Im Südtiroler Pestizidprozess hat das Bozener Landesgericht am Freitag, 6. Mai, Karl Bär von allen Vorwürfen freigesprochen. Nachdem bereits im Januar alle Anzeigen gegen den Agrarwissenschaftler zurückgezogen worden waren, beantragte die Bozener Staatsanwaltschaft am Freitag eine Änderung der Anklage, durch die auch der Vorwurf der Markenfälschung hinfällig wurde, der hätte verhandelt werden sollen. Karl Bär und das Umweltinstitut München sind damit freigesprochen.
Umweltschützer: Sieg für die Meinungsfreiheit
Die Umweltschützer/-innen werten das Urteil als bedeutenden Sieg für die Meinungsfreiheit.
„Südtirol hat ein Pestizidproblem. Der hohe Einsatz von Chemikalien im Apfelanbau schadet der Umwelt und den Menschen in der Umgebung. Der Versuch der Landesregierung, Kritik am Pestizideinsatz juristisch zu unterbinden, ist gescheitert. Dieses Urteil ist wegweisend für alle in Europa, die sich für eine gesunde Umwelt und Natur einsetzen“, kommentiert Karl Bär, aktuell für sein Bundestagsmandat freigestellter Mitarbeiter des Umweltinstituts München, seinen Freispruch vor dem Bozener Landesgericht.
Anlass der Klage gegen Karl Bär vom Umweltinstitut München war die provokative Aktion „Pestizidtirol“ im Sommer 2017. In deren Rahmen platzierte die Münchner Umweltschutzorganisation ein Plakat in der bayerischen Hauptstadt, das eine Tourismus-Marketing-Kampagne für Südtirol sowie die Südtiroler Dachmarke satirisch verfremdete („Pestizidtirol“ statt „Südtirol“).
Zusammen mit einer Website hatte die Aktion zum Ziel, auf den hohen Pestizideinsatz in der beliebten Urlaubsregion aufmerksam zu machen. In den Apfelplantagen Südtirols werden nachweislich große Mengen an natur- und gesundheitsschädlichen Pestiziden ausgebracht.
Kein Urteil ohne Kläger
Das Gericht sprach Bär frei, nachdem alle ursprünglichen 1.376 Kläger/-innen unter internationalem öffentlichen Druck ihre Strafanträge zurückgezogen hatten. Eigentlich wäre der Vorwurf der Markenfälschung als sogenanntes „Offizialdelikt“ auch nach dem Rückzug der Anzeigen bestehen geblieben. Die Staatsanwältin hatte beim heutigen, letzten Prozesstag jedoch für dieses angebliche Delikt eine Änderung der Anklage in üble Nachrede beantragt, was zu einem sofortigen Freispruch Bärs führte.
Die Begründung des Richters: Unzulässigkeit des Verfahrens. Nach über zweijähriger Ermittlung und 20 Monaten Prozess endet damit eine der aufsehenerregendsten missbräuchlichen Klagen gegen eine Umweltorganisation in Europa.
„Im Oktober 2020 hatte der Europarat die Klagen gegen meinen Mandanten in Südtirol als strategische Klage und damit als Angriff auf die Meinungsfreiheit eingestuft. Heute haben wir die Bestätigung darüber auch gerichtlich“, sagt Rechtsanwalt Nicola Canestrini, der Bär zusammen mit Anwältin Francesca Cancellaro vertritt.
„Der Urteilsspruch muss eine Mahnung an alle mächtigen Personen und Unternehmen sein, die Justiz nicht weiter zu missbrauchen, um Kritiker/-innen mit zeitraubenden und kostspieligen Gerichtsverfahren einzuschüchtern.“
„Wo kein Kläger, da kein Richter: Die Rücknahme aller 1.376 Anzeigen hat gezeigt, dass öffentlicher Druck das beste Mittel gegen strategische Klagen ist, solange es noch keinen gesetzlichen Schutz davor gibt“, erklärt Fabian Holzheid, politischer Geschäftsführer des Umweltinstituts München.
„Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen, die uns in diesem Prozess mit Tatkraft, Solidarität und Geld unterstützt haben. Unsere Arbeit gegen gefährliche Pestizide geht weiter – außerhalb des Gerichtssaals.“
Das Problem der SLAPP-Klagen
Karl Bär war 2017 als Mitarbeiter des Umweltinstituts München wegen seiner Kritik am hohen Pestizideinsatz in den Apfelplantagen Südtirols vom dortigen Landesrat sowie von mehr als 1.370 Landwirt/-innen wegen übler Nachrede und Markenfälschung angezeigt worden. Nach europaweitem öffentlichen Protest zogen jedoch alle Kläger/-innen ihre Anzeigen gegen den inzwischen als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählten Agrarwissenschaftler zurück.
Mit der Änderung der Anklage entschied das Gericht unmittelbar zugunsten Bärs, weil bei Prozessen wegen vermeintlicher übler Nachrede ein Rückzug aller Anzeigen zu einem sofortigen Freispruch führt – anders als bei Markenrechtsverletzungen, die als „Offizialdelikt“ auch nach Rückzug der Anzeigen weiterverfolgt werden.
Gefällt wurde das Urteil für Bär kurz nachdem die EU-Kommission eine „Anti-SLAPP-Initiative” vorgestellt hat, deren Kernstück eine EU-Richtlinie gegen SLAPPs ist (SLAPP steht für „strategic lawsuits against public participation“ = Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung). Die Zahl der Menschen und Organisationen, die in der EU von SLAPP-Klagen betroffen sind, nimmt beständig zu, wie eine umfangreiche Untersuchung der Coalition against SLAPPs in Europe (CASE) gezeigt hat.
SLAPPs sind missbräuchliche bzw. haltlose Klagen oder deren Androhung und haben das Ziel, Aktivitäten öffentlicher Beteiligung durch z.B. Journalismus, friedliche Proteste, Boykotte, gesellschaftliches Engagement und Whistleblowing zu unterbinden. Seit dem Gerichtsverfahren in Südtirol setzt sich das Umweltinstitut München als Mitglied des CASE-Bündnisses europaweit gegen diese Einschüchterungsklagen ein.
Es geht weiter
Das Umweltinstitut wird indes die Diskussion um Pestizide nun außerhalb des Gerichts fortführen. Die Umweltschutzorganisation wertet derzeit die Betriebshefte von etwa 1.200 Obstbäuerinnen und -bauern aus, die ursprünglich Anzeige gegen Karl Bär erstattet hatten. Diese wurden im Prozess auf Antrag der Staatsanwaltschaft als Beweismittel sichergestellt.
Die Hefte enthalten Angaben darüber, welche und wie viel Pestizide die Betriebe im Jahr 2017 verwendet haben. Die Ergebnisse der Auswertung dieser Daten sollen auf einer öffentlichen gemeinsamen Veranstaltung mit Vertreter/-innen der Obstwirtschaft in Südtirol präsentiert und diskutiert werden.
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