Am Mittwoch, 3. Juli, veröffentlichte das Amt für Statistik und Wahlen der Stadt den neuen Quartalsbericht für Leipzig, die Nr. 1/2019. Wieder recht schmal im Gesicht, ähnlich dünn wie der Vorgänger. Und für die Nr. 2 kündigen sie schon einmal Schreckliches an: Die werde wohl ganz und gar ohne Beiträge zu spannenden Stadtthemen werden. Der Grund ist simpel: die Wahlen. Vier große Wahlen hintereinander halten das Amt auf Trab.
Zwei wurden ja im Mai gleich im Doppelpack absolviert: die Europawahl und die Wahl des neuen Stadtrates. Die dritte folgt im September – die Landtagswahl. Und die vierte ist für den 9. Februar terminiert: Dann wählt Leipzig einen neuen Oberbürgermeister/eine neue Oberbürgermeisterin.
Da müssen nicht nur rechtlich sichere Abläufe am Wahltag organisiert werden. Leipzigs Statistiker haben auch immer mehr mit der Briefwahl zu tun, immer mehr Leipziger wollen ihre Wahlzettel schon vor dem Wahltag abgeben. Die entsprechenden Unterlagen müssen ausgesendet werden, die Briefwahlstelle besetzt werden. 2014 waren es in der Regel nur 10 Prozent der Wahlberechtigten, die diese Gelegenheit wahrnahmen. Aber schon zur Bundestagswahl 2017 waren es 20 Prozent. Zur Europawahl im Mai immerhin noch 17 Prozent.
Die Wahlvor- und -nachbereitungen sorgen dafür, dass kaum noch Zeit bleibt für die statistischen Beiträge, die den Quartalsbericht nicht nur für Stadtforscher so wertvoll machen. Denn mit der ruhigen Unparteilichkeit von Statistikern zeichnen die Autor/-innen der Beiträge wichtige Entwicklungen auf, zeigen Leipzig im Städtevergleich, zeigen Stadtteile im statistischen Porträt. Oft genug werden so auch Vorurteile vielerlei Art korrigiert.
Und manchmal werden auch Hoffnungen genährt oder enttäuscht. Menschen neigen ja dazu, rote Linien kühn in die Zukunft fortzudenken, in der festen Überzeugung, wenn Trends erst einmal da sind, setzen sie sich auch so fort.
Stichwort: Bevölkerungsentwicklung
Leipzig hatte Ende März dieses Jahres laut Einwohnermelderegister insgesamt 596.639 Einwohner, 5.751 mehr als im Jahr 2018.
„Die Marke von 600.000 Einwohnern könnte schon im Oktober, wenn das neue Ausbildungs- und Studienjahr begonnen hat, geknackt werden“, schätzt Dr. Andrea Schultz ein, die amtierende Leiterin des Amtes für Statistik und Wahlen. Damit würde Leipzigs Einwohnerzahl zum vierten Mal in der Geschichte nach 1911, 1919 und 1946 diese Marke übertreffen. In den 1930er Jahren wohnten aufgrund von Eingemeindungen sogar über 700.000 Menschen in der Stadt, allerdings auf deutlich weniger Fläche.
Den Beitrag dazu verfasst hat Andreas Martin. Er kann auf das reichhaltige (wenn auch nicht ganz lückenlose) Material des Statistischen Amtes der Stadt zurückgreifen, das die Entwicklung der Großstadt seit dem späten 19. Jahrhundert nachzeichnet. Eine kriegsbedingte Lücke gibt es zum Beispiel in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Aber wesentlich größer sind die Lücken in der DDR-Zeit. So sei es nach Gründung der DDR politischer Wille gewesen, „die Abgänge in die BRD zu kaschieren. Der einsetzende Bevölkerungsrückgang in den 1950er Jahren wurde mehr und mehr ,vertraulich‘ behandelt“, schreibt Martin.
„Die Volkszählung vom 31.08.1950 ergab für Leipzig noch 617.574 Einwohner, 1957 ging es per Fortschreibung unter die 600.000er Marke. Von geringfügigen Ausnahmen abgesehen, nahm die Bevölkerung der zweitgrößten Stadt der DDR permanent weiter ab. Zwar stand in den Lehr- und Geschichtsbüchern fast bis zum Ende der DDR die 600.000-Einwohner-Stadt festgeschrieben, doch entfernte sie sich kontinuierlich von dieser Marke.“
Wobei das mit der Bevölkerungszahl so eine Sache ist …
Zwar vermerkt das damals noch erscheinende „Statistische Jahrbuch der Stadt Leipzig“ für 1956 noch 607.523 Einwohner und dann – per Fortschreibung – 598.909 für 1957. Aber 1964 gab es noch einmal eine Volkszählung, die zeigte, das die 588.135, die man für 1963 ermittelt hatte, wahrscheinlich ein bisschen zu niedrig lagen. Für 1964 wurden 594.880 Einwohner ermittelt.
