Am 10. April veröffentlichte die Bundesarbeitsagentur eine Meldung, die das ganze falsche Denken in der Sanktionspraxis vor allem gegenüber jungen Arbeitslosen deutlich machte: „Die Jobcenter mussten im letzten Jahr 904.000 Sanktionen gegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte (sog. ‚Hartz IV-Empfänger‘) aussprechen. Die Zahl der Leistungsminderungen ist damit im Vergleich zum Vorjahr um 49.000 gesunken“, las man da. Acht Tage später meldete unter anderem der „Spiegel“: Viele Sanktionen sind unrechtmäßig.

„Rund drei Prozent der Hartz-IV-Empfänger wurden im vergangenen Jahr monatlich die Leistungen gekürzt. Klagen und Widersprüche gegen diese Entscheidungen waren jedoch fast in jedem zweiten Fall erfolgreich, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht“, so der „Spiegel“ am 18. April.

Solche Meldungen gab es schon des Öfteren. Deswegen diskutieren ja gerade Linke und SPD darüber, die Sanktionspraxis in dieser Form zu beenden. Denn viele diese Sanktionen wurden eben augenscheinlich nicht verhängt, weil der Bestrafte – wie der „Spiegel“ so schön schreibt – „durch sein Verhalten selbst verhindert, dass er sein Existenzminimum zumindest irgendwann durch Arbeit verdienen kann.“

Was eben auch heißt: In vielen Fällen sind die Jobcenter-Mitarbeiter durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen ganz und gar nicht gezwungen, den Leistungsbeziehern die Stütze teilweise oder gar ganz zu streichen, ihnen also das gesetzlich gewährte Existenzminimum zu nehmen. Dafür braucht es stärkere Gründe als die oft genug sehr willkürliche Praxis, die in manchen Jobcentern geradezu wie ein Bringesoll wirkt.

Die Bundesagentur schrieb dazu am 10. April: „Mit 77 Prozent entfällt ein Großteil der Sanktionen auf Meldeversäumnisse. 693.000 solcher Sanktionen mussten die Jobcenter im letzten Jahr aussprechen, weil vereinbarte Termine ohne wichtigen Grund nicht wahrgenommen wurden. In diesen Fällen müssen die Jobcenter die Regelleistung für drei Monate um zehn Prozent kürzen.“

Das klingt wie die Rechtfertigung einer Behörde, die genau weiß, dass es fast immer Lappalien sind, die dazu führen, dass den Betroffenen die Gelder gekürzt werden. Mit dem amtlichen Willen, die (oft jungen) Menschen bei der Suche nach einer ausfüllenden Arbeit wirklich zu unterstützen, hat das in der Regel nichts zu tun, dafür jede Menge mit vormundschaftlicher Politik, die vor allem auf Disziplinierung zielt.

Sanktionsgründe von 2008 bis 2018. Grafik: Bundesagentur für Arbeit
Sanktionsgründe von 2008 bis 2018. Grafik: Bundesagentur für Arbeit

Die Gründe für das Fernbleiben erfasst die Bundesagentur nämlich nicht. Man will sie auch nicht wissen. Denn was zumutbar ist, definiert die Behörde selbst. Und ihr ist auch ziemlich gleichgültig, wie demotiviert Menschen werden, die in eigentlich unzumutbar schlechte Jobs unter belastenden Bedingungen geschickt werden sollen, aus denen sie kaum einen Weg sehen, in besser bezahlte und anspruchsvollere Arbeit zu kommen.

Die Bundesagentur interpretiert das für sich so: „Für die Weigerung, eine Arbeit oder Maßnahme aufzunehmen, oder bei Abbruch wurden 96.000 Sanktionen ausgesprochen. Pflichtverletzungen gegen die Eingliederungsvereinbarung führten in 78.000 Fällen zu einer Leistungsminderung. Beim ersten Pflichtverstoß müssen Jobcenter die Regelleistung für drei Monate um 30 Prozent kürzen, bei einer wiederholten Pflichtverletzung um 60 Prozent. Jede weitere Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres führt dazu, dass der Anspruch auf Grundsicherung vollständig entfällt. Sind die Leistungsberechtigten jünger als 25 Jahre, wird die Regelleistung zu 100 Prozent gekürzt. Bei wiederholten Pflichtverstößen werden auch die Kosten der Unterkunft nicht mehr übernommen.“

So schnell steht man ohne Wohnung und Unterhalt da. Die Idee dahinter stammt wahrscheinlich von preußischen Landgütern der wilhelminischen Zeit.

Das Ergebnis, so die BA: „Pro Monat waren durchschnittlich 3,2 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sanktioniert. Im gesamten Jahr 2018 hatten insgesamt 441.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte mindestens einmal eine Sanktion. Die Zahl der festgestellten Sanktionen und die Anzahl der sanktionierten Leistungsberechtigten ist nicht identisch, da teilweise dieselbe Person mehrfach sanktioniert wurde. Bezogen auf das gesamte Jahr wurde bei 8,5 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Leistung wegen mindestens eines Verstoßes gemindert. Beide Zahlen zeigen aber: Über 90 Prozent der Leistungsempfänger bleiben von Sanktionen unberührt.“

Das ist natürlich schöngemalt. Die restlichen 90 Prozent bleiben gar nicht unberührt, sie werden ja miterzogen und lernen bald, dass man lieber keinen Termin versäumt und keinen vorgeschlagenen Job ablehnt, sonst sitzt man bald auf der Straße. Egal, wie mies bezahlt und überflüssig der Job ist. So erzieht man Untertanen.

Am wildesten scheint die Sanktionspraxis derzeit in Berlin ausgeübt zu werden. Hier kamen auf einen sanktionierten Leistungsbezieher im Schnitt 2,70 Sanktionen, er wurde also binnen eines Jahres im Schnitt fast drei Mal bestraft, wie die jüngste Statistik des Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) ergibt.

Auch die anderen östlichen Bundesländern fallen mit überdurchschnittlich vielen Sanktionen pro Sanktioniertem auf, ein Fakt, der davon erzählt, dass es mit dem von der Bundesagentur benutzten „muss“ nicht weit her sein kann, sondern dass die Entscheidung immer auch in einem Ermessensspielraum liegt.

In Sachsen wurden 2018 noch 23.848 Menschen mit mindestens einer Sanktion belegt. Das ist die niedrigste Zahl seit 2007 und natürlich auch Zeichen dafür, dass die Zahl der Jobcenter-Klienten seit Jahren sinkt. Die Mitarbeiter können sich also auf deutlich weniger Arbeitssuchende konzentrieren, sprechen aber dann, wenn sie „Pflichtverletzung“ verspüren, doch recht schnell eine Leistungskürzung aus. 55.654 waren es im Jahr 2018. Und das waren wieder deutlich mehr als noch in den Jahren 2007 bis 2010. Was eben auch bedeutet: Mit dem Konjunkturaufschwung und der wachsenden Beschäftigung hat sich die Sanktionspraxis auch in Sachsen verschärft.

Wie durchwachsen die Sanktionspraxis ist, zeigen dann noch die Zahlen zu den Gerichtsverfahren. Der „Spiegel“ schrieb dazu: „Demnach wurde rund 8.100 von 17.700 Widersprüchen ganz oder teilweise stattgegeben. Zudem waren etwa 500 von 1.200 Klagen erfolgreich – entweder weil den Klagen stattgegeben wurde oder das Jobcenter vorher einlenkte.“ Da scheint hinter dem „Muss“ doch eine ganz erhebliche Willkür zu walten.

Sanktionen führen zu Wohnungsverlust, Stromsperren und in die Verschuldungsspirale

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