Ein paar Filetstücke aus dem jüngsten Quartalsbericht der Stadt Leipzig fehlen noch. Immerhin stecken in dem 70-Seiten-Heft, das das Amt für Statistik und Wahlen alle drei Monate produziert, auch ein paar Erkenntnisse über die Stadt, die man anderswo nicht findet. Zum Beispiel auch zu der Art der Leute, die hier leben. Und wer es nicht glaubt: Die Mischung macht es tatsächlich.
Eigentlich wollte Falk Abel vom Umweltforschungszentrum Leipzig (UFZ) nur ein wenig über die Lebensstile der Leute herausfinden, die in Leipzig umziehen oder die nach Leipzig kommen. Er hat den großen Zahlensalat, den das UFZ in einer Umzugs- und Zuwanderungsbefragung 2014 gesammelt hat, ein bisschen sortiert nach der Lebensstiltypologie des Mainzer Sozialprofessors Dr. Gunnar Otte. Der hat neun verschiedene Lebensstiltypen definiert. Die gibt es in Leipzig auch alle – die einen weniger, die anderen mehr. Und die, die es weniger gibt, fallen schon auf – weil sie mit unter die statistische Erfassungsgrenze geraten. Wie die “Konservativ Gehobenen”. In Leipzig kommen sie nicht mal auf 1 Prozent, in Nürnberg sind es 2 Prozent, in Stuttgart sogar 3 Prozent. So richtig traditionelles Besitzbürgertum ist das, konservativ, führungsorientiert und in der Regel auch noch religiös. In Leipzig fast nicht wahrnehmbar.
Ebenfalls dicht an der Wahrnehmungsgrenze schippern die “Konventionalisten”. Das sind die traditionellen Kleinbürger: pflichtbewusst, aber auch sicherheitsbesessen, mit konservativer, oft religiöser Moral und die häusliche Idylle liebend. In Stuttgart und Nürnberg bilden sie mit 7 Prozent Anteil an der Bevölkerung eine durchaus wahrnehmbare Größe, in Leipzig wurden sie 2010 mit einem Anteil von 4 Prozent ausgemacht (in Leipzig ist dieser Typus im Schnitt auch noch 7 Jahre älter als die Durchschnittsbevölkerung). Es ist vielleicht keine falsche Vermutung, wenn man annimmt, dass diese Klientel auch besonders eifrig zu Legida spazierte.
Was Abel nicht extra aufführt (weil es auch nicht sein Thema ist): Lebensstiltypen kommunizieren in der Regel vor allem innerhalb ihrer Peergroup. Wenn Konventionalisten dabei also das Gefühl bekommen, dass “alle anderen” auch so denken wie sie, dann kann das schon mal zum Eindruck führen, man sei das Volk. An sich und sowieso.
Zwischenthese
Die meisten Leipziger sind sich gar nicht bewusst, dass sie mit einem Großteil der anderen Leipziger gar nicht kommunizieren und mit deren Lebenswelten auch nichts zu tun haben. Nichts ist so falsch wie der Wahlspruch “Wir sind Leipzig.” Darauf kann man nur antworten: Seid ihr nicht. Das maßt ihr euch nur an.
Und nicht nur bei Konservativen und Konventionalisten unterscheidet sich Leipzig deutlich von westdeutschen Städten. Bei “traditionellen Arbeitern” ist es genauso. Was logisch ist: Die meisten traditionellen Arbeiter wurden nach 1990 ihren Job los. Und wer seitdem versuchte, seine Existenz in Leipzig zu gründen, musste sich völlig anders orientieren. Wo Stuttgart auf 7 und Nürnberg auf 9 Prozent “traditionelle Arbeiter” kamen (alles Zahlen von 2008 und 2011), kam Leipzig 2010 nur noch auf 3 Prozent.
Zwischenerkenntnis
Der gewaltige wirtschaftliche Umbruch, den Leipzig in den 1990er Jahren erfahren hat, hat die betroffenen Bürger auch zur Änderung ihrer Lebensstile gezwungen.
Das hat Folgen und prägt den Charakter einer Stadt. Aber was wird man, wenn man nicht einfach wie Papa und Opa in der Fabrik malochen gehen kann? – Man konzentriert sich auf die Karriere und opfert dafür auch Freizeit, ist nicht wirklich irgendwo in einem Lebensjob zu Hause, versucht noch irgendwie die Familie zu deichseln, aber zu mehr als am Wochenende einer Portion Massenkultur reicht’s dann nicht mehr. “Aufstiegsorientierte” heißt dieser Typus bei Otte.
In Nürnberg und Stuttgart ist ja die Zeit nicht stehen geblieben. Den Typus gibt es auch dort: 26 Prozent in Nürnberg, 27 Prozent in Stuttgart. Aber unübersehbar ist der Druck in Leipzig, sich für den Job aufstiegsbewusst zu orientieren, deutlich größer: 31 Prozent der Leipziger werden dieser Gruppe zugeordnet.
