Wenn in Deutschland über „Hartz IV“ und die damit verbundene Sanktionspraxis diskutiert wird, dann geht es nicht um eine rationale Diskussion, sondern um ein Grundverständnis von Arbeit. Die liberale Einstellung „Menschen wollen arbeiten, weil das zu ihrer Persönlichkeitsentfaltung gehört“ prallt auf die alte Feudalherrenhaltung: „Menschen müssen zur Arbeit gezwungen werden, dafür ist jedes Zwangsmittel recht“. Drei Mal darf man raten, welche Haltung bei deutschen Experten dominiert.
Zum Beispiel bei der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V., die 2015 in einer Bundestagsanhörung mit der Äußerung auffiel: „…das starke Fördern korrespondiert auch mit dem stärkeren Fordern. Denn gerade zu Beginn der Berufslebensphase halten wir es für besonders wichtig, durch diese Anreizsysteme, durch Anreizwirkung, die mit den Sanktionen verbunden sind, den Anstoß zu geben, ein letztlich vernünftig geleitetes Handeln anzunehmen.“
Das ist fast schon unverhüllt der obrigkeitliche Erziehungsgedanke, junge Menschen, die besonders oft von Sanktionen betroffen sind, müssten erst dazu erzogen werden, sich dem Arbeitsregime unterzuordnen. Durch “Anreize”.
Normalerweise sind Anreize gute Gehälter, attraktive Jobs, gute Qualifizierungslehrgänge usw.
Denn dass viele junge Menschen nach ihrem Schulabschluss meist demotiviert sind, hat ja auch mit den seltsamen Anreiz-Systemen in der Schule zu tun, die ja auch dazu da sind, junge Menschen zum widerspruchslosen Funktionieren zu bringen.
Kaum ein Themenfeld macht so sichtbar, wie sehr die politischen Entscheider in Deutschland noch immer im Denken preußischen Untertanengeistes gefangen sind.
Und die Begründungen der Arbeitsagenturen für ihre immer wildere Sanktionspraxis klingen um so beschämender.
“Die Jobcenter mussten im letzten Jahr 952.840 Sanktionen gegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte (sog. „Hartz IV-Empfänger“) aussprechen. Die Zahl der Leistungskürzungen ist damit im Vergleich zum Vorjahr geringfügig um 13.700 gestiegen”, meldete am Mittwoch, 11. April, die Bundesarbeitsagentur. “Die Sanktionsquote – also das Verhältnis von verhängten Sanktionen zu allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten – lag im letzten Jahr unverändert bei 3,1 Prozent.”
„Die allermeisten Leistungsberechtigten halten sich an die gesetzlichen Spielregeln, nur ein ganz geringer Teil wird überhaupt sanktioniert“ sagt dazu Detlef Scheele, Vorstandsvorsitzender der BA.
Den Satz muss man sich einfach auf der Zunge zergehen lassen. Menschen auf der Suche nach Arbeit, die man in der auf modern getrimmten Arbeitsagentur als Kunden bezeichnet, bekommen vom Chef der Agentur ein Verhaltenszeugnis. Sie “halten sich an die gesetzlichen Spielregeln”.
Drei von vier Sanktionen entfallen auf „Meldeversäumnisse“
Mit 77 Prozent entfällt ein Großteil der Sanktionen auf Meldeversäumnisse, meldet die BA. Und dann verklärt sie ihre Praxis dadurch, dass sie sie als unausweichlich darstellt: “Im letzten Jahr mussten die Jobcenter 733.800 Leistungsberechtigten aus diesem Grund eine Sanktion aussprechen und die reguläre Regelleistung um jeweils zehn Prozent absenken.”
Mussten?
Wenn 733.800 Menschen bestraft werden mussten, erzählt das von einem schikanösen System. Wobei schon seit ein paar Jahren auffällt, dass die Sanktionszahlen steigen, obwohl die Zahl der „Hartz IV“-Bezieher sinkt. Eine kleine Gruppe von Menschen wird immer wieder bestraft – als wenn diese Agentur nichts dazulernen würde. Man verschärft den Rhythmus nur immer mehr.
„Drei von vier Sanktionen entstehen schlicht deshalb, weil vereinbarte Termine im Jobcenter gar nicht erst wahrgenommen werden. Dabei bieten die Jobcenter auch einen Erinnerungsservice per SMS an“, sagt Scheele.
Aber für die Weigerung, eine Arbeit oder Maßnahme aufzunehmen – oder den Abbruch – wurden 98.860 Sanktionen ausgesprochen, Pflichtverletzungen gegen die Eingliederungsvereinbarung führten in 83.380 Fällen zu einer Leistungskürzung.
Jugendliche besonders von Sanktionen betroffen
Von Sanktionen sind junge Menschen unter 25 Jahren stärker betroffen. Denn die vom Züchtigen begeisterten Politiker haben hier besonders schnelle Sanktionen zur Norm gemacht. So sieht das Gesetz bei Jugendlichen bereits beim ersten Regelverstoß, der über ein Meldeversäumnis hinausgeht, eine hundertprozentige Sanktion der Regelleistung vor. Kommt innerhalb eines Jahres ein weiterer Pflichtverstoß dazu, kann auch die Miete gekürzt werden.
