Den zweiten Artikel im Quartalsbericht Nr. 2 für 2016 zur Arbeitslosigkeit in Leipzig hat Lars Kreymann verfasst. Er hat die kompletten zehn „Hartz IV“-Jahre von 2005 bis 2015 ins Auge gefasst. Und offiziell sinkt ja die Arbeitslosenrate. 2005 lag sie bei heute kaum noch vorstellbaren 20,8 Prozent. Im Juni 2016 waren es noch 8,7 Prozent. Da erwartet man eigentlich, dass sich fast alle Zahlen mehr als halbiert haben. Haben sie sich aber nicht.
Was eben daran liegt, dass die Arbeitslosenversorgung zu einem bürokratischen Moloch geworden ist, der die ihm übergeholfene Aufgabe, sich auch um die Sozialbedürftigen zu kümmern, als Zuchtmeisterei versteht, aber nicht zu lösen vermag. Weil die Grundphilosophie falsch ist. Die stammt aus dem neoliberalen Baukasten, mit dem FDP und CDU vor 1998 von Haustür zu Haustür rannten und das Zeug feilboten wie Weißwürste – aber keiner wollte es haben.
Später packte dann Peter Hartz alles auf eine CD und jubelte es Bundeskanzler Gerhard Schröder (wundersamerweise Mitglied der SPD) als „Agenda 2010“ unter. Die meisten der Vorschläge, die Peter Hartz hier bei den neuliberalen Arbeitsmarktderegulatoren abgeschrieben hatte, sind längst wieder vom Markt verschwunden – und zwar so ziemlich alle, die mal unter dem Schlagwort „Fördern“ angepriesen wurden. Übrig blieben die „Fordern“-Bestandteile, die das Verwaltungsimperium der Arbeitslosen fast nur noch als Sanktion begreift.
Das Zuckerbrot ist weg. Die Peitsche wurde inzwischen mit Dornen bestückt. Soll ja keiner auf der faulen Haut liegen in Deutschland.
Es nutzt nur nichts. Die Arbeitsagentur schafft keine Arbeitsplätze. Sie kann bestenfalls, wenn welche da sind, versuchen, Leute zu vermitteln. Aber die meisten Leipziger warten gar nicht darauf, dass ihnen das überforderte Amt, das so gern Agentur sein will, irgendeinen Job aufnötigt. Sie suchen sich selber welche.
Übrig bleibt logischerweise jene Bevölkerungsgruppe, die vor dem CD-Auftritt des Peter Hartz Sozialhilfe bekommen hätte, weil sie aus verschiedensten Gründen auf den konkret vorhandenen Arbeitsmarkt nicht vermittelbar ist.
Mit dem beschäftigt sich die Arbeitsagentur nicht wirklich. Sie bekommt bestenfalls mit, welche Branchen was für Leute suchen. Aber nicht, ob es Arbeitsplätze für Ältere, gesundheitlich Eingeschränkte, Über- oder Unterqualifizierte, Alleinerziehende oder Kinderreiche gibt.
Deswegen verschwanden seit 2005 vor allem jene Leipziger aus der Arbeitslosenstatistik, die tatsächlich vermittelbar waren, wenn es Jobs gab. Und seit 2005 ist das Jobangebot in Leipzig permanent gewachsen – von 188.854 Erwerbstätigen im Jahr 2005 auf 253.455 sv-pflichtig Beschäftigte im Dezember 2015. Ein sichtlich wachsender Arbeitsmarkt hat einfach alles aufgesogen, was qualifizierbar, mobil und einsetzbar war.
Übrig blieben und bleiben all jene, die auch bei Bewerbungen immer ganz hinten anstehen. Langzeitarbeitslose zum Beispiel – die Menschen, die erst gar nicht rauskommen aus der Mühle, und wenn, dann meist für klägliche Jobs auf Zeit. Ihr Anteil lag 2012 bei 33,8 Prozent aller Arbeitslosen und 2015 bei 34 Prozent.
Bis 2012 war der Anteil der Langzeitarbeitslosen gesunken – stadtweit. Aber dann gab es einen deutlichen Knick, stellt Kreymann fest: In allen Stadtbezirken stieg ihr Anteil wieder an. Übrigens ein ähnlicher Effekt wie bei den älteren Arbeitslosen über 55 Jahre.