Ganz ähnlich sind diesem Typus die Heimzentrierten: Die landen dann eher in den nicht so gut bezahlten Jobs, müssen mit knappen Ressourcen wirtschaften und landen dann abends eher vor dem Fernseher. Auch hier ist der Anteil in Leipzig mit 24 Prozent höher als in Nürnberg (22 Prozent) und Stuttgart (14 Prozent). Immerhin ein Wert, der sehr deutlich zeigt, wie eine Niedriglohnlandschaft auch auf die Lebensstile eines Großteils der Bevölkerung durchschlagen kann.
Aber wer nimmt dann den Platz ein, den in westdeutschen Kommunen früher mal die “Konservativ Gehobenen” eingenommen haben? Die tun zwar gern noch so, als wären sie “das Bürgertum”. Aber auch in westdeutschen Städten haben sie diesen “Führungsanspruch” innerhalb des so genannten bürgerlichen Lagers längst abgegeben an die “Liberal Gehobenen”. Das ist das Bildungsbürgertum, das im Beruf auch Selbstverwirklichung sucht, im Lebensstil Authenzität und beim Einkaufen Qualität. Dumm nur, dass dieser Lebensstil mit einem guten Einkommen zusammenhängt. In Nürnberg können sich immerhin 9 Prozent der Einwohner diesen Lebensstil leisten, in Stuttgart sogar 15 Prozent.
In Leipzig sind die “Liberal Gehobenen” zwar um ein Vielfaches stärker vertreten als die “Konservativ Gehobenen”, aber machen trotzdem nur eine Gruppe von 7 Prozent aus.
Was übrigens Folgen hat. Denn das ist der Teil der Stadtbevölkerung, der normalerweise in Oper, Gewandhaus und Schauspiel geht und dafür sorgt, dass dort die Bude voll ist. Alles Gerede über Leipzigs Hochkultur blendet das in der Regel aus: Bevor die großen Häuser wirklich funktionieren, muss das Lohnniveau für die Leipziger erst einmal deutlich ansteigen. Kultur muss man sich “leisten” können – und zwar in beiderlei Beziehung.
Schon an dieser Stelle ist der Vergleich mit Stuttgart und Nürnberg recht deutlich
Während dort traditionelle Lebensstile mit 17 und 18 Prozent noch recht deutlich ausgeprägt sind, erscheinen sie im Leipzig der Gegenwart mit unter 8 Prozent deutlich schwächer ausgeprägt.
Dafür ist der Bereich, den Otte als “teilmodern” definiert (liberal Gehobene, Aufstiegsorientierte, Heimzentrierte) in Leipzig mit 61 Prozent schon etwas stärker ausgeprägt als in Stuttgart und Nürnberg mit 56 und 57. Was sich aber nicht im gehobenen Lebensstil (Liberales Bildungsbürgertum) auswirkt, sondern in der “Mitte”, bei einem deutlich größeren Anteil von Menschen, die sich für die Karriere aufreiben.
Kleiner Zwischenexkurs
Während sich insgesamt 28 Prozent der Stuttgarter einen gehobenen Lebensstil leisten können (Nürnberg: 17 Prozent), waren es in Leipzig im Jahr 2010 nur knapp 13 Prozent. Auch das verändert eine Stadt: Es gibt weniger Menschen, die sich wirklich alle ihre Wünsche erfüllen können – wenn dann trotzdem die “Gehobenen” so tun, als seien sie “die Stadt”, dann entstehen Konflikte – und es entsteht das Gefühl, dass viele Menschen sich von den Selbstbeweihräucherungen der Gehobenen nicht mehr gemeint fühlen.
Was auch daran liegt, dass das moderne Bürgertum in Leipzig nicht so richtig auf die Beine kommt: akademisch gebildet, kreativ, experimentierfreudig, mit Wunsch zur Persönlichkeitsentfaltung und global denkend. Dazu braucht man schlichtweg ein einigermaßen vernünftiges Einkommen. “Reflexive” nennt Otte diese Gruppe, die in Nürnberg mit 6 Prozent, in Stuttgart mit 10 Prozent vertreten ist. In Leipzig sind es immerhin noch 5 Prozent. Aber das bedeutet auch, dass das politikprägende Bürgertum eher durch (Teil-)Modernisten geprägt wird. Was nicht unbedingt bedeutet, dass das Volk auch Moderne in die politischen Ämter wählt.
Und wo das Geld fehlt für die gehobene Lebenslust, muss sich die eigentliche Leipziger Moderne mit kargerem Sälar ein, zwei Etagen darunter ansiedeln.
Deswegen sind Hedonisten in Leipzig mit 17 Prozent deutlich stärker vertreten als in Nürnberg (13 Prozent) oder Stuttgart (14 Prozent). Weniger Geld in der Börse bedeutet aber auch: Man muss sich noch mehr anstrengen, um auf Deck zu bleiben – was dann eben diese Gruppe auch besonders kennzeichnet: Innovationsfreude, jugendlicher Stilprotest, Extraversion – aber auch (Hypezig lässt grüßen): städtische Spektakel- und Clubkultur.
