Abgesehen von der Neugier darauf, was eigentlich im Europaparlament geschieht, war die Tagesordnung für die Plenarwoche mit einer Vielzahl interessanter Themen der Auslöser für meine Entscheidung, nach Strasbourg zu fahren. Als Beispiele nenne ich nur die Aussprache zum Thema „Europäische Sicherheitsarchitektur: dringende entscheidende Schritte und unerschütterliche Unterstützung für die Ukraine“, den „Fahrplan für Frauenrechte“, die Aussprache zu „Europäisches Semester für die wirtschaftspolitische Koordinierung: beschäftigungs- und sozialpolitische Prioritäten für 2025“, den „Aktionsplan für die Automobilindustrie“ und die Erklärung der Kommission zu „Eine Vision für Landwirtschaft und Ernährung“.
Die gesamte Tagesordnung ist online einzusehen. Selbstverständlich war auch ein übergreifendes Thema, wie Europa auf die veränderte Lage durch die Maßnahmen der Trump-Regierung reagieren muss. Ich hatte bereits im Vorfeld mit sechs Abgeordneten Interviewtermine vereinbart und war also guter Dinge.
Das Europaparlament als Irrgarten
Bevor ich etwas angehen konnte, musste ich mich selbstverständlich akkreditieren. Die Registrierung dafür hatte ich bereits online durchgeführt.Nun stand ich vor dem Parlamentsgebäude mit einer Beschreibung: „Medienakkreditierung: Straßburg (nur während der Plenartagungen): Presseeingang, LOW-Gebäude, erster Eingang links im zentralen Innenhof (Bronisław Geremek Agora)“.
Schön, ich muss also erst einmal in den Komplex hinein. Und was ist das LOW-Gebäude? Es gibt einen Eingang der mir „Journalist“ ausgezeichnet ist, ich meldete mich bei der Security, sagte „accreditation“ und wurde hineingelassen. Eine Treppe runter, die nächste Kontrolle. Tasche, Jacke, Geldbörse, Uhr, Handy und Gürtel in eine Kiste und dann durch die Schleuse.
Es piepst, zum Glück hatte ich die Implantatpässe dabei, dann durfte ich meine Sachen wieder nehmen und zur Akkreditierung gehen. Das ging dann schnell, Ausweis vorlegen und ich bekam meinen Medien-Badge, der mir die Türen im Parlament öffnet. Übrigens LOW-Gebäude bedeutet „Louise-Weiss-Gebäude“, hätte ich ja wissen können.
Für den Erstbesucher, der ohne Führung das Parlamentsgebäude besucht, ist die Orientierung schwierig. Es gibt zwar überall Schilder in verschiedenen Farben mit kryptischen Bezeichnungen, diese helfen aber nur dem, der schon Insiderwissen hat. Die meisten der von mir geführten Interviews fanden in den Abgeordnetenbüros statt.
Diese sind im Turm mit der Bezeichnung Txxyyyy, wobei xx für die Etage und yyyy für die Raumnummer steht. Den Zugang zum Turm zu finden, ist schon eine Herausforderung. Auf der Etage gibt es dann Wegweiser in rot und blau mit Zimmernummern. Allerdings führen diese manchmal in die Irre. Das Büro von Anna Cavazzini fand ich am dritten Tag aber problemlos.
Das Gespräch mit Anna Cavazzini
Frau Cavazzini, Sie sind für Bündnis 90/Die Grünen seit 2019 im Europaparlament und Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt- und Verbraucherschutz, außerdem noch in der Delegation für die Beziehung zur Föderativen Republik Brasilien. Europaparlament ist für die meisten Menschen etwas Abstraktes. Was bedeutet es für die Menschen in Sachsen, dass sächsische Abgeordnete, unter anderem Sie, im Europaparlament sind?
