Manchmal fragt man sich, warum es auf allen Ebenen der Politik qualifizierte Statistische Ämter gibt, wenn die handelnden Politiker die Zahlen dann doch einfach ignorieren und ihr Ding machen? Kann es sein, dass auch die heute in Funktionen Agierenden die Verbindung zwischen den Zahlen und der Wirklichkeit nicht hinbekommen? Beispiel: Geburten. – Wobei: Weiß überhaupt ein Politiker, ob er sich Geburten wünscht? Meist hat man ja das Gefühl, das ist den Herren im Anzug völlig wurscht. Halt wie immer.

Denn wer sich die Lebensbedingungen und Arbeitswelten in Deutschland anschaut, der hat nicht unbedingt das Gefühl, dass das Land viele Kinder haben möchte. Man diskutiert das zwar seit Jahren emsig unter der Formel „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“.

Aber wenn junge Frauen dann im Berufsleben ankommen, merken sie schnell: Hier haben Männer die Normen gesetzt, die sich nie im Leben um Haushalt und Kinder kümmern müssen. Reiche, von Effizienz besessene Männer. Hier geht es um volle Einsatzbereitschaft über 8 plus x Stunden, um Mobilität und Fitness (eine Botschaft, die bei Frauen besonders gut ankommt: Noch stärker als die Männer unterwerfen sie sich der Selbstoptimierung).

Und das längst auch in sogenannten frauentypischen Berufen, die vor allem (wie der Linke Gregor Gysi so gern formuliert) deshalb als frauentypisch bezeichnet werden, weil sie so grottenschlecht bezahlt werden: Pflegeberufe, Erziehungsberufe, Schönheits- und Dienstleistungsberufe – die ganze Liste rauf und runter. Wenn es alle diese Tätigkeiten nicht mehr gäbe, würde zwar nichts mehr funktionieren im Land. Sie werden nur nicht so bezahlt.

Und gerade junge Menschen haben in der Regel nicht nur extrem lange Ausbildungszeiten, bevor sie überhaupt im Berufsleben ankommen. Sie stehen dann mit Mitte 20 auch vor dem Problem: Wie finanziere ich jetzt einen eigenen Hausstand? Ist genug Geld für ein Kind in der Haushaltskasse? Ist der Job schon so sicher, dass man auch mal eine Auszeit für die Kinder nehmen kann?

Eigentlich wäre es mal Zeit, dass jemand die jungen Leute flächendeckend befragt, wie sie das sehen. Die Fakten jedenfalls besagen, dass die Sicherheit der jungen Menschen, dass das mit dem Kind problemlos klappen kann, weg ist. Und zwar so ziemlich genau seit 28 Jahren.

Damals machte ja auch Leipzig die drastische Erfahrung, was es heißt, wenn zehntausende junger Menschen einfach die Koffer packen, weil es in der Stadt keine Arbeitsplätze mehr für sie gibt. 100.000 Menschen verlor ja Leipzig allein in den ersten zehn Jahren nach der Einheit, die meisten davon junge Leute.

Die Geburtenzahlen brachen entsprechen massiv ein von über 7.000 auf knapp 3.000. Die Fertilitätsziffer, wie es die Statistiker nennen, sank auf 0,8 Kinder pro Frau im geburtsfähigen Alter. Eine katastrophale Zahl, wenn man bedenkt, dass eine Gesellschaft im Grunde 2,1 Kinder je Frau braucht, um sich selbst zu erhalten. Man müsste also zu den Frauen besonders freundlich sein. Auch auf dem Arbeitsmarkt.

Erst Ende der 1990er Jahre wich so langsam das Gefühl einer permanenten Katastrophe, die Geburtenzahlen stiegen wieder.

Und 2016 waren Leipzigs Statistikerinnen und Statistiker sogar regelrecht euphorisch. Das war ja nicht nur das Jahr, in dem sie Leipzig sogar ein mögliches Wachstum auf über 700.000 Einwohner prognostizierten. Die Fertilitätsrate war in den Jahren davor immerfort gestiegen – auf 1,44 im Jahr 2014, 1,47 im Jahr 2015. Aber seitdem stagniert sie wieder.

Was vor allem einen Grund hat, der in den Zahlen mittlerweile sichtbar wurde: Hier machte sich das Eintreffen vieler junger Frauen bemerkbar, die nach ihrer Flucht aus Afrika oder Asien auch in Leipzig anlangten. Eigentlich sind es nicht wirklich viele im Vergleich zu den Frauen mit eh schon sächsischem Hintergrund. Aber sie bekommen in sehr jungem Alter Kinder und dann meistens drei bis vier, nicht nur ein bis zwei wie ihre deutschen Geschlechtsgenossinnen.

