Was in Lützerath passierte, erzählt auch von einem alten Verständnis von Macht und Wirtschaft. Und von einem eklatanten Unverständnis dafür, wie präsent die Klimakrise und wie dringend ein Ende des Abbaus fossiler Brennstoffe sind. Eine Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Autoren, Politikern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur gewaltsamen Räumung von Lützerath, „Die Politik hat den Ernst der Lage nicht begriffen“, thematisiert dieses Missverhältnis.

Die Erklärung versucht einen größeren Kontext und die Unkenntnis über die Klimakatastrophe in den Blick zu nehmen und versucht auch den Blick nach vorn.

Die Gemeinsame Erklärung

Die Politik hat den Ernst der Lage nicht begriffen

Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Autoren, Politikern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur gewaltsamen Räumung von Lützerath

Schon die ersten Tage des Jahres erinnerten uns daran, dass 2023 viel auf dem Spiel steht. Bei sommerlichen Temperaturen zu Silvester und einem bisher etwa 10 Grad zu warmen Januar hat jeder empfindende und denkende Mensch mittlerweile das mulmige Gefühl, dass wir ganz bestimmt keine 20 Jahre Zeit mehr haben, um die Klimakatastrophe noch zu verhindern.

Doch die Stimmen des fossilen „Weiter so!“ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht der Fossillobby scheint ungebrochen.

Es macht uns fassungslos, dass sich die Politik entgegen der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Klimakatastrophe für die Zerstörung des Dorfes Lützerath und weitere Braunkohleverstromung entschieden hat. Lützerath ist ein Beleg dafür, wie wenig ernst die Politik den Klimaschutz und ihre eigenen Gesetze nimmt.

Am 24. Juni 2021 wurde ein neues Bundesklimaschutzgesetz verabschiedet. Zweck dieses Gesetzes ist „die Erfüllung der nationalen Klimaschutzziele sowie die Einhaltung der europäischen Zielvorgaben zu gewährleisten. Grundlage bildet die Verpflichtung nach dem Übereinkommen von Paris aufgrund der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen.

Danach soll der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter zwei Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt werden, um die Auswirkungen des weltweiten Klimawandels so gering wie möglich zu halten.“ (Bundes-Klimaschutzgesetz, Gesetze und Verordnungen, BMUV, 2021).

Der „Expertenrat für Klimafragen“, dessen Mitglieder von der Bundesregierung ernannt werden, stellt fest, dass eine „sehr große Lücke“ zu den Zielen des Klimaschutzgesetzes besteht, dessen erlaubte Restemissionen sogar auf mindestens 2 Grad Erderwärmung hinauslaufen würden. Doch auch diese ungenügenden Verpflichtungen werden nicht eingehalten.

Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.

Eine brandaktuelle Studie namhafter Klimawissenschaftler mit dem Titel „Klima-Endspiel“ (2022) verweist auf die bisherige Vernachlässigung und Unterschätzung von Kipppunkten im Klima- und Erdsystem und auf eine bisher viel zu optimistische Einschätzung von Risiken.

Eine schnelle Erderwärmung von 3 Grad gefährdet möglicherweise bereits das Überleben der Menschheit
(siehe: Klimakrise: Was passiert bei drei Grad Erderwärmung, Spektrum der Wissenschaften).

Wird die Kohle unter den Garzweiler-Dörfern verbrannt, sind die Pariser Klimaziele für Deutschland nicht einzuhalten. Der 2030-„Kompromiss“ mit RWE bedeutet nur, dass die gleiche Menge Kohle früher verheizt ist.

Die 1,5-Grad-Grenze verläuft vor Lützerath

Wir zeigen uns solidarisch mit den Aktivist/-innen vor Ort und unterstützen ihre Forderungen. Unser noch verfügbares CO₂-Budget erlaubt keine weitere Verschwendung. Es ist nur noch schnelle konsequente Emissionseinsparung möglich, wenn wir der Verantwortung, die wir in Paris 2015 übernommen haben, ernsthaft nachkommen wollen.

Die Zerstörung von Lützerath und die Verbrennung der Kohle wäre ein weiterer Schritt Richtung Verschärfung der Klimakatastrophe und bedroht direkt die Gesundheit und das Leben der Menschen. Jede Tonne CO₂, die ausgestoßen wird, führt dazu, dass noch mehr Menschen unter Hitzewellen, Extremwetter, Dürren, Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten leiden werden.