Es ist sehr wichtig, dass wir als Europaabgeordnete die ganzen Debatten, die wir hier führen, das, was in Europa beschlossen wird, auch nach Sachsen tragen. Ich bin ja sehr viel vor Ort in ganz Sachsen unterwegs und biete Diskussionsveranstaltungen an. Ich habe Bürgersprechstunden. Also alle Menschen in Sachsen können sich immer an mich wenden und ich hab auch total viele gute Ideen, die die Leute mir mitgeben, die ich dann versuche, hier einzubringen.
Also einfach, die erste wichtige Rolle, glaube ich, ist, dass wir als Europaabgeordnete aus Sachsen Europa wirklich nach Sachsen tragen. Und das Zweite ist natürlich, dass ich versuche, hier im Europaparlament eine Politik zu machen und Sachen durchzusetzen, die dann auch den Menschen in Sachsen nützen. Zum Beispiel habe ich in der letzten Legislatur das einheitliche Ladekabel durchgesetzt.
So können wir ganz viel Elektroschrott sparen und man hat nicht mehr diese nervigen Kabel dabei. Das ist jetzt ein kleines Beispiel und es mag vielleicht klein wirken, aber es gibt tausende solcher Beispiele, wo wir einfach versuchen, dass am Ende das Leben für die Menschen in Sachsen besser wird. Das ist meine Aufgabe als sächsische Abgeordnete.
Eine private Frage: Wie vereinbart man das eigentlich? Mal eine Woche in Brüssel, dann mal eine Woche in Straßburg. Man hat ja auch ein Privatleben, kommt das immer zu kurz?
Das kommt auf jeden Fall zu kurz. Das muss man sich vorher schon genau überlegen, weil: Wir haben doppelt so viele Sitzungswochen wie der Bundestag. Das heißt, wir verbringen sehr viel Zeit in Brüssel und dann auch noch mal einmal im Monat in Straßburg. Und haben im Prinzip oft nur die Wochenenden, um überhaupt im Wahlkreis zu sein.
Da bleibt nicht mehr so viel Zeit für Freunde und Familie. Man muss da schon ein bisschen aufpassen und leider muss man einfach Abstriche machen. Aber mir ist es halt einfach wichtig. Ich brenne für meinen Job. Ich möchte die Welt besser machen und deswegen nehme ich das in Kauf.
Sie sind die Vorsitzende im Ausschuss Binnenmarkt und Verbraucherschutz, wir haben jetzt veränderte Beziehungen zu den USA. Das klingt zwar nicht nach Binnenmarkt, aber wir sind ja eine Import- und Exportnation. Was bedeutet das eigentlich für den Verbraucherschutz?
Ja, das was Trump gerade macht, ist wirklich sehr schädlich für Europa und auch für die Amerikanerinnen und Amerikaner, muss man sagen. Mit seinen Zöllen, die er heute angekündigt und in Kraft gesetzt hat, auf Stahl und Aluminium, und weitere Zölle werden wahrscheinlich kommen, vernichten wir einfach viel Wohlstand.
Und das müssen auch alle in Deutschland wissen, die Trump gut finden. Ich glaube, es sind nicht so viele. Aber viele finden Parteien gut, die Trump nahestehen. Am Ende ist es wie so ein Bumerang: Es schlägt weg und es schlägt zurück. Das schadet uns als Verbrauchern, weil die Preise steigen, und es schadet den Unternehmen und allen, weil Jobs wegfallen, weil Exportmärkte wegfallen. Es ist einfach nicht gut, was wir als Europäische Union jetzt machen müssen.
Deswegen glaube ich, ist es gut, dass wir jetzt als Sachsen und als Deutschland nicht alleine stehen. Wir sind in der EU und die EU ist gerade wegen solcher geopolitischen Konflikte einfach wichtig. Wir müssen jetzt zusammenstehen und wir müssen die Sprache sprechen, die Trump leider nur versteht, nämlich eine Sprache der Stärke.
Und zu sagen, okay, wenn du Zölle erhebst auf unseren Stahl, auf unser Aluminium, wenn du uns schadest, dann erheben wir jetzt auch Zölle. Unsere Hoffnung ist, dass wir damit Trump zwingen können, wieder auf einen Weg der Vernunft zurückzugehen.
