Alle drei Monate gibt Leipzig einen neuen Quartalsbericht heraus, ein 60-Seiten-Heft mit neuesten Daten zu Bevölkerung, Wirtschaft, Verkehr, aber auch mit Fachbeiträgen der Leipziger Statistiker, in denen sie einzelne Blicklichter auf die Stadt werfen. Die einstige „Armutshauptstadt Deutschlands“ zum Beispiel. Lang ist es her. Nämlich genau fünf Jahre.
Da lag Leipzig unter den 15 größten Städten der Bundesrepublik mit einer Armutsgefährdungsquote von 25,1 Prozent ganz am Ende dieser Liste. Den „Titel“ hatte Leipzig seit 2005 getragen und es sah lange Zeit nicht danach aus, dass sich das jemals ändern sollte.
Erfasst wurde die Gefährdungsquote am Bundesmedian – als dem mittleren Nettoäquivalenzeinkommen, wie es das Bundesamt für Statistik errechnet. Wer weniger als 60 Prozent von diesem Median an Einkommen hat, gilt als armutsgefährdet.
Ob er wirklich arm ist, entscheidet immer auch die konkrete Lebenssituation. Studierende fühlen sich mit so einem niedrigen Einkommen noch nicht als arm. Wer aber im Arbeitsleben steht und trotzdem da unten landet, der weiß, was Armut in Deutschland bedeutet. Geld zum Aktienkaufen, wie es sich der obere Mittelständler Friedrich Merz so denkt, ist da garantiert nicht mehr vorhanden. Wenn zum Monatsende überhaupt noch Geld in der Börse ist und nicht eher ein dickes Minus.
Seit 2014 hat sich Leipzigs Position in diesem Vergleich deutlich geändert. Denn seitdem bekamen immer mehr Leipziger zu spüren, dass der Arbeitsmarkt tatsächlich wuchs und deutlich mehr besser bezahlte Arbeitsplätze entstanden – über 30.000 allein seit 2013. Die Arbeitslosenzahl sank deutlich und damit auch der Anteil der Leipziger, die offiziell als armutsgefährdet gelten. Wohlgemerkt: Auch im Vergleich mit den bundesdeutschen Einkommen.
2016 wurden noch 22,4 Prozent der Leipziger als armutsgefährdet eingestuft, 2017 waren es noch 21,5 Prozent.
Das ist noch immer eine Menge. Aber mittlerweile fünf westdeutsche Großstädte haben deutlich schlechtere Quoten – allen voran Duisburg, das als erste Stadt hinter Leipzig zurückfiel. In den Folgejahren folgten Dortmund, Nürnberg, Bremen und Essen, Städte, in denen die wirtschaftlichen Transformationen der jüngeren Zeit deutlich schlechter bewältigt werden konnten. Zwar sind die Durchschnittsgehälter dort (mit zwei Ausnahmen) nach wie vor deutlich höher als in Leipzig.
Aber der Anteil der Armutsbetroffenen, die am Aufschwung keinen Anteil mehr haben, ist deutlich gewachsen – in Duisburg mittlerweile auf 29,4 Prozent.
Eine Zeit lang taten sich auch Leipzigs Statistiker schwer, die Vergleiche mit dem Bundesmedian zu nutzen, denn die Vergleichbarkeit wird schwierig, wenn vor Ort auch die Lebensunterhaltungskosten deutlich voneinander abweichen. Aber diese Unterschiede sind nicht mehr gravierend – bei den Kosten für den familiären Einkauf schon gar nicht. Nur beim Mietniveau gibt es noch einen spürbaren Unterschied.
Aber wenn man sieht, dass die Armutsgefährdungsquote nach Bundesmedian bei 999 Euro liegt, weiß man auch, dass das auch mit Leipziger Altmieten schon einen Kampf um jeden flüssigen Euro bedeutet. Unten, in der Armutszone, sind wohl tatsächlich alle Menschen gleich. Und sie haben alle mit denselben Sorgen zu kämpfen.
Aber Andrea Schultz, die den Beitrag für den neuen Quartalsbericht schrieb, wollte auch hier lieber noch einmal vergleichen und hat auch die lokalen Armutsgefährdungsquoten erfasst. Leipzig, wo die Schwelle zur berechneten Armut bei 899 Euro liegt (Stand 2017), läge bei einer lokalen Vergleichsberechnung sogar auf Platz 2 der 15 Städte. An den örtlichen Einkommen gemessen, hätte Leipzig nur eine Armutsgefährdungsquote von 16,8 Prozent. Nur Dresden kommt mit 16,2 Prozent noch ein bisschen besser weg.
Aber der Blick auf die lokale Tabelle zeigt eben auch, dass gerade die westdeutschen Städte unter der zunehmenden Einkommensspreizung immer stärker leiden. Hier leben zwar viele Menschen, die mit den konjunkturellen Lohnsteigerungen immer stärker verdienen. Aber unten, bei den Niedriglöhnen und Sozialleistungen, sind die Steigerungen nur minimal – mit dem Ergebnis, dass der Anteil der als armutsgefährdet Geltenden dort entweder stagniert oder sogar steigt.
Wobei einige der Vergleichstädte mittlerweile deutliche Probleme haben, ihren Einwohnern überhaupt noch genug auskömmliche Arbeitsplätze zu bieten. Der Einkommensmedian von Nürnberg liegt mit 1.488 Euro mittlerweile knapp unter dem von Leipzig (1.499 Euro), Duisburg liegt mit 1.361 Euro schon deutlich drunter. (Dresden liegt dafür mit 1.627 Euro weit darüber.) Was eben auch bedeutet, dass selbst diese einst prosperierenden Weststädte mittlerweile soziale Problemlagen haben, die lange Zeit eher eine „arme“ Stadt wie Leipzig beschäftigt haben.
Raus ist Leipzig aus dem Dilemma noch lange nicht. Es scheint nur so.
Ein wesentlicher Faktor für Leipzigs Verbesserung im Einkommensspiegel ist ja mittlerweile die Tatsache, dass ältere Arbeitnehmer nicht mehr einfach wegen ihrs Alters gefeuert werden, sondern – mit relativ gutem Einkommen – bis zur Rente und drüber hinaus beschäftigt werden. Aber selbst bei jungen Arbeitnehmern unter 25 sinkt die Arbeitslosenquote – man lässt die jungen Leute nicht mehr einfach hängen, bloß weil sie im sächsischen Bildungssystem gescheitert sind. Und viele Frauen profitieren davon, dass deutlich mehr Teilzeitarbeitsplätze entstanden sind.
Das ist ein eigenes Thema.
Aber der Beitrag war wohl doch einmal fällig, weil das Schlagwort von der „Armutshauptstadt“ noch immer durch die Medien geistert, obwohl mittlerweile klar ist, dass einige westdeutsche Städte noch mit wesentlich größeren Problemen im wirtschaftlichen Strukturwandel zu kämpfen haben. Und ausgestanden ist das noch lange nicht. Die moderne Deindustrialisierung hat viele Folgen. Und viele davon hätte man so viel früher sehen und berücksichtigen können.
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