Am 22. Juli erfreute die Bertelsmann Stiftung die Welt mal wieder mit einer Studie, die von zahlreichen Medien begeistert aufgenommen wurde. Die mit der Studie beauftragte empirica AG kam darin zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass viele nur durchschnittlich verdienende Familien durch das Steigen der Mieten am Ende weniger Geld zur Verfügung hätten als "Hartz-IV-Familien". Dumm nur, dass die Zahlen nicht stimmen.
Aber wer prüft das schon nach, wenn’s schnell gehen soll und man die Leser mit solchen Überschriften schockieren kann? – Focus: “Bertelsmann-Studie: Noch ärmer als mit Hartz IV”. Stern: “Viele arme Familien nach Mietzahlung unter Hartz-IV-Niveau”. Zeit: “Soziales: Studie: Nach Abzug der Miete viele arme Familien unter Hartz”. Handelsblatt: “Nach Abzug der Miete: Viele arme Familien unter Hartz-IV-Niveau …” – Um nur einmal ein paar der Größeren zu nennen. Oder die LVZ am 23. Juli: “Leipzig: Mieten drücken besonders Alleinerziehende unter Hartz IV”.
Aber die Fehler fangen schon bei den Grunddaten an. Die Bertelsmann Stiftung geht in ihrer Studie von den aktuellen Vermietungspreisen am Markt aus. 5,58 Euro führt sie fürs 2. Quartal 2012 an. Aber die meisten Betroffenen wohnen ja schon länger in ihren Wohnungen und zahlen auch deutlich niedrigere Mietpreise. Die “Bürgerumfrage 2012” weist einen Durchschnittswert von 5,15 Euro aus. Was natürlich nicht ausschließt, dass der Markt für preiswerten Wohnraum sich auch in Leipzig verknappt.
Aber wenn man dann aus solchen Werten die Mietbelastungen errechnet und von den ortsüblichen Einkommen abzieht, kann das sehr schräge Ergebnisse mit sich bringen. Erst recht, wenn man das dann noch mit den falschen Mietkosten-Vergütungen vergleicht. Ein gefundenes Fressen für Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ). Wenn einer die Zahlen aus den Arbeitsagenturen und Jobcentern kennt, dann er.
“Hier die arme Familie ohne ‘Hartz IV’ und da die im Verhältnis dazu ‘reiche Hartz IV-Familie’ für die die ‘Mietkosten’ angeblich kein Problem darstellen. Diese Familien scheinen in der Studie zum ‘Wohnungsangebot für arme Familien in Großstädten’ nicht wirklich zu interessieren”, stellt er fest. “Konsequent werden dann in der ‘Bertelsmann-Studie’ auch alle amtlichen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zur ‘Wohn- und Kostensituation’ von Bedarfsgemeinschaften ignoriert.”
Stattdessen operiert die empirica AG mit Zahlen aus der Neuvertragsmiete. “Deswegen beruht die vorliegende Studie hinsichtlich der Wohnkosten auf Auswertungen der empirica-Preisdatenbank (…), eine der umfangreichsten Auswertungen von Immobilienangeboten in Deutschland. Dabei wird eine repräsentative Stichprobe des öffentlich inserierten Wohnungsangebots aus Online-Immobilieninseraten (einschlägige Internetportale sowie überregionale, regionale und lokale Zeitungen) eingelesen.” Gleichzeitig kritisiert man die offiziellen Mietspiegel und behauptet, die eigene Zahlenbasis sei die bessere.Dabei ergeben die von der Bertelsmann-Studie verwendeten Zahlen selbst in Ostdeutschland heftige Bocksprünge. Bei Jena reißt der entsprechende Wert nach oben aus. Schröder: “In der Stadt Jena wurden im Dezember 2011 vom dortigen Jobcenter für 166 Bedarfsgemeinschaften des Typs ‘Paar und zwei Kinder’, die zur Miete wohnen, durchschnittliche ‘tatsächliche Kosten der Unterkunft und Heizung’ in Höhe von 551,29 Euro ermittelt. Die in der ‘Bertelsmann-Studie’ ermittelten ‘Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment’ in Höhe von 700 Euro in der Stadt Jena liegen 148,71 Euro (27,0 Prozent) über den durchschnittlichen ‘tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung’ in Höhe von 551,29 Euro der armen Familien, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß SGB II (Hartz IV) beantragt und erhalten haben.” Ein ähnlicher Fehler ist in der Studie im Fall Potsdam passiert.
