Am Mittwoch, 29. Juni, hat die Mindestlohnkommission die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland auf 8,84 Euro je Stunde ab Anfang 2017 festgelegt. Die Bundesregierung muss nun prüfen, ob sie dieser Empfehlung folgt und den gesetzlichen Mindestlohn per Rechtsverordnung zum 1. Januar 2017 anhebt. Und wieder prallen Zustimmung und Owei-Rufe aufeinander.
Dabei hat die Einführung des Mindestlohns in Sachsen vor allem positive Effekte gehabt und eine über 15 Jahre propagierte Niedriglohn-Politik beendet.
Worum es eigentlich geht, betonte am Mittwoch Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD): „Die geplante Anhebung des Mindestlohns auf 8,84 Euro ist eine gute Nachricht für die Beschäftigten in Sachsen, die zum großen Teil vom Mindestlohn leben. Jeder vierte sächsische Beschäftigte erhält derzeit den Mindestlohn. Aber wir müssen auch aufpassen, dass wir den Mindestlohn nicht als soziale Wohltat feiern. Der Mindestlohn ist immer noch eine Sittlichkeitsgrenze, die wir eingeführt haben. Dennoch bin ich froh, dass es diese schrittweise Erhöhung gibt.“
DGB-Bezirksvorsitzende Iris Kloppich hält den Kompromiss mit der Arbeitgeberseite für vertretbar: „In Sachsen kommt die erste Erhöhung des Mindestlohns rund 370.000 Geringverdienern zu Gute, das ist fast jeder vierte Beschäftigte in Sachsen. Sie werden ab 1. Januar etwas besser über die Runden kommen. Der höhere Mindestlohn ist aber auch positiv für Wirtschaft sowie Steuer- und Sozialsysteme: Jeder Cent bedeutet 70 Millionen Euro mehr Kaufkraft pro Jahr – und damit mehr Steuer- und Beitragseinnahmen. Der Mindestlohn wirkt, das ist erwiesen. Gerade im Osten Deutschlands sind die Löhne der untersten Einkommensgruppe in den ‚typischen‘ Mindestlohn-Branchen innerhalb des ersten Jahres oft um zweistellige Prozentsätze gestiegen. So in Sachsen bei den Post-, Kurier- und Expressdiensten um 13,8 Prozent und im Gastgewerbe um 20,1 Prozent – um nur einige Beispiele zu nennen.“
Es geht also um Veränderungen, die erst einmal korrigieren, was in den letzten Jahren in Sachsen falsch gelaufen ist. Was übrigens auch die Zahlen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zeigen.
Dort zeigt man jetzt mal, wie Wirtschaftstheoretiker ticken, wenn sie die Welt einfach mal vom Computer aus betrachten: „Dieser Anstieg liegt deutlich über dem Anstieg der Lebenshaltungskosten und dem Produktivitätsfortschritt“, dekretieren sie. Und sind sich sicher: „Daher verschlechtert sich die Profitabilität betroffener Unternehmen noch einmal spürbar.“
„Es wäre besser, den Mindestlohn jeweils nur in moderaten Schritten zu erhöhen. Die heutige Entscheidung ist nicht ausgewogen und dürfte vor allem in Ostdeutschland auch negative Folgen haben“, glaubt Oliver Holtemöller, Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und Leiter der dortigen Abteilung Makroökonomik.
Das Institut geht felsenfest davon aus: „Als Instrument zur Armutslinderung bleibt der Mindestlohn nach wie vor ungeeignet.“
Das werden die Betroffenen sicher anders sehen. Zumindest hat das IWH den Mindestlohn nicht so schwarz gemalt, wie etwa das in Dresden heimische ifo Institut. Was man gesehen hat, war, dass der Mindestlohn gerade da Wirkung zeigt, wo in den vergangenen Jahren riesige Bereiche von prekären Beschäftigungen entstanden sind. Und genau das ist auch passiert, wenn auch schwächer als selbst vom IWH gedacht.
„Die tatsächliche Entwicklung steht qualitativ im Einklang mit der Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute, darunter das IWH, aus dem Frühjahr 2014“, schreibt das IWH in seiner Mitteilung zum Thema. „Die Institute hatten seinerzeit geschätzt, dass durch den Mindestlohn 260.000 Minijobs im Jahr 2015 verlorengehen würden und im Gegenzug 77.000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstehen würden. Der tatsächliche Rückgang der Anzahl der Minijobs im gewerblichen Bereich im Jahr 2015 beläuft sich auf 166.000. Diese Zahl wird davon überlagert, dass in einigen Bereichen unabhängig vom Mindestlohn eine sehr günstige Beschäftigungsentwicklung vorliegt.“
Diese Entwicklung der Beschäftigung war eigentlich schon vorher sichtbar. Ein Aspekt, den die meisten Wirtschaftsinstitute ausgeblendet haben. Seit 2011 ist die Wirtschaftsentwicklung auch im Osten positiv. Und dazu kam der starke Rückgang neuer Arbeitsmarktbewerber. Schon vor 2015 hatte deshalb auch der Abbau der Minijob-Verhältnisse begonnen. Und das wird so weiter gehen: Ein prekärer Beschäftigungsbereich funktioniert nun einmal nicht, wenn die Nachfrage nach Fachkräften von Jahr zu Jahr steigt.
