Benachteiligung im Beruf und niedrigere Einkommen haben Folgen in einem Land, in dem auch die Arbeitsmarktpolitik seit zwei Jahrzehnten darauf ausgerichtet ist, die Menschen in jeden „zumutbaren“ Job zu zwingen, auch wenn das für das tägliche Leben (von der Rente ganz zu schweigen) eine einzige Zumutung ist.

Mit der Bürgerumfrage 2019 haben Leipzigs Statistiker/-innen auch einmal genauer angefragt, wie die Befragten eigentlich mit ihren monatlichen Einkünften zurechtkommen. Und in einem Land, das soziale Gerechtigkeit ernst nähme, würde das verfügbare Geld normalerweise reichen. Wenigstens für die Alltagsversorgung.Tut es aber bei vielen nicht, auch wenn die Autoren des Berichts erst einmal betonen: „Aus Abbildung 2-15 lässt sich ablesen, dass über alle Haushaltskonstellationen hinweg eine Mehrheit der befragten Haushalte angibt, dass ihr Einkommen ausreicht oder sogar ausreicht, davon gut zu leben.“ Mehrheit heißt in diesem Fall: 73 Prozent.

So betrachtet gibt es scheinbar keine großen Probleme, die hat ja nur eine Minderheit, auch wenn eine Minderheit von 29 Prozent eine ganze Menge ist. Und natürlich wieder bestimmte Personengruppen besonders betrifft.

Im Bericht heißt es dazu: „Insbesondere Ein-Personen-Haushalte, sowohl im erwerbsfähigen Alter als auch in der Rentenphase (jeweils 32 Prozent), sowie Alleinerziehende (46 Prozent) geben an, auf Dinge verzichten zu müssen. 16 Prozent der Alleinerziehenden können sich nur mittels staatlicher Unterstützung finanziell über Wasser halten. Mehr als die Hälfte der Haushalte, in denen Arbeitslosengeld die Hauptquelle des Einkommens ausmacht, gibt an, dass das Einkommen insgesamt nicht ausreicht und gegebenenfalls weitere Leistungen bezogen werden. Dieser Befund steht in engem Bezug zur Höhe des Haushaltseinkommens: Unter den Haushalten, deren Einkommen bei maximal 1.100 Euro liegt, geben nur 40 Prozent an, dass ihr Einkommen ausreicht, während jeder fünfte Haushalt dieser Einkommensklasse auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Mit steigendem Einkommen ist die Notwendigkeit, sich einzuschränken, nur noch in seltenen Fällen gegeben.“

Immerhin 20 Prozent der Leipziger/-innen haben aber nur ein persönliches Nettoeinkommen von bis zu 1.100 Euro.

Die Statistiker blättern das alles recht trocken auf und haben auch nicht genauer abgefragt, auf was die Befragten genau verzichten müssen. Wobei „Verzichten“ ja im ökonomischen Sinn heißt: Sie fallen als Konsumenten aus. Urlaubsreisen gehören dabei genauso auf die Streichliste wie Schulausflüge der Kinder, medizinische Produkte (auch die hübschen FFP2-Masken), Autos und Computer, Weihnachtsgeschenke und Restaurantbesuche, um nur einmal die Luxusausgaben zu benennen.

Denn im Alltag geht dieses Verzichten noch in ganz andere Bereiche: Es wird beim (gesunden) Essen gespart, bei der Kleidung, bei Kulturausgaben sowieso, beim Ersatz technischer Haushaltsgeräte – und bei Miete, Strom- und Energiekosten kann so ein Einkommens„niveau“ schnell zu Zahlungsverzögerungen, Schulden und entsprechenden Sanktionen führen. Was übrigens die Schuldnerquote gerade in den sozial benachteiligten Ortsteilen in Leipzig weiterhin hochhält.

Armut ist eine Schuldenfalle

Weshalb sich die Ortsteile mit hohen Quoten von Schuldnern im Grunde decken mit den hier erfassten Aussagen dazu, dass das Geld nicht zum Leben reicht. Und dass auch 21 Prozent der Befragten mit Erwerbseinkommen sagten, dass das Geld nicht reicht, sagt eine Menge über den hohen Armutssockel in Leipzig. Und dass das Problem bei 1.100 Euro Haushaltseinkommen nicht aufhört, zeigt die Tatsache, dass auch in der Einkommensgruppe 1.100 bis 2.300 Euro 28 Prozent der Befragten sagen, dass Verzicht zu ihrem Alltag gehört.