Ergebnis: 15 von 100 jungen Menschen in „Hartz IV“ bekamen im vergangenen Jahr mindestens eine Sanktion verpasst. In Sachsen eher vier, denn die Erzieherinnen der Jobcenter werden ja dazu angehalten, die jungen Leute in immer kürzeren Abständen vorzuladen, in Maßnahmen zu nötigen und bei Nichtgehorchen – zu sanktionieren.
„Das bereitet uns Sorge, weil die strikten Sonderregelungen bei Jugendlichen zu besonders einschneidenden Leistungskürzungen führen“, sagt Scheele und zeigt sich hier offen für Veränderungen. Denn die Gesetze macht nun einmal der Gesetzgeber. Und solange alle liberalen Parteien dem Zuchtmeister CDU/CSU hinterhertraben, wird es bei dieser feudalen Züchtigungspraxis bleiben.
Die nun einmal nicht modern ist. Sie setzt nur mit sturer Politik fort, was man schon im Schulsystem an Unsinn zusammenreformiert hat. Und man belässt es ja nicht beim Eingriff ins Lebensminimum.
Auch die Kürzung der Miete, von der sowohl Jugendliche als Erwachsene bei wiederholten Verstößen betroffen sind, sieht Scheele problematisch: „Drohende Wohnungslosigkeit hilft uns bei der Vermittlung und auch sonst nicht weiter.“
Da wären wir dann schon in Sachsen, einem Bundesland, wo besonders gern und oft sanktioniert wird. Nur in Berlin geht es noch zuchtmeisterlicher zur Sache.
Lauter „verpatzte Termine“?
Auch Sachsens Arbeitsagentur tut so, als wären die verhängten Sanktionen eine Art Polizeipflicht: „Im vergangen Jahr mussten die sächsischen Jobcenter insgesamt 63.700 Sanktionen aussprechen, 2.800 weniger als ein Jahr zuvor. Die durchschnittliche Sanktionsquote lag im vergangenen Jahr bei 3,7 Prozent und beweist, dass sich 96,3 Prozent der hilfebedürftigen Frauen und Männer an ihre Termine, Pflichten und Vereinbarungen gehalten haben.“
Nein, tut sie nicht. Andere Bundesländer kommen nur auf 2,5 bis 2,9 Prozent. Mit 3,7 Prozent liegt Sachsen deutschlandweit auf Rang 2 hinter Berlin – ein Zeichen dafür, dass in Sachsen besonders viel und willkürlich sanktioniert wird.
„Die meisten der in den Jobcentern gemeldeten Menschen verhalten sich richtig, wollen arbeiten und bemühen sich um Arbeit oder Ausbildung. Deshalb haben sie neben der Beratung und Förderung auch volle finanzielle Unterstützung erhalten“, sagte Klaus-Peter Hansen, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit (BA), anlässlich der veröffentlichten Jahresstatistik.
„Volle finanzielle Unterstützung“? Es ist nach wie vor nur Mindestsicherung. Nicht mehr. Unterstützung sieht anders aus.
Sachsens Jobcenter haben im Jahr 2017 insgesamt 63.650 Sanktionen gegenüber erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aus der Grundsicherung ausgesprochen. Die häufigsten Gründe für Leistungskürzungen waren nicht eingehaltene Termine beim Jobcenter (79,8 Prozent oder 50.801), Ablehnung der Aufnahme einer Bildungsmaßnahme, Ausbildung oder Arbeit (10,3 Prozent oder 6.557) und auch das Versäumnis, vereinbarte Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung umzusetzen (6,8 Prozent oder 4.322).
Im Vergleich zum Jahr 2016 sind 2.766 weniger Sanktionen ausgesprochen worden (minus 4,2 Prozent).
Und dann kommt es. Denn Sanktionen hängen immer vom Goodwill der Sachbearbeiter ab. Da kann dann auch mal die Sanktionspraxis etwa gelockert werden. So wie 2017 in Sachsen. „Die kräftigsten Rückgänge gab es im Bereich der Sanktionen wegen nicht eingehaltener Vereinbarungen mit dem Jobcenter (minus 13,8 Prozent) und der Ablehnung einer Bildungsmaßnahme oder Beschäftigung (minus 7,4 Prozent). Unterdurchschnittlich ist der Rückgang bei den Sanktionen im Bereich der Meldeversäumnisse (minus drei Prozent).“
63.500 Sanktionen gegen 8.800 meist junge Menschen
Die Sanktionsquote lag 2017 bei 3,7 Prozent. Das bedeutet: Im Jahr 2017 wurden durchschnittlich bei 3,7 Prozent der jahresdurchschnittlich 236.000 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Grundsicherungsleistungen wegen einer Pflichtverletzung gekürzt, so die sächsische Arbeitsagentur. Das sind 8.800 Menschen, denen der Lebensunterhalt nicht nur ein Mal gekürzt wurde, sondern im Schnitt vier Mal.