Das hat die Fertilitätszahl kurzfristig ein wenig steigen lassen.

Aber der Beitrag von Andrea Schultz im neuen Quartalsbericht zeigt auch, dass so ein Effekt sich mit der Zeit nivelliert – zum Beispiel weil die Frauen aus diesen Migrantenfamilien sich nach und nach an die üblichen Standards im Ankunftsland anpassen. Was auch die bundesweite Statistik so ausweist: Nach jeder Ankunft von Migrantengruppen war die Geburtenzahl in dieser Gruppe jeweils deutlich höher als die deutsche – und sank dann binnen weniger Jahre deutlich ab, glich sich der deutschen Durchschnittszahl von 1,45 an.

Wobei die (west-)deutsche Statistik besonders interessant ist, denn noch 1970 war es auch in Westdeutschland üblich, dass eine Frau zwei Kinder bekam. In der DDR war das übrigens bis 1989 der Fall.

Das heißt: Es muss äußere Entwicklungen gegeben haben, die junge Familien dazu brachten, lieber nur ein Kind großzuziehen und auf ein Geschwisterkind zu verzichten.

Denn das sagt ja die Fertilitätszahl von jetzt 1,45 in Leipzig aus: Die meisten Familien bekommen nur ein Kind. Nur in etwas weniger als der Hälfte der Familien dürfen sich die Kinder dann auch noch über Geschwister freuen.

Eine Vermutung, warum das so ist, haben wir oben geäußert.

Es ist auch ziemlich sicher, dass es nicht nur ein Faktor (also die familienunfreundlichen Arbeitsbedingungen) ist, der das beeinflusst. Denn es kommen ja auch noch echte Knappheitsfaktoren hinzu – man denke nur an die immer noch nicht ausreichenden Kita-Plätze in Leipzig, an den aufkommenden Mangel an Schulplätzen.

Und natürlich spielt auch etwas Psychologisches eine Rolle, das Hans Rosling in seinem Buch „Factfulness“ benannt hat: Kinder sind keine Altersvorsorge mehr wie in ärmeren Ländern, wo Kinder sich auch um die nicht mehr erwerbsfähigen Eltern kümmern müssen.

Und man bekommt auch den Beitrag zu den Single-Haushalten nicht aus dem Kopf. Die Fertilitätsrate suggeriert ja, dass alle Frauen mindestens ein Kind bekommen. Aber viele Alleinlebende sind eben auch junge Frauen, die sich gegen ein Kind entschieden haben. Oder die den Partner dazu nicht finden.

Das heißt: Einige Familien in Leipzig – auch ur-sächsische – bekommen tatsächlich mehr Kinder. Bei den Statistikern werden die hier zu findenden Mütter als „hoch fertile Frauen“ bezeichnet. Wobei hoch fertil eben nicht, wie im Mittelalter, noch sechs, acht oder zehn Kinder bedeutet (von denen die meisten im Kleinkindalter starben), sondern eher 3 oder 4.

Dass das alles sehr mit den Berufskarrieren zusammenhängt, zeigt ja die radikale Verschiebung jenes Punktes, an dem die meisten Frauen ihr erstes Kind bekommen. 1989 lag dieser Zeitpunkt noch bei 20 Jahren. Beruf und Familie waren – nach damaligen Maßstäben – vereinbar. Kinder bedeuteten keine Gefahr für die Karriere oder gar den Arbeitsplatz.

Das hat sich drastisch geändert. Die meisten Leipziger Frauen bekommen ihr erstes Kind heute mit 29. Da lag die Spitze übrigens auch schon 2013. Und da kam Sozialbürgermeister Fabian schon ganz schön ins Galoppieren, weil die nötigen Kita-Plätze fehlten. Aber 29, das heißt: Erst zu diesem Zeitpunkt haben die meisten Frauen das Gefühl, dass sie wirtschaftlich auf so festen Füßen stehen, dass ein Kind jetzt kein Risiko mehr für die kleine Familie ist.