Die absoluten Zahlen sanken. Auch wenn es naheliegt, dass die Betroffenen in beiden Gruppen nicht wirklich auf dem Arbeitsmarkt gefragt waren, sondern in „Ruhestand“ geschickt wurden. Beide Gruppen hatten kaum noch Anteil an der Entwicklung des Arbeitsmarktes. Und – das zeigen die monatlichen Berichte der Arbeitsagentur – die Gruppen schmelzen vor allem deshalb, weil sie keinen Nachschub mehr bekommen. Die großen Kündigungswellen, die Leipzigs Arbeitsmarkt von 1991 bis 2005 dominiert hatten, haben aufgehört. Nicht gleich 2010, als die ersten halbierten Ausbildungsjahrgänge bei den Unternehmen ankamen. Aber wie Kreymann hier andeutet, mit leichter Verspätung: ab 2012.
Seitdem balgen sich Unternehmen und öffentlicher Dienst um alles, was jung, mobil und ausbildungsfähig ist. Und da sich dieser Hunger herumgesprochen hat, ziehen jedes Jahr tausende junger Leute nach Leipzig – und werden mit Kusshand genommen.
Was all jenen nicht hilft, die sowieso schon Handicaps bei der Vermittlung haben. Zu diesen Handicaps gehört auch die Welt, in der sie leben. Das wird deutlich, wenn Kreymann die Quoten der Langzeitarbeitslosen auf Ortsteilebene berechnet und in Grünau-Ost auf 42,1 Prozent kommt. Bei den SGB-II-Quoten sieht es ganz ähnlich aus, denn dann sind ja meist nicht nur die „Ernährer der Familie“ betroffen (findet man mal einen Job, der eine ganze Familie ernährt), sondern die ganze Familie. Und jetzt kommt es eher auf die Interpretation an: Landen die Betroffenen in bestimmten Stadtteilen, weil dort die Mieten so schön billig waren? Oder sorgt das Klima in einem sozial durchwachsenen Stadtgebiet dafür, dass Menschen in ihren Problemschleifen stecken bleiben?
Beispiel Volkmarsdorf, wo der Anteil der „Hartz IV“-Bezieher an allen Arbeitslosen mit 91,1 Prozent einen Spitzenwert erreicht. 78,6 Prozent ist der Leipziger Durchschnitt, was eh schon alles sagt über das ganze ALG-II-System: In einer von niedrigen Löhnen dominierten Landschaft rutschen viele Menschen mit Kündigung sofort wieder ins „Hartz IV“-System ab, während Menschen, die sich sowieso schon im besser bezahlten Lohnniveau verdingt haben, auch seltener in „Hartz IV“ abrutschen. Kreymann nennt Zahlen um die 40 Prozent in Althen-Kleinpösna oder Plaußig-Portitz.
Seit Jahren aber liegt die „Hartz IV“-Quote an allen Arbeitslosen bei rund 80 Prozent und sinkt nur langsam. Was vor allem davon erzählt, dass das Leipziger Lohnniveau in weiten Bereichen noch immer viel zu langsam wächst. Nur schwer lösen sich die vielen seit Peter Hartz eingeführten prekären Beschäftigungsmodelle auf. Bis ungefähr 2014 waren diese „neuen“ Jobs die Haupttriebkraft im Leipziger Arbeitsmarkt. Aber mittlerweile gibt es nicht nur den Mindestlohn, sondern einen zunehmenden Kampf um qualifizierte Arbeitskräfte. Das zwingt viele Unternehmen, die „geringfügig entlohnten“ Arbeitsverhältnisse aufzulösen und durch Vollzeitarbeitsplätze zu ersetzen.
Wie wirkungsvoll dieser Prozess ist, zeigen die Zahlen: Gab es im Juni 2014 noch 45.856 solcher geringfügig entlohnten Jobverhältnisse in Leipzig, ist diese Zahl bis Dezember 2015 auf 35.279 abgeschmolzen.
Eine Zahl steigt natürlich nach der Ankunft der Flüchtlinge im vergangenen Jahr: die Zahl der arbeitslos gemeldeten Ausländer. Von 2.990 im Jahr 2014 stieg sie auf 3.441 ein Jahr später. Was natürlich nicht bedeutet, dass die alle arbeitslos werden, sondern dass sie mit Meldung beim Arbeitsamt nun als Jobsuchende zählen. Wenn der Leipziger Arbeitsmarkt weiter so wächst, werden sie alle untergebracht. Selbst die öffentliche Verwaltung hat langsam spitz gekriegt, dass in der Stadt Menschen aus unterschiedlichsten Nationalitäten leben – und will jetzt verstärkt ein paar einstellen.
Die Stadt verändert sich.
Dazu mehr im nächsten Beitrag zum Quartalsbericht 2 / 2016.
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