Die 30 Jahre seit 1990 waren auch die Suche nach einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik in Leipzig. Und 1990 glaubte auch noch der größte Teil des Leipziger Stadtrates daran, dass die Zukunft im Individualverkehr liegen würde. Hatten einige denn nicht montags genau dafür demonstriert? „Freie Fahrt für freie Bürger“!? Ergebnis war eine vom Auto geradezu berauschte Verkehrspolitik.

Riesige Tangenten und Vierecke und Ringe wurden geplant. In den frühen 1990er Jahren explodierte der Kfz-Bestand geradezu. Die Nachgeborenen können sich nicht mehr daran erinnern, dass man in Leipzig bis 1989 auf vielen Straßen problemlos und ungestört Fußball spielen konnte. Von Bordstein zu Bordstein. Komplett zugeparkte Straßen waren unvorstellbar. Heute sind autofreie Straßen Utopie.

Dabei hätte Leipzig eine komplett autofreie Innenstadt haben können. Dass eine solche Innenstadt riesige Vorteile hat, war den Leipziger Stadträt/-innen durchaus bewusst. Doch sie hatten nicht den Mumm, konsequent zu sein. Das Ergebnis: Eine „autoarme“ Innenstadt, in der jeder Quadratmeter Straße dem zumeist ruhenden Verkehr mühsam abgerungen werden muss.

Dafür kannte der Leipziger Kraftfahrzeugbestand bis 2019 nur eine Richtung: er wuchs. Wenn auch schon ab 2001 etwas sichtbar wurde: Der Kfz-Bestand gerechnet auf jeweils 1.000 Einwohner wuchs nicht mehr weiter. Das Kfz-Wachstum kam nur noch durch das Bevölkerungswachstum zustande.

Entwicklung des Leipziger Kfz-Bestandes. Grafik: Stadt Leipzig / Amt für Statistik und Wahlen
Entwicklung des Leipziger Kfz-Bestandes. Grafik: Stadt Leipzig / Amt für Statistik und Wahlen

Was natürlich nicht hilft, wenn Straßen mit Autos verstopft sind. Und die meisten von den Dingern stehen einfach nur herum und fressen wertvollen Straßenraum.

Was sogar in der Statistik der Verkehrsmittelnutzung sichtbar wird: Während die Zahl der Kraftfahrzeuge in Leipzig von 200.000 im Jahr 1993 auf 263.000 im Jahr 2019 wuchs, sank der Anteil der Autofahrten am Modal Split (also der täglichen Verkehrsmittelwahl der Leipziger) von 49 Prozent auf 45 Prozent (mit zwischenzeitlichen Spitzen auf fast 55 Prozent).

Das Auto schien also nur ungefähr bis zum Jahr 2000 auf dem Weg zum Verkehrssieger zu sein. Und das hatte damals leider auch Folgen. Denn das sorgte zuallererst dafür, dass Zehntausende Leipziger von der Straßenbahn aufs eigene Auto umstiegen.

Ergebnis: Legten die Leipziger/-innen 1993 noch 34 Prozent aller Wege mit Bus oder Bimmel zurück, waren es 2019 nur noch 24 Prozent. Besonders heftig ins Kontor schlugen augenscheinlich all die Reformen und Sparmaßnahmen bei den Leipziger Verkehrsbetrieben (LVB) ab 2000, verbunden wohl auch mit den regelmäßigen „Tarifanpassungen“, die viele alte treue Kunden vergraulten.

Wie sich die Verkehrsmittelnutzung der Leipziger veränderte. Grafik: Stadt Leipzig / Amt für Statistik und Wahlen
Wie sich die Verkehrsmittelnutzung der Leipziger veränderte. Grafik: Stadt Leipzig / Amt für Statistik und Wahlen

Und siehe da: Kein Verkehrssektor hat so viel Wachstum erlebt wie der von Fuß- und Radverkehr. Er wuchs von lütten 17 Prozent im Jahr 1993 auf 31 Prozent – wobei der Radverkehr hier den größten Anteil beitrug.

Was sich aber, wie wir alle wissen, nicht in den nötigen Investitionen für Radverkehrsanlagen niederschlug.

