Wie misst man eigentlich Wohlstand? - Damit beschäftigte sich nicht nur eine Enquete-Kommission des Bundestages. Auch das Sächsische Landesamt für Statistik hat sich des Themas angenommen und in dieser Woche das Heft "Statistisch betrachtet - Indikatorenset Wohlfahrtsmessung - Ausgabe 2013" veröffentlicht. Denn auch für Sachsen gilt: Allein das Bruttoinlandsprodukt sagt wenig über die Wohlfahrt der 4 Millionen Sachsen aus.

Das 32-seitige Heft ist ein Beitrag des Statistischen Landesamtes zu der nicht nur in Sachsen laufenden Wohlfahrtsdiskussion. So waren die Ergebnisse bereits Gegenstand eines Vortrages auf der kürzlich stattgefundenen “Statistischen Woche” der Deutschen Statistischen Gesellschaft in Berlin.

Die Ergebnisse basieren auf einem Indikatorensystem, das Wirtschaftssachverständige im Auftrag des Deutsch-Französischen Ministerrates entwickelt haben. Es knüpft an die Empfehlungen der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission an. Das Statistische Landesamt des Freistaates Sachsen hat dieses System aufgegriffen und erstmalig mit Angaben – für 2000 und 2009 – untersetzt.

Insgesamt können derzeit 19 der 25 für die gesamtstaatliche Ebene empfohlenen Indikatoren auf der Länderebene statistisch abgebildet werden. Bei der Untersetzung des Indikatorensystems des Sachverständigenrates wurde sichtbar, dass Sachsen innerhalb der drei genannten Säulen sehr unterschiedliche Positionen und Entwicklungen im Vergleich zu den anderen Bundesländern und zu Deutschland aufweist. Durch den geschaffenen Vergleichsrahmen – Ergebnisse der anderen Bundesländer und für Deutschland in einem Abstand von rund zehn Jahren – sind Rückschlüsse auf die Wohlfahrt für Sachsen möglich. Das Set erlaubt auch Betrachtungen für jedes andere Bundesland in seinem Bemühen um Wohlfahrt.

“Die Wahrnehmung von Wohlfahrt unterliegt dabei sowohl objektiven als auch subjektiven Faktoren. Wesentlich ist der Blickwinkel des Betrachters”, betonen die Landesstatistiker noch. Als würden sie vorsichtig abschwächen wollen, was das Zahlenwerk eigentlich sagt.

Denn wenn sich bestimmte Parameter verschlechtern, führt es unweigerlich zu einem Verlust an Wohlfahrt. Da können die Indikatoren zur Wirtschaftsleistung zwar – über die neun Jahre gesehen – überproportional wachsen. Wenn das erreichte Niveau am Ende aber trotzdem nicht ausreicht, um einem (Bundes-)Land nachhaltige Prosperität oder gar eine eigenständig erwirtschaftete Entwicklung zu gewährleisten, wird das wichtige Negativentwicklungen nicht beenden. Bei manchen Negativentwicklungen zeigen die Zahlen auch, dass auch bundesweit der Wurm drin ist. Etwa bei der Wahlbeteiligung. Warum haben immer weniger Menschen Interesse daran, an Wahlen teilzunehmen?Die Armutsgefährdungsquote in Sachsen ist deutlich gesunken. Für Sachsens Statistiker eine positive Entwicklung. Aber berechnet wird sie nur über das Einkommensniveau. Was heißt das wirklich für die Lebensqualität? Etwa wenn die Zahl gesellschaftlicher Kontakte (Sport, Freizeit, Kultur …) im selben Zeitraum zurückging? Im Grunde erzählen einige Parameter nur davon, dass deutlich mehr Sachsen seit 2000 in Arbeit sind – und besonders viele auch in Schichtarbeit, was einerseits die Einkommen erhöht – andererseits aber die Freizeit beschneidet.

Das Problem an der verwendeten Armutsgefährdungsquote ist übrigens: Für Sachsen wurde die sächsische Armutsgefährdungsquote ermittelt, für Gesamtdeutschland die bundesdeutsche. Das sind zwei völlig unterschiedliche Vergleichniveaus. Und aus einer Absenkung der Armutsgefährdungsquote von 13,7 % (2005) auf 12,7 % (2011) eine positive Veränderung um 7,3 Prozent zu errechnen, gehört schon in einen statistisch sehr waghalsigen Bereich. Selbst das Statistische Bundesamt warnt jedes Jahr aufs Neue davor, die Schwankungen in den Prozentangaben zur Armutsgefährdungsquote überzubewerten. Die Zahl gibt nur eine grobe Orientierung, mehr nicht.

Heißt also auch für dieses Indikatorenset: Es täuscht eine Genauigkeit vor, die so nicht existiert.

Die Aussagekraft des vom Deutsch-Französischen Ministerrat entwickelten Indikatorensets muss man ganz vorsichtig in Klammern setzen. Es ist nicht wirklich ein guter Kompass, um die Wohlfahrt eines Landes einschätzen zu können.

