sind 16.000 zu viel, aber sie sind mit 0,4 Prozent eben auch eine verschwindende kleine Minderheit aller Bürgergeldbeziehenden. Auch daher ist der Populismus gegen Menschen im Bürgergeld so perfide: Es wird eine große Mehrheit in Kollektivhaftung für eine kleine Minderheit genommen und ihre legitimen Bedürfnisse dadurch delegitimiert.“

Da wird also eine deutlich überschaubare Gruppe benutzt, um gleich Millionen Menschen in Misskredit zu bringen, die auf das Bürgergeld dringend angewiesen sind. Ganz zu schweigen davon, dass eine Totalkürzung des Bürgergelds für „Totalverweigerung“ praktisch keine spürbaren Einsparungen bringen kann, dazu ist die Gruppe viel zu klein, auch wenn sie bei den Mitarbeiter/-innen der Jobcenter immer wieder im Fokus steht und den meisten Ärger macht.

Was ja längst dazu geführt hat, dass die Sanktionsmöglichkeiten für Totalverweigernde gestärkt wurden. „Das fordern übrigens auch Bürgergeldbeziehende selbst“, so Fratzscher.

Lauter faule Ausländer?

Und dann ist da noch die durch und durch populistische Behauptung, das Bürgergeld käme überproportional Ausländern zugute, die sich damit einen Lenz machen wollten. Ein Argument, das besonders aus der AfD-Ecke befeuert wird. Mehr als die Hälfte der Bürgergeld-Beziehenden kommt tatsächlich aus dem Ausland.

„Hierzu zählen auch die mehr als 1,1 Millionen ukrainischen Geflüchteten, die nach Ankunft sofort arbeiten und notfalls Leistungen des Bürgergelds beziehen dürfen. Laut Bundesregierung bezogen 722.000 Ukrainer im März 2024 Bürgergeld. Mehr als 200.000 davon sind jedoch Kinder, knapp 320.000 sind in Ausbildung, Schule, Umschulung, Eingliederung in einen Betrieb oder sind Aufstockende. 186.000 ukrainische Geflüchtete gelten als arbeitslos“, so Fratzscher, der auch darauf hinweist, dass die große Mehrheit der Geflüchteten arbeiten und sich in Deutschland integrieren möchte.

Dumm nur, dass Deutschland mit seiner seit 30 Jahren immer mehr verschärften Ausländer- und Asylgesetzgebung genau das verhindert und geradezu dafür sorgt, dass diese Menschen nicht arbeiten dürfen. Da geht es um die Anerkennung von Qualifizierungen, um rechtliche Hürden und Wohnsitzauflagen bis hin zu Sprachkenntnissen, die verhindern, dass Geflüchtete schneller in Arbeit kommen.

„Es gibt viele Erfolgsgeschichten“, stellt Fratzscher fest. „So sind beispielsweise 86 Prozent der zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland geflüchteten Männer heute in Beschäftigung – dies ist eine höhere Quote als im restlichen Teil in Deutschland: Die Erwerbstätigenquote der männlichen Bevölkerung zwischen 18 bis 64 Jahren lag im vergangenen Jahr bei 83,6 Prozent.“

Ein Ablenkungsmanöver von den tatsächlichen Problemen

Die ganze Argumentation mit den „faulen Ausländern“, die von den Rechtspopulisten immer wieder neu aufgekocht und von konservativen Politikern gedankenlos nachgeplappert wird, hat nichts mit den tatsächlichen Verhältnissen zu tun. Sie schafft nur ein Bild aus lauter Vorurteilen, das den so leicht zu irritierenden Wählern auch noch suggeriert, man könne auf diese Menschen einfach verzichten und sie nach gewonnener Wahl einfach abschieben in alle ihre von Krieg und Bürgerkrieg verwüsteten Länder.

Die AfD meint es mit ihren Parolen vom Abschieben wirklich ernst.

Aber das dürfte der dümmste aller Trugschlüsse sein, denn viele Branchen funktionieren ohne die in den letzten Jahren zugewanderten Ausländer nicht mehr. Sie würden einfach zusammenbrechen, wenn man diese Menschen daraus entfernt – unser Gesundheitssystem genauso wie die Pflege, die Logistik, ganze Dienstleistungsbereiche, aber längst auch Teile des Handwerks.

Ein Land, das wirtschaftlich wirklich vorankommen will, muss vor allem alle die sinnlos aufgebauten bürokratischen Hürden wieder abbauen, mit denen die Geflüchteten meist jahrelang in Untätigkeit gehalten werden, während immer mehr Firmen händeringend nach Arbeitspersonal suchen. Schon allein aufgrund des demografischen Dilemmas ist Deutschland (und im Speziellen eben auch Sachsen) darauf angewiesen, diese Menschen schnellstmöglich zu integrieren und ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

Gerade an dieser Stelle ist die Argumentation der Populisten, die tatsächlich glauben, diese Menschen folgenlos wieder abschieben zu können, falsch und dumm dazu. Gnadenlos dumm, wenn man bedenkt, dass damit die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit vollends in die Binsen geht und ein Land mit akutem Arbeitskräftemangel und gnadenloser Überalterung in jedem wirtschaftlichen Wettbewerb auf der Strecke bleiben muss.

Genau betrachtet, ist das ganze Lamento über das Bürgergeld nichts als ein Nebenkriegsschauplatz und die Debatte um noch mehr Sanktionen nichts als eine Ablenkung von den tatsächlich schwerwiegenden Problemen unseres Landes, für die just die Debattenteilnehmer, die über Bürgergeldbezieher schimpfen, bis jetzt keine einzige Lösung vorgeschlagen haben.

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„Die Behauptung ist schlichtweg falsch, denn auch Menschen mit Niedriglohn stehen Sozialleistungen zu und haben dadurch immer und in jeder Konstellation – von einem Single bis hin zu einer Großfamilie – mehr Geld als Menschen im Bürgergeld.“

Hier muss ich leider widersprechen, gerade was den Passus “immer und in jeder Konstellation” betrifft. Ich betreue selber eine Familie, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fällt. Ein Elternteil arbeitet Vollzeit.
Da Asylbewerberleistungssätze deutlich niedriger bemessen sind als Bürgergeld, der Elternteil aber mittlerweile knapp über der Grenze verdient, erhalten sie keinerlei Leistungen.
Wohngeld und Kinderzuschlag sind in dem Status gesetzlich ausgeschlossen, Bildung und Teilhabe entfällt somit auch, da kein Sozialleistungsbezug vorliegt.
Nur gut das die Schule einen Förderverein hat, der die Klassenfahrt für das Kind übernommen hat.

Für die Familie lohnt es sich objektiv gesehen eigentlich gar nicht, dass der Elternteil Vollzeit arbeitet.

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