Ist es zu befürchten, dass die Amerikaner jetzt, nach einer relativ ruhigen Phase, wieder versuchen werden, Dinge auf unseren Markt zu bringen, die nicht unseren Vorstellungen von Verbraucherschutz entsprechen, wie damals bei TTIP?
Ich glaube, in der Tat ist eines der aktuellen akuten Probleme mit diesen Zöllen gerade, dass es eben schwieriger wird, unsere Exporte in die USA zu bringen. Und dass eben auch brasilianische, mexikanische oder chinesische Exporte auch nicht in die USA kommen und dann womöglich auch noch auf dem europäischen Markt landen. Das ist eines der Hauptprobleme.
Aber Sie haben schon recht: Es gibt Stimmen aus den USA, aus dem Trump-Lager, die zum Beispiel wollen, dass wir viel mehr Agrarprodukte aus den USA importieren. Und ganz oft machen wir das nicht, weil die nicht unseren Standard entsprechen. Hormonfleisch, was auch immer.
Und es kann schon sein, dass da Druck kommt von Trump zu sagen: Ja, ihr müsst jetzt einfach mehr landwirtschaftliche Produkte importieren, sonst machen wir Zölle auf E-Autos. Das kann sein, aber ich glaube, auch hier sollten wir stark sein und einfach nicht nachgeben.
Sie haben gerade einen Abstimmungsmarathon hinter sich. Ich habe den verfolgt. Es ist für einen Außenstehenden freilich nicht zu erkennen, was dort passiert ist. Ich habe nur bemerkt, bei den europäischen Semestern für wirtschaftliche Koordinierung, Beschäftigungs- und sozialpolitische Prioritäten gab es ziemlich viele Ergänzungs- und Änderungsanträge. Es gab auch einige Paragrafen, die abgelehnt wurden. Ist das jetzt gut oder ist das schlecht?
Es kommt immer darauf an. Also nur mal, um es einzuordnen. Wir hatten heute in der Tat anderthalb Stunden Abstimmung zu Resolutionen, weil wir gerade noch wenig Gesetze abzustimmen haben, weil wir am Anfang der Legislatur sind. Wenn es in Richtung Mitte der Legislatur geht, stimmen wir auch viel mehr Gesetze ab. Aber heute waren das quasi Entschließungsanträge des Europäischen Parlaments, also diese Willensbekundungen, aber keine Gesetze.
Alle Fraktionen verhandeln vorher diese Texte und dann können die Fraktionen, oder einzelne Abgeordnete, noch Änderungsanträge für das Plenum stellen und die müssen wir dann abstimmen. Deswegen hat es so lange gedauert. Und ich würde sagen, es ist ein gemischtes Bild. Es kommt immer darauf an, wen Sie fragen. Es wurden zum Beispiel Textteile abgelehnt, die mehr soziale Sicherung und was weiß ich was am Arbeitsplatz gefordert hätten.
Das finde ich natürlich blöd, dass das abgelehnt wurde. Aber wenn Sie jetzt meine EVP-Kollegen fragen, finden die das gut, weil die haben das quasi abgelehnt.
Ich frage aber Sie.
Da kommt es auch darauf an: Wir haben ein paar Sachen gewonnen und ein paar Sachen verloren tatsächlich. Aber man merkt schon, dass sich das Europaparlament nach rechts verschoben hat und dass es schon mehr Änderungsanträge gibt von Mitte-Rechts bis Rechts, die durchkommen, als in der letzten Legislatur.
Kontrovers war ja gestern die Diskussion um die „Roadmap for Women’s Rights“. Sie war sehr oft geprägt von rechten Thesen, also gegen Migration, Anti-Islamismus und so weiter. Alles, was Frauen gefährdet, kommt aus dem Ausland, war oft zu hören. Müssen wir damit rechnen, dass es sich in der neuen Legislatur im EU-Parlament eventuell doch mehr nach rechts bewegt?