Es überrascht also nicht, dass ein ziemlich hoher Prozentsatz der Leipziger/-innen auch in der amtlichen Berichterstattung als arm (bzw. armutsgefährdet) gilt.

„Wird der lokale Einkommensmaßstab, also 60 Prozent vom mittleren städtischen Nettoäquivalenzeinkommen, angelegt, liegt die Schwelle zur Armutsgefährdung bei 911 Euro. Nach bundesweitem Maßstab (Äquivalenzeinkommen nach Mikrozensus) liegt die Armutsgefährdungsschwelle bei 1.074 Euro“, rechnen uns die Statistiker vor. „Beide Maßstäbe lassen sich plausibel begründen: Die Berechnung anhand lokaler Einkommen trägt Abweichungen von Lebenshaltungskosten vom Bundesschnitt (etwa bei den Wohnkosten) Rechnung.“

Was trotzdem eine ganz schwierige Erklärung ist, denn die Armutsgefährdungsquote geht nicht wirklich von den Lebenserhaltungskosten aus, sondern ist nur ein prozentual gesetzter Wert, bei dem die Berechner annehmen, dass man darüber vielleicht sein Leben ohne größeren Verzicht fristen können müsste. Was nach der oben zitierten Befragung ja nicht zutrifft. Da klafft eine Lücke von 5 bzw. 10 Prozent, so eine Art Fegefeuer für all jene, die sich täglich abstrampeln und dem Finanzamt dennoch erklären müssen, dass sie eigentlich kein versteuerbares Einkommen erzielt haben. Da liegt man mit 27 Prozent für Leipzig wahrscheinlich gar nicht so sehr daneben.

Nicht mehr die Ärmste unter den Armen

Aber anderen geht es auch nicht besser. Von der Armutsquote her hat Leipzig ja den einstigen Spitzenplatz (Stichwort „Armutshauptstadt“) schon vor Jahren verlassen. Gerade in westdeutschen Städten ist der Anteil der arm gemachten Leute deutlich gewachsen, wie man im Bericht zur Bürgerumfrage auch nachlesen kann: „Die amtliche Sozialberichterstattung des Bundes und der Länder weist für die 15 größten Städte Werte für die Armutsgefährdungsquoten sowohl nach bundesweitem als auch lokalem Maßstab aus. Nach lokalem Maßstab liegt die Armutsgefährdungsquote in Leipzig 2019 bei 17,2 Prozent, was im Städtevergleich der drittniedrigsten Armutsgefährdungsquote entspricht.“

Und weiter: „Ein Jahr früher wies Leipzig mit 17,7 Prozent noch das viertniedrigste Armutsrisiko auf. Gemessen am bundesweiten Einkommensniveau liegt das Armutsrisiko in Leipzig dagegen mit 22,7 Prozent am oberen Ende des Spektrums, bedingt durch das im Vergleich zum Bundesschnitt unterdurchschnittliche Einkommensniveau. Noch 2013 verzeichnete Leipzig im Vergleich der 15 Großstädte die höchste Armutsgefährdung, verbesserte seine Position aber bis zum Jahr 2017 auf Rang 10. Das niedrigste Armutsrisiko nach bundesweitem Maßstab wird 2019 für München, Stuttgart und Hamburg ausgewiesen. Hierbei handelt es sich jedoch vorrangig um das Ergebnis von Verdrängung, da das in den genannten drei Städten vorherrschende Mietniveau mit Einkommen unterhalb der bundesweiten Armutsgefährdungsschwelle kaum bezahlbar ist.“

Womit Leipzigs Statistiker/-innen einen erstaunlich kritischen Ton anstimmen, den man so von ihnen noch nicht kannte. Denn das adressiert auch an die Leipziger Stadtspitze und die Landespolitik. Denn wenn das Leipziger Mietniveau noch weiter steigt, wird hier genau dasselbe passieren: Die Einkommensarmen werden aus der Stadt verdrängt. Das hübscht zwar die Quoten auf, die Armut sinkt scheinbar. Aber in Wirklichkeit wird sie nur outgesourct, irgendwo weg wohin, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.

Und gleich im nächsten Kapitel merkt der Bericht dann an, dass das auch etwas mit den ganzen neoliberalen Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre zu tun hat. Wer davon erwischt wurde, zahlt nicht nur mit niedrigeren Einkommen, Verzicht und einer miserablen Rente. Der wird auch noch aus seiner Heimatstadt vertrieben.

Deutlicher hat das wirklich noch keine Leipziger Bürgerumfrage ausgesprochen.

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