Dumm nur, dass dazu die Zahlen noch fehlen. Das IWH: „Wie viele der weggefallenen Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt worden sind, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Eine regional differenzierende Analyse deutet allerdings darauf hin, dass insgesamt weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse durch Umwandlung von Minijobs entstanden als Minijobs weggefallen sind.“
Da muss man kein Milchmädchen sein, um sich so etwas auszurechnen. Wenn die Produktivität der betroffenen Unternehmen nicht deutlich steigt, kann man die Erhöhung des Lohns nur dadurch ausgleichen, dass man etliche prekäre Stellen streicht und dafür weniger Angestellte endlich in Vollzeit beschäftigt. Was keine Katastrophe ist. Auch wenn das IWH verbal jetzt erst einmal die Stirne runzelt: „Ferner ist weiterhin unklar, wie die Arbeitszeit von betroffenen Arbeitnehmern auf die Einführung des Mindestlohns reagiert hat. In den besonders vom Mindestlohn betroffenen ostdeutschen Bundesländern ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit Ungelernter deutlich gesunken.“
Dass die ostdeutschen Länder so stark betroffen sind, liegt natürlich daran, dass sie alle zum Experimentierfeld für die diversen Mini- und Midi-Jobs geworden sind, mit denen einige Branchen ihre Beschäftigten beglückten. Und zwar in krassem Unterschied zu den westlichen Bundesländern. Und in Sachsen wurde besonders eifrig experimentiert – selbst im Verarbeitenden Gewerbe, wo selbst „arme“ Nachbarländer wie Sachsen-Anhalt nur eine Mindestlohnbetroffenheit von unter 2 Prozent haben, kam Sachsen auf keineswegs stolz machende 5 bis 10 Prozent Betroffenheit. Ähnlich hohe Quoten gab es bei Dienstleistern, in der Land- und Forstwirtschaft und in der besonders typischen sächsischen Branche: der Zeitarbeit. Im Gastgewerbe lag die Betroffenheit sogar deutlich über 10 Prozent, womit sich Sachsen auch besonders negativ von den anderen ostdeutschen Ländern abhob.
Es war auch keine Überraschung, dass viele dieser Niedriglohnbranchen durch den Mindestlohn gezwungen wurden, ihre Preise anzuheben. Und das geschah, so betont das IWH noch einmal, „insbesondere bei der Personenbeförderung, bei der Reinigung und Reparatur von Kleidung, bei nichtmedizinischen Gesundheitsdienstleistungen und bei Zeitungen und Zeitschriften.“
Für die Zukunft malt das IWH (eigentlich ohne Grund) schon einmal ein ziemlich finsteres Bild: „In der nächsten Rezession dürfte eine zu hohe Lohnuntergrenze die Unternehmen jedoch vor größere Probleme stellen und könnte dann auch negative Beschäftigungseffekte haben. Zudem werden durch den Mindestlohn langfristig weniger neue Jobs entstehen. Davon ist Ostdeutschland stärker betroffen als Westdeutschland, hier ist die Arbeitslosigkeit immer noch deutlich höher und der Anteil der vom Mindestlohn betroffenen Arbeitnehmer deutlich höher.“ Was die Theoretiker aus Halle fürchten wie der Teufel das Weihwasser, das ist der Eingriff der Politik in den „Markt“.
Das wird deutlich, wenn sie schreiben: „Die negativen Effekte des Mindestlohns werden umso gravierender, je stärker der Eingriff in die Marktpreise ist.“
Das hat schon etwas, nachdem der Staat jahrelang die Marktpreise hoch subventioniert hat. Stichwort: „Aufstocker“. Ohne den massiven Eingriff in die „Marktpreise“ hätte es die vielen Mini-Jobs gar nicht gegeben. Es zeugt schon von einer gewissen Einäugigkeit, wenn man den einen „Markteingriff“ sieht und kritisiert, den anderen aber nicht. Wirtschaft ist auch in Deutschland kein idealer Markt. Aber genau so betrachten die deutschen Wirtschaftsinstitute das Geschehen. Und kommen immer wieder zu falschen Schlussfolgerungen.