Jede weitere Tonne CO₂ destabilisiert die Lebensbedingungen der Zukunft weiter, deshalb muss die Kohle unter Lützerath im Boden bleiben, das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig.

Wir haben inzwischen das Vertrauen in die Regierungspolitik auf Länder- und Bundesebene verloren. Angesichts der Klimakatastrophe, die mit brennenden Wäldern, ausgetrockneten Flüssen, Extremhitze vor unseren Haustüren angekommen ist, rufen wir alle Menschen auf, sich am gewaltfreien zivilen Widerstand in Lützerath und anderswo zu beteiligen und die Politik und die Konzerne unter Druck zu setzen.

Insbesondere die Wissenschaftler/-innen dürfen sich nicht hinter komplizierten Modellen und Forschungsprojekten verschanzen, sondern müssen viel offensiver die Gesellschaft und die Politik über die drohenden Gefahren aufklären und sich dafür Verbündete in Medien und in der Zivilgesellschaft suchen. Eine Pressemitteilung reicht nicht zur Verbreitung der Wahrheit!

Es gibt keine Energiekrise, sondern eine lebensgefährliche Energie- und Ressourcenverschwendung

Wir fordern die Überwindung der Zwangswachstumsgesellschaft und ihrer unverantwortlichen Klima- und Verkehrspolitik durch geeignete, konsequente ordnungspolitische Maßnahmen, d. h. auch durch Verbote (z. B. von Kurzstreckenflügen und von Autowerbung), durch die Streichung und Umlenkung von fossilen Subventionen, den konsequenten Ausbau und die Subventionierung von ÖPNV und Zugverkehr, ein Tempolimit auf Autobahnen und warum nicht, durch ein wechselndes Fahrverbot in Abhängigkeit von der Endziffer des Nummernschildes, wie es die Internationale Energieagentur (IEA) vorschlägt?

E-Autos sind keine Lösung der Klimakrise und nicht klimafreundlich, schon wegen des CO₂-Rucksacks ihrer Batterien. Der motorisierte Individualverkehr müsste insgesamt bald ein weitestgehendes Ende finden und wieder Raum geben für die Menschen und die Natur.

Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien müssen vor allem Energie, Rohstoffe und Transporte eingespart werden, es muss also endlich der Übergang zu einer regional orientierten, naturverträglichen, klimaneutralen und lebensdienlichen Wirtschaftsweise in Angriff genommen werden.

Machen wir Lützerath zum Fanal eines Aufbruchs in diese Richtung und zum Symbol des Widerstands gegen die weitere Zerstörung der Lebensgrundlagen, setzen wir der fossilen Wirtschaft und Politik endlich Grenzen. Seien wir ungehorsam – aus wissenschaftlicher Einsicht und aus Liebe zu allem Lebendigen bleibt uns nichts anderes übrig.

Erstunterzeichner:
Jürgen Tallig, Autor, Klimaaktivist und Bürgerrechtler
Dr. Maiken Winter, Klimaaktivistin
Dr. Harald Bender, Akademie Solidarische Ökonomie
Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, Bürgerrechtler, Physiker
Dipl.-Ing Dr. Wolfgang Neef, ehem. TU Berlin
Dr. Winfried Wolf, Zeitschrift „Lunapark21“
Dr. Bruno Kern, Theologe, Initiative Ökosozialismus
Hartmut Plötz, Diplom-Volkswirt, Diplom-Sozialökonom

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Es gibt 2 Kommentare

@Matthias: Zum eigentlichen Ernst der Lage: ich bin mutmaßlich zwischen Ihnen und Ihren Kindern angesiedelt und habe bereits 3 “Jahrhunderthochwasser” in Sachsen erlebt. Wir werden also alle noch etwas davon haben, mit ansteigender Kurve. Sogar die, die heute noch von Klimahysterie faseln.

Solange das kapitalistische System einer globalisiserten ungezügelten MArktwirtschaft die Interessen bestimmt wird es die Grenzen überschreiten. Wenn der Kapitaleinsatz (Aktien) Rendite maximiert muss das zu LAsten der Ressourcen gehen. Wer soll dieses System abschaffen ? Es wird sich nur selber abschaffen können durch überschreiten von Kipppunkten. Meine Kinder sind um die 40, meine Enkelin 10 JAhre alt….die werden es leider schon erleben

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