Dass die vielen Eingemeindungen in der Geschichte eine wichtige Rolle für Leipzigs Bevölkerungswachstum waren, betont Martin auch. Erstmals über die 600.000er Marke wuchs Leipzig im Jahr 1911. Der Erste Weltkrieg sorgte dann – durch die vielen Kriegstoten und all jene, die dann Hunger und Seuchen zum Opfer fielen, aber auch durch die abwesenden Soldaten, für einen drastischen Rückgang unter 550.000 Einwohner. 1919 wurde dann durch die Kriegsheimkehrer wieder die 600.000er Marke erreicht. Bis 1933 wuchs Leipzig auf über 700.000 Einwohner. Dann sorgte der Zweite Weltkrieg für denselben Effekt wie der Erste: Die Bevölkerungszahl ging drastisch zurück, auch wenn man erst wieder im Nachkriegsjahr erneut nachzählen konnte. Die Volkszählung ergab da nur noch 584.593 Einwohner.
Doch auch jetzt stieg die Bevölkerungszahl durch die Kriegsheimkehrer wieder. Dazu kamen auch noch viele Vertriebene. Die Bevölkerungszahl stieg binnen zweier Jahre auf 650.758. Das war also der dritte Sprung über die 600.000, die Martin ausmachen konnte.
Dass es Leipzig zum vierten Mal schaffen könnte, verlegen die Statistiker als mutmaßlichen Zeitpunkt in den Herbst.
Wobei dieser Zeitpunkt zwei Einschränkungen hat: Erstens wird das nur durch die Leipziger Zahlen aus dem Melderegister gedeckt – da standen Ende Mai 597.331 Einwohner zu Buche. Seit dem Zensus 2011 aber differieren die Zahlen aus dem Melderegister mit den amtlichen Zahlen des Landesamtes für Statistik um rund 8.000. Da heißt: Die amtliche 600.000 wird Leipzig frühestens 2021 erreichen.
Und der zweite Einwand betrifft die Eingemeindungen. Keines der Leipzigs, die jeweils die 600.000er Marke überschritten, war flächenmäßig mit der „Vorgängerstadt“ identisch. Zwischen den 600.000ern von 1911 und 1919 lagen die Eingemeindung von Schönefeld und Mockau. Nicht gerade kleine Brocken an neuen Ortsteilen.
Zwischen den 600.000ern von 1919 und 1946 lagen die Eingemeindungen von Großzschocher-Windorf, Leutzsch, Paunsdorf, Wahren, Abtnaundorf, Knautkleeberg, Schönau, Thekla, Portitz, Knauthain und Lauer. Die Eingemeindungen waren die Hauptursache für das Anwachsen auf über 700.000 Einwohner.
Und auch das Leipzig von 2019 ist flächenmäßig nicht mehr identisch mit dem von 1946. Die ganzen Eingemeindungen zwischen 1993 und 2000 zählen wir hier gar nicht erst auf. Allein die Eingemeindungen von 1999 brachten Leipzig einen Bevölkerungsgewinn von über 52.000 Einwohnern. Wenn man das alte, bis 1999 gültige Stadtgebiet zugrunde legt, hat Leipzig gerade erst wieder die Bevölkerungszahl von 1997 erreicht. Was nicht so auffällt, weil die heutigen Leipziger mit deutlich weniger Haushaltsmitgliedern auf deutlich größerer Wohnfläche leben als etwa in der DDR-Zeit. Das hat mit der zunehmenden Entwicklung zum Single-Haushalt zu tun.
Zwischen 1989 und 2001 wuchs die Wohnfläche pro Einwohner in Leipzig von 30,6 auf 42,2 Quadratmeter. Seitdem ist der Wert wieder ein wenig gesunken, auf 39,9 Quadratmeter im Jahr 2017. Was einerseits damit zu tun hat, dass es wieder mehr Kinder gibt, aber auch mit der Zunahme der Neuvermietungspreise: Wer in der Gegenwart eine neue Wohnung in Leipzig sucht, ist meist gezwungen, aufgrund der höheren Mietpreise wieder deutlich kleinere Wohnungen zu suchen.
Ein Effekt, den augenscheinlich noch niemand wirklich untersucht.
Aber im Quartalsbericht stehen noch ein paar andere spannende Dinge.
Dazu in Kürze mehr an dieser Stelle.
Sachsen ist nach 2015 wieder in den alten Schrumpf- und Überalterungsmodus übergegangen
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