Auch die ausgewertete Bürgerumfrage von 2019 hat es endlich ans Licht der Öffentlichkeit geschafft. Sie zeigt, mit welcher Akribie Leipzigs Statistiker/-innen mittlerweile versuchen herauszubekommen, wie Armut in der Messestadt eigentlich aussieht, wen sie betrifft und welche Folgen sie hat. Denn 17,2 Prozent der Leipziger sind arm, nach Bundesrechnung sogar 22,7 Prozent. Aber diese Zahlen haben ihre Tücken.
Denn es ist etwas völlig anderes, ob man als Student mit seinem Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle lebt oder als alleinerziehende Mutter oder auch als älterer Alleinlebender, dem nach einer durch die „Wende“ zerhackstückten Berufskarriere nur noch ein befristeter Job angeboten wurde, der nicht mal reicht, halbe Punkte für die Rente zu sammeln.Deutschland ist ein Land voller Selbstbetrug. Ausgerichtet ist es auf Menschen, die deutlich über dem Durchschnittsverdienst bezahlt werden, die auch in Leipzig als einkommensreich gelten und die keine Probleme haben, neben einer ausreichenden staatlichen Rente auch noch eine zusätzliche Altersversorgung aufzubauen.
Der Wert des Menschen in Deutschland bemisst sich nach seinem Einkommen.
Der Unterschied: Eine Eigentumswohnung
Und alle Gesetze sind auf eine ununterbrochene Berufskarriere mit Westgehalt ausgerichtet, in der die Beschäftigten mit jedem Lebensjahr mehr verdient haben und niemals zur Experimentiermasse gedankenloser Arbeitsmarktreformer geworden sind. Alle anderen zahlen richtig drauf. Alle anderen können sich anstrengen, wie sie wollen, sie erreichen nicht einmal das Leipziger Medianeinkommen, das laut „Bürgerumfrage 2019“ bei 1.519 Euro lag. Was schon eine Menge aussagt über die eigentlich schon für 2005 verkündete „Angleichung der Lebensverhältnisse“. Davon wird noch auf Jahrzehnte keine Rede sein können. Der Bundesmedian lag 2019 bei 1.790 Euro im Monat.
Der durchschnittliche Leipziger bekommt also im Jahr 3.252 Euro netto weniger ausgezahlt als der durchschnittliche Bundesbürger, macht also, wenn man 40 Berufsjahre zugrunde legt, ein Minus von rund 127.000 Euro. Davon kaufen sich andere Leute ein Häuschen oder eine Eigentumswohnung.
Was übrigens der Grund dafür ist, dass Leipzig immer noch eine Mieterstadt ist und die ganzen eigentlich spottbillig angebotenen Mehrfamilienhäuser und Eigentumswohnungen vor allem von Ärzten, Anwälten, Beamten und Ingenieuren aus West- und Süddeutschland gekauft wurden – als Altersvorsorge. Denn bezahlt werden sie letztlich von den Leuten, die drin wohnen und Miete zahlen.
Da ist so einiges gründlich schiefgelaufen in der deutsch-deutschen Transformation.
Und das ist nur der Median, also das mittelste der erhobenen Einkommen.
Frauen weniger wert?
Beim genaueren Blick in die Zahlen sehen die Statistiker dann, welche Gruppen besonders gelackmeiert sind.
Zum Beispiel: „Personen mit Behinderung sind demnach in Bezug auf die Einkommenshöhe deutlich benachteiligt: Inhaber/-innen eines Schwerbehindertenausweises verfügen im Schnitt über ein um 395 Euro niedrigeres Einkommen als Personen ohne Schwerbehindertenstatus. Bezüglich der Haushaltsstruktur deutet das Modell auf einen signifikanten, negativen Effekt für Singles hin: Sie verdienen demnach rund 140 Euro weniger als Befragte, die in einer Ehe, Lebensgemeinschaft oder Lebenspartnerschaft leben. In Haushalten, in denen vorwiegend nicht deutsch gesprochen wird, liegt das persönliche Einkommen mit -325 Euro deutlich niedriger als in Haushalten mit Deutsch als überwiegend gesprochener Sprache. Das Vorhandensein von Kindern unter 14 Jahren im Haushalt übt zunächst keinen signifikanten Einfluss auf die Höhe des persönlichen Einkommens aus“, schreiben die Statistiker.