Und ganz unten, wo das Geld dann mal grade so zum Leben reicht, bleiben dann noch die “Unterhaltungssuchenden” übrig, in Leipzig mit 9 Prozent ebenfalls stärker verteten als in Stuttgart (5 Prozent) und Nürnberg (8 Prozent). Doch das Moderne hat bei dieser Gruppe so seine Tücken – denn man ist zwar auf Erlebniskonsum und materialistische Statussymbole trainiert, gleichzeitig ist diese Gruppe aber auch depolitisiert und lebt eine tagtägliche Deklassierungsbedrohung. Was diese “moderne” Gruppe dann in die mentale Nähe der “Konventionalisten” rückt.
Der Städtevergleich zeigt also, dass Leipzig – durch seine wirtschaftliche Umstülpung gezwungen – eine von der Mentalität her deutlich modernere Stadt ist als Nürnberg oder Stuttgart. Aber eben auch eine mit deutlich niedrigeren Einkommen.
Trotzdem erzeugt das (auch nach außen) weiterhin das Bild einer Stadt, “in der noch was geht”. Was Leipzig in der Folge zu einem beliebten Zuzugsziel vor allem für junge Menschen mit modernem Lebensgefühl macht.
Das hat Falk Abel nun aus der 2014er Umzugsbefragung herausgefiltert
31 Prozent der Menschen, die nach Leipzig ziehen, sind Hedonisten, wollen also das Leben genießen und ihre Persönlichkeit ausleben. Da braucht man eigentlich nicht lange nachzudenken: Eine stärkere Attraktion kann eine heutige Großstadt eigentlich nicht ausüben.
19 Prozent der Zuzügler sind “Unterhaltungssuchende” – für sie ist der Statuserhalt (und wohl auch der Job) wichtig und wahrscheinlich sitzt diesen (jungen) Menschen auch die Angst im Nacken, in den Herkunftsregionen völlig den Anschluss zu verpassen.
Demografie ist viel mehr Psychologie, als den amtierenden Politikern in Mitteldeutschland wirklich bewusst ist. Und man kommt schon ins Grübeln: Was für Typen hat man da eigentlich gewählt? In welchen Lebensstil passen die eigentlich – oder sind es tatsächlich alles Konservative und Konventionalisen, die nun denken, sie würden die Gesellschaft repräsentieren oder gar verstehen? Da ist eine Kluft, die man an dieser Stelle nur benennen kann, weil entsprechende Lebensstil-Untersuchungen zu mitteldeutschen Politikern leider fehlen.
Keine Überraschung ist, dass 17 Prozent der Zuzügler “Aufstiegsorientierte” sind, 11 Prozent sind “Reflexive”. Was nur auf den ersten Blick überascht. Denn wenn kreative Menschen mit dem nötigen Einkommen und globaler Welthaltung merken, dass in einer Stadt wie Leipzig “was geht”, dann ziehen sie natürlich auch hin und starten (wenn es klappt) ein Unternehmen oder eine akademische Karriere. “Heimzentrierte” machen noch 11 Prozent an den Zuzüglern aus. Das ganze “traditionelle” Segment aber macht bei den Zuzüglern nicht einmal 5 Prozent aus. Da sind zwar einige Leute drunter, die viel Lärm um ihre konservative Welthaltung machen – aber irgendwie merken sie nicht mal, was für eine kleine Gruppe sie tatsächlich repräsentieren.
Das Bild bei denen, die innerhalb der Stadt umziehen, ist übrigens nicht viel anders und hat wohl eher mit den berühmten Lebensabschnitten zu tun, die alle erleben und die immer mal wieder zur Veränderung der Wohnungsgröße zwingen.
So ein bisschen hatte Abel wohl auch die Absicht herauszubekommen, in welche Stadtteile es nun bestimmte Lebensstiltypen zieht. Aber dazu ist Leipzig noch nicht erstarrt und abgeschottet genug, um das herauszubekommen. Irgendwie lockt es die meisten, die nach Leipzig ziehen, erst einmal in den ruhmreichen Leipziger Süden. Nur die Leute, die einen ordentlichen Arbeiterjob bekommen haben, zieht es dann irgendwie nach Gohlis, was aber wohl auch nichts mit dem alten Spruch zu tun hat (“Wem’s zu wohl ist …”), sondern mit der Nähe zu Leipzigs großen Fabriken im Norden.
Die eigentlichen Unterschiede zwischen den Lebensstiltypen tauchen dann bei der Ausstattung der Wohnung auf. Und da ist es dann eher egal, ob einer traditionalistisch oder modern eingestellt ist – wer endlich so viel Geld verdient, dass er sich auch was leisten kann, der sucht sich auch eine entsprechend ausgestattete Wohnung. Nur einen feinen Unterschied scheint es nach Abel zu geben: Die liberal Eingestellten suchen die Nähe zu Parks und Wasser. Und wenn sie da was finden, sind sie auch deutlich zufriedener als die anderen. Was man ja auch wieder versteht: Wer sich als Leipziger da keine Wohnung (mehr) leisten kann, der ist zu Recht verärgert. So sachte sorgen die auseinander driftenden Einkommen eben doch dafür, dass sich die Stadt entmischt.
Man bekommt den Quartalsbericht in gedruckter Form für 7 Euro im Amt für Statistik und Wahlen.
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