Für alle anderen untersuchten ostdeutschen Städte gilt, so Schröder: “Die in der ‘Bertelsmann-Studie’ ermittelten ‘Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment’ sind zum Teil wesentlich niedriger als die durchschnittlichen ‘tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung’ der vierköpfigen Familien mit zwei Kindern, die ‘Hartz IV’ beantragt und erhalten haben. In den Städten Chemnitz und Leipzig (z. B.) liegen die in der ‘Bertelsmann-Stiftung’ ermittelten ‘Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment’ angeblich über 30 Prozent unter den durchschnittlichen ‘tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung’ einer vierköpfigen Familie mit zwei Kindern, die ‘Hartz IV’ beantragt und erhalten haben.”
“Unglaublich und vermutlich auch nicht zutreffend”, kommentiert Schröder dieses Zahlenmaterial. “Die Zahlen zu den ‘Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment’ müssen wohl zum erheblichen Teil als absurd eingestuft werden. Das gilt nicht nur für die z. B. 342 Euro in der Stadt Leipzig …”
Das Ergebnis ist also: In den meisten Städten werden die Mietkosten im Osten deutlich als zu niedrig angenommen, im Fall Jena und Potsdam als zu hoch. Entsprechend falsch sind dann natürlich alle Schlussfolgerungen. So ergibt sich nach den wilden Zahlen der empirica AG, dass in Leipzig 31 Prozent aller Mietwohnungsangebote auch für arme Familien geeignet sind, was schlichtweg nicht zutrifft, in Jena dagegen keine einzige.
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Nicht 342 Euro kostet eine von der Arbeitsagentur bzw. Jobcenter anerkannte Wohnung für eine bedürftige Familie in Leipzig, sondern nach Zahlen der Arbeitsagentur 508,31 Euro. Davon wird nicht alles anerkannt. Auch die Stadt Leipzig, die den Großteil der Unterkunftskosten ja übernehmen muss, hält den Daumen drauf. Gewährt wurden 2011 immerhin 493,42 Euro. Mittlerweile gab es zwei Erhöhungen dieses Satzes, weil auch den Stadträten klar war, dass die Sätze zu niedrig waren. Und es kommt hinzu, was die Bertelsmann-Meldung völlig ausgeblendet hat: Familien, deren Einkommen trotz Erwerbstätigkeit nicht zum Leben reicht, haben in der Regel Anspruch auf Unterstützung durch “Hartz IV”.
Man kann dann von “Familien aus der unteren Mittelschicht und oberen Unterschicht” fabulieren, wie es Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, tat. In Leipzig spricht man dann aber schlicht von Aufstockern. In Leipzig gab es 2012 immerhin 18.197 solcher Aufstocker. Und das Problem sind nicht in erster Linie die steigenden Mieten, sondern die miesen Löhne.
Die Bertelsmann-Meldung “Armut nicht nur eine Frage von Hartz IV”: www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-3532C279-87E6F88E/bst/hs.xsl/nachrichten_117419.htm
Die Studie, die so schön professionell aussieht: www.keck-atlas.de/uploads/tx_jpdownloads/Studie_Wohnungsangebot_fuer_arme_Familien_in_Grossstaedten.pdf
Die Richtigstellung der BIAJ: http://biaj.de/images/stories/2013-07-24_kdu-bertelsmann-studie-arme-familien.pdf
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