2017 lag diese Spitze übrigens immer noch bei 29 Jahren. Aber etwas Signifikantes hat sich verändert. Bis zum 32. Lebensjahr gibt es quasi ein Geburtenplateau. Die Geburtenfreude der Frauen sackt nach dem 29. Lebensjahr nicht gleich wieder ab (wie noch 2013), sondern bleibt noch drei Jahre länger relativ hoch. Was mit etwas zu tun hat, über das sich die Statistiker seit ein paar Jahren besonders freuen: dass „der Trend wieder zum Zweitkind geht“. Was freilich eher nichts mit einem Modetrend zu tun hat, sondern ebenfalls wieder handfeste wirtschaftliche Gründe haben muss. Vielleicht sogar simple finanzielle: Junge Familien haben endlich so hohe Einkommen, dass auch zwei Kinder kein Problem mehr sind.

Aber das sind schon Vermutungen. Es scheint ja wirklich niemanden zu geben, der das einmal systematisch abfragt. Wobei man wahrscheinlich richtig vermutet, dass das die politisch Verantwortlichen gar nicht wissen wollen. Denn das könnte die derzeit üblichen Vorstellungen von Flexibilität, Mobilität, „Frauenberufen“, Arbeitsmarkt und so weiter infrage stellen. Es könnte unbequem sein, wenn so eine Erhebung ergäbe, dass die aktuelle Politik in Sachen Familienfreundlichkeit nicht viel taugt.

Wohin geht die Reise? Es sieht ganz so aus, dass die Geburtenzahlen in Leipzig nicht weiter steigen werden. Wahrscheinlich bleiben sie erst einmal im Bereich von 7.000 Geburten hängen. Womit sich zumindest bei Kitas irgendwann die Lage entspannen sollte.

Einige Grafiken zeigen die unterschiedliche Geburtenfolge auch nach Bereichen in der Innenstadt und im Außenring. Wobei die Innenstadtgrafiken deutlich das typisch „deutsche“ Muster zeigen: Die Frauen hier bekommen weniger Kinder, mit 29 meistens das erste. Und gar nur die Innenstadt genommen, wird das Ganze noch bizarrer. Da verschiebt sich die Spitze sogar aufs 32. Lebensjahr und die Frauen bekommen im Schnitt nur noch 1,33 Kinder. Und das sind ja nun eigentlich Leipzigs reichere Quartiere. Das heißt: Das steigende Einkommen erhöht die Zahl der Kinder pro Familie nicht.

Mehr Kinder werden hingegen im „Stadtrand 1“ geboren – wo auch die Großwohnsiedlungen liegen. Aber es sind augenscheinlich nicht nur die Frauen aus Migrantenfamilien, die hier mehr Kinder bekommen, sondern auch viele Einheimische – hier gibt es praktisch zwischen dem 25. und 33. Lebensjahr der Mütter viele Geburten. In der Summe kommen trotzdem nur 1,65 Kinder je geburtsfähiger Frau dabei heraus. Auch das natürlich zu wenig. Oder zu viel, wenn man bedenkt, wie viele Kinder aus den sogenannten „bildungsfernen Familien“ dann in unserem Bildungssystems frustriert und ausgebremst werden.

Was das Licht auf einen Faktor lenkt, den alle Mütter und Väter im Kopf haben, weil man in einer derart von „Wettbewerb“ gepeitschten Gesellschaft gar nicht anders denken kann: Welche Chancen hat das Kind eigentlich in dieser Welt?

Wenn man so denkt, wird selbst in reicheren Familien deutlicher, warum dort alle Power in ein einziges Kind investiert wird.

Klingt irgendwie nach einem sehr bekloppten Wirtschaftssystem. Eines, in dem nirgendwo mehr verankert scheint, dass es eigentlich um Menschen geht. Nicht um Rendite und fröhliche Aktionäre.

Das große Rätsel der wachsenden Zahl allein lebender Menschen in Leipzig

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Es gibt 2 Kommentare

Bei aller Statistik wird wohl nur eine systematische Abfrage weiterhelfen. Denn es sind konkrete Bedingungen die eine Frau zu entscheiden hat. Das Kinder in vielen Fällen im Arbeitsleben als “Belastung” erscheinen möchte ich bestätigen. Bequem ist ein Leben mit Kindern keinesfalls, man muss das Leben MIT Kindern WOLLEN. Es wird gesellschaftlich nicht besonders anerkannt, außer das später junge Männer für das Militär gesucht werden. Die, die man unter Entbehrungen bis dahin gebracht hat. Welch ein Irrsinn.

Kinder bekommt man eher ‘trotzdem’, weil man kein Leben ohne will. Und gleich nach der Geburt bekommt man den ersten Dämpfer: Beim Versuch, einen Kinderarzt zu finden. Und so geht’s dann weiter…

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