Und dann kommt das dicke Aber: „In Interaktion mit dem Geschlecht zeigt sich allerdings, dass Frauen, in deren Haushalt Kinder unter 14 Jahren leben, über ein um nochmals 265 Euro niedrigeres Einkommen verfügen. Dieser Effekt ist zusätzlich zum bereits beschriebenen reinen Geschlechtseffekt zu sehen und ist zu einem Niveau von 99 Prozent signifikant. Hier äußert sich der überproportional hohe Beitrag von Frauen in der Kinderbetreuung und -erziehung, der sich in gebrochenen Erwerbsbiografien und einem hohen Anteil von Teilzeitbeschäftigten manifestiert.“
Das heißt im Klartext: alleinerziehende Frauen sind doppelt angemeiert. Sie werden als Frau und als Alleinerzieherin benachteiligt.
Denn für Frauen gilt ja auch: „Für Frauen ergibt sich demnach ein hochsignifikanter, negativer Effekt auf das persönliche Einkommen in Höhe von -360 Euro gegenüber Männern, was mit den in Abschnitt 2.1 vorgestellten Ergebnissen zum Gender-Pay-Gap im Einklang steht. Auch die Höhe des Effekts korrespondiert weitgehend mit den Ergebnissen anderer Studien.“
Gründe: typische „Frauenberufe“ werden schlechter bezahlt, Frauen, die wegen der Kinder pausieren, werden kaum in besser bezahlte Positionen befördert, müssen bei Wiedereinstieg oft sogar Qualifikationsnachteile hinnehmen, arbeiten öfter in Teilzeit … usw.
Das kennt man alles. Das Überraschende ist eher, dass sich Leipzig darin in nichts (mehr) von westdeutschen Städten unterscheidet. Es „hat sich einfach so eingeschlichen“, weil Männer, die die Entscheidungsgewalt ganz selbstverständlich auch nach 1990 wieder übernommen haben, einfach so ticken und Frauen im Beruf ganz still und selbstverständlich benachteiligen. Nicht einmal „mit Absicht“, sondern deshalb, weil das in ihrer Denkweise so eingeübt ist.
Da muss sich mehr ändern als nur die Quote.
Entwertete Arbeit
Denn auch die massiven Einkommensverluste junger Berufseinsteiger und vor allem älterer Erwerbstätiger, die die ganze Knochentour nach 1990 miterlebt haben, haben mit diesem Denken zu tun. Und mit der massiven Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse ist ja noch ein weiteres Entwertungsinstrument in Anwendung. Wer befristet beschäftigt ist (und bei den unter 34-Jährigen sind es 29 Prozent), bekommt im Monat 334 Euro weniger raus.
Und auf die sogenannten Singles muss man natürlich auch zu sprechen kommen. Denn die 140 Euro weniger Einkommen im Monat fallen ja nicht deshalb so aus, weil sie Singles sind, sondern die Mehrzahl ist Single, weil sie weniger verdienen als andere Leute. Weil Familie nun einmal Geld kostet und auch in Leipzig eigentlich nur leistbar ist, wenn beide Elternteile voll und gut bezahlt erwerbstätig sind.
Etwas, was die regierende Politik im Corona-Jahr natürlich völlig vergessen hat. Und was übrigens der Grund dafür ist, dass die Eltern so langsam rebellieren bei diesem ganzen Herumgewurstel mit Homeoffice und geschlossenen Kitas und Schulen.
Woran leider Leipziger Stadtpolitik nichts ändern kann. Der Bockmist wird auf höheren Etagen verzapft. Mit Folgen, die im Lockdown fast unsichtbar sind – vom Leiden der Kinder ganz zu schweigen.
Und wenn jetzt diverse Institute und Anstalten wieder den „Wirtschaftsaufschwung“ nach Corona zu prophezeien versuchen, bauen sie in ihrer ganzen männlichen Arroganz darauf auf, dass alle diese allein oder gemeinsam erziehenden Eltern danach wieder an die Arbeit stürzen müssen, um ihren kleinen Haushalt zu finanzieren. Und die armen Socken, die nicht verbeamtet oder in Staatsdienst sind, sowieso.
Aber das ist ein anderes Wirtschaftsdenken, als es in deutschen Ministerien gepflegt wird. Und dabei hat in vielen Leipziger Haushalten das Geld schon vor Corona nicht gereicht. Dazu kommen wir noch.
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Misandern Sie nur weiter! Solange man jungen Männern nicht die gleichen Chancen gibt, frei von weiblicher Bevormundung, schwanger zu werden und sich so selbst in prekäre Missstände zu emanzipieren, wird man sich weiter an gesellschaftlichen Konstrukten wie “Frauenberufen” abarbeiten müssen, um aus der reinen Korrelation eine Kausalität abzuleiten. Aber vielleicht schaft es ja bald Ihre junge attraktivere Kollegin 😉