Das wird im Indikatorenteil zu dem, was man hier “Nachhaltigkeit” nennt, erst recht sichtbar. Etwa beim Indikator “Nettoanlageinvestitionen des privaten Sektors in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP)”. Dieser Indikator ist von 33,9 auf 20,6 Prozent gefallen. Was heißt das aber? Immerhin waren viele Großprojekte, die seither das BIP gesteigert haben, 2000 noch im Bau. Andererseits sind die 20 Prozent auch der Wert, den die gesamte Bundesrepublik heute im Durchschnitt erreicht. Aber diese 20 Prozent bedeuten in Bundesländern mit hohem BIP (etwa Bayern) etwas völlig anderes als in Sachsen mit seinem nach wie vor niedrigen BIP. Was sagt das also über die Wohlfahrt im Land? – Nichts.Womit man dann ohne Umweg sofort wieder beim heimtückischsten und zugleich verlässlichsten aller Indikatoren ist: dem klassischen BIP. Aber der Pro-Kopf-Wert in Sachsen lag 2009 nur bei 22.212 Euro, ganze 76 Prozent des bundesdeutschen Durchschnitts (29.278 Euro). 2000 bedeuteten die sächsischen 17.031 immerhin auch schon 68 Prozent. Man muss also alle scheinbaren “Nachhaltigkeits”-Erfolge von 2011 wieder auf dieses 76-Prozent-Niveau des BIP herunterrechnen, wenn überhaupt irgendetwas vergleichbar sein soll.

Wenn das sächsische Bruttoinlandsprodukt nur 76 Prozent des bundesdeutschen Durchschnitts beträgt, dann sind auch die 20 Prozent Privatinvestitionen anders zu hinterfragen. Dann sind sie nämlich zu wenig, um mit der bundesdeutschen Entwicklung mitzuhalten. Der Wirtschaftsminister müsste aufs Höchste alarmiert sein.

Vielleicht ist er es auch.

Erstaunlicherweise erschien diese “Wohlfahrts”-Statistik in der selben Woche wie der “Umweltbericht 2012” des sächsischen Umweltministers. Und einige Indikatoren haben eben auch mit Umwelt zu tun. Und unübersehbar haben sich einige Umwelt-Indikatoren seit 2000 deutlich verschlechtert: Der CO2-Ausstoß hat sich deutlich erhöht (während er bundesweit deutlich zurückgegangen ist). Sachsen hat sich also zu einer Art Rußecke im bundesdeutschen Länder-Puzzle “gemausert”.

Und während der Rohstoffverbrauch je Einwohner sich scheinbar auch in Sachsen ordentlich verringert hat, zeigt der Blick auf die absoluten Werte, dass er im bundesdeutschen Vergleich noch immer viel höher liegt. Was dahinter steckt, verrät so ein grüner Balken eben nicht. Aber dass es der sächsische Bergbau ist, kann man sich zumindest denken.

Ähnlich schwierig der Faktor Biodiversität, bei dem die Naturschutzflächen als Maßstab genommen wurden. Da hat Sachsen zwar prozentual zugelegt, liegt aber mit dem Anteil von 3,3 Prozent mit am Ende der bundesdeutschen Flächenländer.

Es ist also ein recht schwieriges Indikatoren-Set, das sich Sachsens Statistiker da herausgegriffen haben. Und es schafft nur den Vergleich mit den anderen Bundesländern und dem Bundesdurchschnitt, es schafft keine Kriterien außerhalb dieses Vergleichs.

Was die bunten Grafiken zum Schluss zumindest zeigen, ist, dass Sachsens Wirtschaftskraft seit 2000 nicht wirklich aus dem Keller gekommen ist. Und es zeigt, wie sehr die hier unter “Nachhaltigkeit” geführten Indikatoren direkt mit der Wirtschaftsleistung zusammenhängen.

Sachsens Statistiker sind zwar überzeugt davon, dass das verwendete Indikatorenset geeignet ist, Daten für eine Wohlfahrtsmessung zu liefern. Aber am Ende geben sie selbst eine deutlich umfassendere Wohlstands-Definition, die weit über die verwendeten Indikatoren hinaus geht und unter anderem auch Grundbedürfnisse, persönliche Handlungsspielräume (Faktor Freiheit!), Bildung, Familie und Selbstverwirklichung mit einschließt. Man verweist zu Recht auf die Arbeit der Enquete-Kommission und auf die zwingende Folge: dass dieses Indikatoren-Set weiterentwickelt werden muss. Deutlich weiter.

Ein Bundesland, das seine eigene Existenz noch immer nicht aus eigener Kraft erwirtschaften kann und dessen Kommunen an Soziallasten ersticken, ist kein Land in Wohlstand. Wirklich nicht.

Direkt zum 32-seitigen Papier als Download: www.statistik.sachsen.de/download/300_Voe-Faltblatt/SB_Wohlfahrtsmessung_2013_Korrektur.pdf

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