Absolut. Wir haben jetzt drei rechtsextreme Fraktionen statt nur zwei in der letzten Legislatur. Und insgesamt ist die Anzahl der Abgeordneten gestiegen. Das merkt man auch in den Debatten, weil die natürlich dann auch die Debatten stärker dominieren können.
Die sind dann auch oft vor den Liberalen und vor den Grünen dran, weil die Fraktionen größer sind. Ich merke schon im Plenum des Parlamentes, in den Ausschüssen, aber auch auf den Gängen, dass es mehr Präsenz von Extremrechten gibt. Und das macht natürlich auch was.
Also wir haben jetzt auch viel mehr Rügen oder Sanktionen, weil wirklich auch Sachen gesagt werden, die gegen die Parlamentsregeln verstoßen. Und die werden dann von der Parlamentspräsidentin gerügt. Das hat auch zugenommen und das ist natürlich nicht gut.
Was haben Sie sich vorgenommen für diese Legislatur? Sie haben ja bestimmt ein paar Vorsätze.
Ich hatte eigentlich viele schöne Ideen und bin jetzt leider damit beschäftigt – wir nennen das auf Englisch den Rollback -, dass viele Dinge, die wir letzte Legislatur erreicht haben, jetzt gerade zurückgedreht werden sollen, dieses Zurückdrehen zu verhindern. Und mich nervt das sehr, weil: Ich habe in den letzten fünf Jahren sehr viel meiner Lebens- und Arbeitszeit in Gesetze gesteckt, die eben dazu dienen sollen, dass wir den Klimawandel bekämpfen, dass wir die Natur erhalten, dass wir Menschenrechte schützen.
All das wird jetzt gerade wieder zurückgedreht, Gesetze werden wieder geöffnet, die wir gerade erst verabschiedet haben. Das kostet sehr viel Kraft und ist auch nicht besonders motivierend, weil man es ja alles schon mal gehabt hat.
Aber genau: Ich habe auch ein paar positivere Projekte. Zum Beispiel haben wir dafür gekämpft – und das wird auch kommen– die Kommission wird nochmal ein Gesetz vorlegen zu digitalem Verbraucherschutz. Also nochmal stärker dafür zu sorgen, dass, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher online shoppen, sie nicht reingezogen werden in sogenannte Addictive Designs, die uns dann verleiten, etwas zu kaufen, obwohl wir es eigentlich gar nicht wollen oder womit wir auch teilweise durch komische Spiele und was auch immer angeregt werden. Es gibt sozusagen ein Gesetzespaket zu Verbraucherschutz online.
Ich habe auch sehr dafür gekämpft, dass wir eine Zollreform machen. Das hört sich jetzt so ein bisschen technisch an, ist aber total wichtig. Wir haben pro Jahr jetzt Milliarden an Paketen, die direkt aus China kommen, wo man auf Shein, Temu und so weiter als Verbraucher bestellen kann. Oft sind es unsichere Produkte, die unseren Standards nicht entsprechen, und der Zoll kommt nicht mehr hinterher. Wir haben eine riesengroße Zollreform auf den Weg gebracht, um bessere Kontrollen zu haben und Verbraucher besser zu schützen. Diese wird auch kommen und das ist, glaube ich, richtig gut.
Und drittens habe ich mir vorgenommen – und das verhandele ich auch gerade schon – dass wir unsere Beschaffungsregeln in der EU besser machen. Beschaffung ist ein riesengroßer Markt. 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wird in Beschaffung ausgegeben von unseren Steuergeldern.
Wir setzen das gerade total unstrategisch ein und die Idee ist, dass wir die sozialen, die umweltbezogenen, aber auch die europäischen Komponenten in der Beschaffung stärken, so dass wir unsere nachhaltigen Produkte dann auch wiederum in Europa kaufen und unsere Firmen damit unterstützen.
Frau Cavazzini, ich bedanke mich für das Gespräch.
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