In der Corona-Zeit sind viele Debatten einfach abgebrochen, die vorher die Republik beschäftigt haben. Auf eines dieser Themen machte jüngst Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) aufmerksam. Denn im Corona-Shutdown wurde auch die Arbeitslosmeldung vereinfacht und die Zahl der verhängten Sanktionen rauschte in den Keller.
Dabei ging die Zahl schon vorher zurück, nachweislich seit Dezember. Was nicht nur Paul M. Schröder in seiner sehr sachlichen, rein zahlenbasierten Kritik an der bislang geübten Sanktionspraxis bestätigt. Eindeutig hatten fast alle Jobcenter ihre Sanktionspraxis völlig überzogen und die ihnen anvertrauten Klienten, Kunden, Schützlinge oder wie immer man das nennen will, ohne rechtlich belastbaren Grund bestraft und ihnen Gelder gekürzt, die eigentlich das Existenzminimum sichern sollen.
Am 5. November 2019 hatte das Bundesverfassungsgericht ein entsprechendes Urteil gefällt, das augenscheinlich in den Jobcentern ziemlich schnell auch eine Änderung der Sanktionspraxis bewirkte
„Wird eine Mitwirkungspflicht zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit ohne wichtigen Grund nicht erfüllt und sanktioniert der Gesetzgeber das durch den vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen, schafft er eine außerordentliche Belastung. Dies unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weiter Einschätzungsspielraum zur Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit von Regelungen zur Ausgestaltung des Sozialstaates ist hier beschränkt“, hieß es in dem Urteil.
Und: „Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen müssen hinreichend verlässlich sein; je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit in der Lage ist, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zu stützen. Zudem muss es den Betroffenen tatsächlich möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden; es muss also in ihrer eigenen Verantwortung liegen, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten.“
Das klingt scheinbar wie eine gerichtliche Zustimmung zum „status quo“, ist aber trotzdem so konkret, dass die Jobcenter ihre Praxis spürbar ändern mussten.
Das hätten sie auch schon vorher tun können. Denn vorher haben sie schon reihenweise Niederlagen vor Sozialgerichten kassiert, wenn sie die jetzt auch vom Bundesverfassungsgericht angedeuteten Grenzen der Sanktionspraxis nicht eingehalten haben – also letztlich willkürlich entschieden.
Die Folge, wie sie Paul M. Schröder schildert: „2019 wurden in den Berichtsmonaten vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 5. November durchschnittlich etwa 70.000 Sanktionen (Kürzung des Existenzminimums) gegen durchschnittlich etwa 55.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB) neu festgestellt – von Januar bis April 2020 dann durchschnittlich etwa 24.000 gegen durchschnittlich etwa 20.000 ELB. Erst im Berichtsmonat Mai 2020 (vom 15.4 bis 14.05) sank die Anzahl der neu festgestellten Sanktionen ,mit COVID-19‘ dann auf 6.013 und die der neu sanktionierten ELB auf 5.188. (…) Eine Rückkehr zu den ,Sanktionszahlen vor COVID-19‘ sollte durch Änderung der einschlägigen Paragrafen im SGB II (§§ 31, 31a, 31b und 32) verhindert werden.“
Die Grafik, die das BIAJ zu den neu festgestellten Sanktion erstellt hat, zeigt schon für den Dezember 2019 einen Rückgang der neu festgestellten Sanktionen von 66.000 auf 42.000, von Januar bis April dann sogar auf Werte um die 20.000. Das heißt: Die Sanktionspraxis in den Jobcentern wurde schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie geändert. Der Shutdown griff erst Mitte März richtig.
Ab dem 15. März reduzierte auch die Arbeitsagentur Leipzig die persönlichen Kontakte radikal.
Da verblüfft es eher, dass im April trotzdem noch auf dem Niveau des ersten Vierteljahres weitersanktioniert wurde. Der eigentliche Corona-Effekt wurde tatsächlich erst im Mai sichtbar.
Das Bundesverfassungsgericht gestand den Jobcentern zwar zu: „Der Gesetzgeber kann erwerbsfähigen Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Existenz selbst zu sichern und die deshalb staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, abverlangen, selbst zumutbar an der Vermeidung oder Überwindung der eigenen Bedürftigkeit aktiv mitzuwirken. Er darf sich auch dafür entscheiden, insoweit verhältnismäßige Pflichten mit wiederum verhältnismäßigen Sanktionen durchzusetzen.“
Aber dieses Recht zum Abverlangen geht nach wie vor von einem obrigkeitlichen Menschenverständnis aus, das den Staat als Zuchtmeister sieht, der Menschen zur „Überwindung der eigenen Bedürftigkeit“ in Arbeit drängen muss und quasi von vornherein davon ausgeht, dass das ohne Androhung einer Bestrafung nicht funktioniert.
Was eben auch sehr viel aussagt über das sehr deutsche Verständnis von Arbeit, die nicht als Lebenserfüllung und Bereicherung verstanden wird – augenscheinlich auch nicht von den hier formulierenden Verfassungsrichtern –, sondern als Zumutung, zu der der bedürftige Mensch gezwungen werden muss.
„Jeder ist nur ein Jahr von Hartz IV entfernt“ – Bundesverfassungsgericht stutzt Sanktionen im SGB II
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