Eine klingt zum Beispiel so: „Je höher der Mindestlohn, desto wahrscheinlicher sind negative Beschäftigungseffekte. Die durch den Mindestlohn induzierte Erhöhung der Durchschnittslöhne ist im Gastgewerbe sowie in der Landwirtschaft, insbesondere in Ostdeutschland, am stärksten ausgeprägt.“
Und? – Ein Spruch wie heiße Luft. Denn – siehe oben – die Landschaft der prekären Jobs war schon vorher im Wandel. Ihre Zahl sank, weil einfach die Nachfrage der Gesamtwirtschaft nach Vollzeitarbeitskräften deutlich stieg. Und das eben nicht erst seit dem 1. Januar 2015.
Was das IWH nun liefert, ist Schwarzmalerei. Und das Wort ist wahrscheinlich nicht zu stark gewählt bei so einem Statement: „Die gegenwärtig nur geringen Beschäftigungseffekte des Mindestlohns sind jedoch kein Grund, dieses Instrument nicht weiter deutlich zu kritisieren. Der Mindestlohn ist eine verteilungspolitische Nebelkerze. Er ist zur Reduktion von Armut kaum geeignet. Besonders ausschließlich geringfügig Beschäftigte (Minijobs) und Teilzeitbeschäftigte sind vom Mindestlohn betroffen. Diese Menschen können auch mit Mindestlohn nicht von ihren Lohneinkünften leben. Sie sind oft auf Transferleistungen des Staates angewiesen – mit und ohne Mindestlohn. Rechnet man Lohn und Sozialleistungen zusammen, profitieren sie nicht. Es profitieren lediglich diejenigen, die gleichzeitig nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind, ihren Job behalten und mindestens die gleiche Stundenzahl wie zuvor arbeiten.“
Aber gerade die Zahl der „geringfügig Beschäftigten“ sinkt, während die Zahl der Vollzeitbeschäftigten steigt.
Nichts hingegen hat der Mindestlohn an einem anderen Feld geändert. Holtemöller: „Armutsbekämpfung muss an den wichtigsten Ursachen von Armut ansetzen: zu geringe Qualifikation (häufig auch fehlender Schulabschluss), Krankheit und nicht ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten insbesondere für Alleinerziehende.“ Aber indem er jetzt diese Problemgruppen nennt, weicht er völlig vom Thema ab. Das sind tatsächlich die Hauptproblemgruppen in den Jobcentern, aber dass sie es sind, hat nichts mit zu hohen oder zu niedrigen Löhnen zu tun und auch nicht mit dem Mindestlohn. Da hat das IWH Äpfel mit Birnen verglichen.
Nur eines steht wirklich fest: Der Mindestlohn hat die Welt gerade in den Branchen verändert, in denen zuvor die prekären Beschäftigungsverhältnisse gewuchert sind. Und das war ja eigentlich Sinn der Sache.
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Es gibt 2 Kommentare
Da der “Markt” gezeigt hat, dass man eben “unsittlich” Arbeitssuchende ausnutzt / gegeneinander ausspielt und für ethische Werte null Gefühl beweist, MUSS man die Rahmenbedingungen anpassen. Dazu gehört der Mindestlohn.
Ich plädiere nicht für Kommunismus, aber der Mindestlohn ist ein Teil des richtigen Weges.
Die sogenannten Wirtschaftsinstitute sind offensichtlich nur Fürsprecher ihrer Namensgebung.
Ich nehme keinerlei Alternativangebote des Marktes wahr, wie jeder Arbeitende ein auskömmliches Arbeitsentgelt erhält, ohne Staatssubventionen abzukassieren; man möchte also eine 2-Klassengesellschaft mit Armut.
Eine sich selbst regulierende, aber humane soziale Marktwirtschaft ist Utopie. Leider.
Ein “Mindestlohn” muss nicht nur in der Gegenwart dazu führen, dass diejenigen, die an dieser Grenze kleben, davon leben können, ohne zusätzliche Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen (“Aufstocker”), er muss auch dazu führen, dass die damit erzielbaren Rentenansprüche später ein Leben ohne zusätzliche Sozialleistungen möglich machen. Davon ist man mit 8,83 € noch weit enfertnt. Mindestens 10 .. 12 € wären dafür (heute, laufende Anpassung trotzdem notwendig) wahrscheinlich notwendig. Ansonsten fallen die vermeintlichen Einsparungen heute auch den Unternehmen in der Zukunft auf die Füße, wenn höhere Sozialtransfers über höhere Steuern finanziert werden müssen, weil die Abgaben der SV-pflichtig Beschäftigten dafür keinesfalls mehr ausreichen werden… Es sei denn, man will die Mindestlohner von heute später als Rentner verhungern lassen…