Was wäre eigentlich passiert, hätte Leipzig ab 2006 konsequent in Radwege investiert? Nicht auszudenken.

Oder doch? Es hätte auch der Leipziger Schadstoffbilanz gutgetan.

Dass sich die Leipziger Luftqualität ab 1990 drastisch verbessert hat, zeigt die Kurve mit dem Schwefeldioxid. Das hat nur zum geringeren Teil mit dem Verkehr zu tun. Denn dass es 1990 so stank in Leipzig, hatte mit den vielen Kohleheizungen zu tun, in denen oft miserable Briketts verheizt wurden, der starke Abfall der Kurve zeigt das ziemlich schnelle Verschwinden von fast allen Feuerungsanlagen aus dem Leipziger Stadtgebiet. Ab 1995 kümmerte man sich dann endlich um die Schadstoffe, die eher aus dem Verkehr stammten und die bis 2003 – wie bei Stickstoffdioxid – permanent zunahmen.

Erst danach wirkten sich die neu eingebauten Filtertechniken so langsam aus. Die Kurve zeigt aber auch, dass es Leipzig nie und nimmer geschafft hätte, die von der EU vorgegebenen Grenzwerte von 40 μg/m³ bei Stickstoffdioxid einzuhalten, wenn Leipzig nicht 2011 die Umweltzone eingeführt hätte.

Entwicklung der Luftschadstoffe in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig / Amt für Statistik und Wahlen
Entwicklung der Luftschadstoffe in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig / Amt für Statistik und Wahlen

Die hat nicht so gewirkt, dass auf einmal alle alten Diesel-Autos draußen blieben, sondern viel langfristiger. Erst ab 2018 konnte Leipzig die Grenzlinie endlich unterschreiten, weil augenscheinlich auch die meisten in der Stadt gemeldeten Fahrzeuge die Euro-Norm erfüllen, der Fahrzeugpark also deutlich erneuert wurde.

Was natürlich nicht das Ende sein kann. Autos mit Verbrennungsmotor müssen auch in Leipzig ziemlich bald der Vergangenheit angehören, wenn die Stadt ihre selbst gesteckten Klimaziele erreichen will. Die für 2020 hat sie schon gründlich verfehlt. Die von 2024 stehen auf der Kippe.

Die Grafik zu Niederschlägen und Lufttemperaturen (ganz oben) sieht zwar auf den ersten Blick nicht so dramatisch aus. Aber wer sich die systematisch zurückgehenden Niederschlagsmengen anschaut, bekommt eine Ahnung davon, dass die Jahre 2018 und 2019 keine Ausnahme mehr sind, sondern künftig noch viel mehr solcher Dürrejahre auf Leipzig zukommen – mit vertrockneten Bäumen, verbrannten Wiesen und einem Auenwald, der verzweifelt nach Wasser jappst.

Und die Temperaturkurve? Zwischen den 10,8 Grad Durchschnittstemperatur im Jahr 1990 und den 11,3 Grad im Jahr 2018 ist doch kein so großer Unterschied, oder?

1990 war freilich schon ein sehr warmes Jahr, was deutlicher wird, wenn man die durchschnittliche Referenztemperatur der Jahre 1961 bis 1990 zum Vergleich heranzieht. Die lag bei 8,8 Grad Celsius. Das Jahr 1990 war – zumindest in Leipzig – schon 2 Grad zu warm. Und dem folgten, wie man in der Grafik sieht, viele zu warme Jahre bis in die Gegenwart.

Das ist dann schon eine Zeitspanne von 30 Jahren, in der es in der Mehrzahl der Jahre zu warm war. Die nach 1990 Geborenen haben also fast noch kein Jahr erlebt, das für die geografische Lage Leipzigs als „normal“ betrachtet werden könnte. Ausnahmen waren nur die Jahre 1996 und 2010. Der Rest war zu warm und ab 2003 zunehmend auch zu niederschlagsarm.

Und das sind nicht die einzigen Fundstücke in der Statistik.

Im nächsten Teil machen wir weiter.

Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir

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