Wie bereits in den Vorjahren erfolgte diese Bestrafung am häufigsten bei Jugendlichen unter 25 Jahren (Sanktionsquote: 5,3 Prozent). Bei den Älteren hingegen lag die Sanktionsquote mit 0,8 Prozent auf vergleichsweise geringem Niveau. Die durchschnittliche Höhe der Leistungskürzung lag vergangenes Jahr in Sachsen bei 108 Euro. Pro Quartal. Denn die Leistung wird ja immer nur quartalsweise bewilligt. Da aber die meisten Betroffenen mehrmals sanktioniert wurden, haben sie in der Regel am Jahresende einen kompletten Monatssatz „Hartz IV“ eingebüßt.
Macht sich überhaupt jemand in dem riesigen Apparat Gedanken über die Ursache?
Nicht wirklich. Das ganze „Hartz IV“-Paket lebt von einem simplen Grundgedanken: Wo es ganz viele Jobs gibt, müssen die jungen Leute nehmen, was da ist. Egal, ob sie wollen oder nicht.
In gewissen früheren Zeiten nannte man so eine Art Erziehung „den Willen brechen“. Oder: „Einsicht in die Notwendigkeit“. Oder: „Bist du nicht willig, dann …“
Im Kauderwelsch der „Hartz IV“-Praxis klingt das so: „Sanktionen haben keinen Selbstzweck. Vielmehr steckt hinter den Sanktionen der Ansatz des ‚Forderns und Förderns‘. Sanktionen bringen den Jobcentern keine Vorteile. Vielmehr binden sie in der Umsetzung die Ressourcen der Jobcenter unnötig.“
Die Sanktionen sind also auch noch völlig überflüssiger Unfug, nichts anderes als ein „Zeichen“, mit dem die, die das Geld verteilen, ihre Macht demonstrieren.
„Sanktionen sind für die betroffenen Menschen und die Jobcenter bedauerlich. Denn bei der aktuell guten Arbeitsmarktlage können wir viele gute Angebote unterbreiten“, vergießt Hansen dann auch noch ein paar Krokodilstränen. „Weil die Mitarbeiter der Jobcenter möglichst viele Menschen in reguläre und dauerhafte Arbeit bringen wollen, werden sehr häufig Termine vereinbart. Das erhöht das Risiko für einen geplatzten Termin im Jobcenter – ohne dass es dafür vernünftige Gründe gibt.“
Wer erhöht hier das Risiko? Der Sachbearbeiter, der die jungen Menschen mit immer mehr Terminen bombardiert, weil er seine „Integrationsquote“ erfüllen muss?
Sanktionen zwingen zu miserabel entlohnten Tätigkeiten
Aber auch das zur Arbeitsagentur gehörende IAB hat sich mit dem Thema Sanktionen beschäftigt. Man traut sich dort nicht wirklich Klartext zu reden. Aber eigentlich gesteht man zu, dass die Sanktionen vor allem dazu dienen, junge Menschen in schlecht bezahlte Jobs zu drängen.
Das steckt in diesem Ergebnis: „Besonders einschneidende Sanktionen für Unter-25-Jährige führen unseren Befunden zufolge dazu, dass die Abgangsrate junger ALG-II-Bezieher in ungeförderte versicherungspflichtige Beschäftigung bei einer ersten Sanktion deutlich ansteigt. Eine wiederholte Sanktion innerhalb eines Jahres verstärkt diese Wirkung. Eine Arbeitsaufnahme infolge von Sanktionen ist aber mit Einbußen bei den Tagesentgelten verbunden, allerdings nur aufgrund der ersten Sanktion. Künftig sollte untersucht werden, ob diese Lohneinbußen bei verschiedenen Personengruppen nur zum Zeitpunkt der ersten Beschäftigungsaufnahme vorliegen, oder auch mittel- und langfristig. Dann könnten den Betroffenen materielle Einbußen nicht nur durch die Sanktion entstehen, sondern auch durch verminderte Erwerbseinkommen im weiteren Erwerbsverlauf.“
So wird der Niedriglohnsektor in Deutschland beschickt. So werden Armutskarrieren geschaffen. Alles staatlich „gefördert“ und betrieben. Dass Sachsen hier ganz vorne mit dabei ist, wundert da nicht mehr.
Leipzig war an der Stellungnahme des Deutschen Städtetages zur Sanktionspraxis der Jobcenter nicht beteiligt, aber Stefan Hahn findet Sanktionen prima
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Völlig richtig!
Da geht noch was.
(Bei über 3.600 Sanktionen PRO TAG kannman sicher noch ne Schippe drauflegen und Gelder sparen, die man dann besser in die Vewaltung steckt). Bisher konnten so über 2 Milliarden eingenommen werden, für nicht angenommene Vermittlung von Arbeit, die man gar nicht hat…