Der Kirchentag auf dem Weg hat dieser Tage auch Leipzig als Schauplatz. Alle möglichen Leute beschäftigen sich mit Luther, Reformation und der Frage, was Religion heute eigentlich noch für eine Rolle spielt. Aber manchmal sind es eher die Gäste solch eines Ereignisses, die zeigen, worum es eigentlich geht. So wie das Konzeptwerk Neue Ökonomie, das in einer Broschüre das strittigste Thema der Zeit aufgreift: den blinden Glauben ans Wachstum.

Vielleicht wird es so nicht als Ergebnis des Kirchentages stehen, dass Kirche (und zwar nicht nur die evangelische) sich ändern muss in einer Zeit, in der die Welterkenntnis mit Glauben eigentlich nichts mehr zu tun haben darf und Wissenschaft und Rationalität unser Handeln eigentlich leiten sollten.

Aber eine Berechtigung hatten (Glaubens-)Gemeinschaften trotzdem immer – jenseits von Riten und Psalmen: als Ort menschlicher Verständigung, als suchende Gemeinschaft. Denn der „Sinn des Lebens“ ist unserem Leben nicht eingeschrieben. Den geben wir ihm selbst. Aber oft nicht einmal ahnend, dass wir damit auch unsere Welt verändern. Was den christlichen Urgemeinden noch relativ egal gewesen sein dürfte: Sie haben durch ihr Handeln nicht die Existenzgrundlagen unseres Planeten untergraben.

Wir hingegen tun es schon. Keine andere Generation zuvor musste sich tatsächlich so ernsthaft mit dem herumschlagen, was man aus christlicher Sicht „Bewahrung der Schöpfung“ nennen muss. Und die simple Erkenntnis – die wir nicht durch Glauben oder Beten gewonnen haben, sondern durch die professionelle Arbeit von Wissenschaftlern – ist: Wir zerstören mit unseren (falschen) Bedürfnissen unseren Planeten, das einzige Paradies, das uns je gegeben wurde. Und wir zerstören es, weil wir so tun, als würde unser eigener, scheinbar winziger Beitrag, daran keinen Anteil haben. Als könnten wir nichts daran ändern.

Was auch mit dem neuen Glauben zu tun hat, der mittlerweile die Welt regiert: Der Glaube an die „Vernunft“ des Marktes.

Der schlimmste und gefährlichste Irrglaube, dem wir je aufgesessen sind.

Auch weil „der Markt“, wenn man es nur konsequent weiterdenkt, nichts anderes ist als wir selbst: wir in der Summe unserer Taten, Wünsche, Käufe und Illusionen. Wir sind für all das verantwortlich, was unserer Welt geschieht.

Und so ist der Kirchentag eben auch ein Ort, auf dem so eine illustre Gruppe wie das Konzeptwerk Neue Ökonomie seinen Platz hat, das extra für den Kirchentag eine 56-seitige Broschüre mit dem Titel „Kein Wachstum ist auch (k)eine Lösung“ hergestellt hat, in dem in Stichpunkten das Pro und Kontra des herrschenden Wachstumsglaubens diskutiert wird, dem dann die schon jetzt vorhandenen Konzepte der Degrowth-Bewegung gegenübergestellt werden. Die ja keine Nicht-Wachstums-Bewegung ist, sondern eine, die Wege sucht, unser Leben auf dieser Erde zu sichern, ohne in einem wilden Konsumwahn (denn der steckt ja zumeist hinter der Wachstums-Philopsophie) die Grundlagen unseres Lebens zu zerstören.

„Kaum etwas beschäftigt Politiker und Wirtschaftsexpertinnen so sehr wie das Wirtschaftswachstum: Wie groß wird es? Wie viel braucht es, damit die Arbeitslosigkeit zurückgeht? Welche Politik schafft am meisten davon? Wie viel Soziales und wie viel Ökologie verkraftet das Wachstum?“, fragte sich die in Leipzig aktive Gruppe junger Ökonomen und Ökonominnen, die nach Wegen suchen, die an den Hochschulen herrschende Lehre von Markt und Wachstum zu durchbrechen und andere Ökonomien denkbar zu machen.

Denn unser Problem ist ja meist unser Denken: Wo nur eine Art über Wirtschaft zu denken vorherrscht, kommen Alternativen kaum zu Wort.

Was ja übrigens auch in Maggie Thatchers verbissenem Spruch „There is no alternative“ steckte. Aber genau das ist die Lüge: Menschen hatten immer die Wahl. Und kaum eine Segnung, die die Marktliberalen ihrem „Markt“ zuschreiben, hält bei näherer Betrachtung, was sie verspricht. In vielen Fällen wird diesem allmächtigen „Markt“ sogar zugeschrieben, was im Gegenteil erst durch völlig marktferne Politik erreicht wurde.

Unter dem Titel „Kein Wachstum ist auch (k)eine Lösung“ ist auf dem Kirchentag diese neue Broschüre erschienen, die mit beliebten Behauptungen über Wirtschaftswachstum aufräumt. Die Publikation geht dabei sowohl auf Mythen rund um wachsende Ökonomien ein, als auch auf falsche Vorstellungen über Alternativen zum Wachstumskurs. Das Heft wird auf dem Kirchentag vom Autorenteam des Konzeptwerk Neue Ökonomie sowie den Herausgebern von der Rosa-Luxemburg-Stiftung präsentiert.

Prof. Ulrich Brand, der als Sachverständiger in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages fungierte, betont die Wichtigkeit der Publikation in der aktuellen politischen Landschaft: „Trotz aller Differenzen scheint es einen wirtschaftspolitischen Konsens unter den Parteien zu geben: Die Orientierung an einem möglichst hohen Wirtschaftswachstum. Die Broschüre hinterfragt sehr kompetent dieses Dogma und öffnet damit den Raum für Alternativen jenseits der kapitalistischen Wachstumszwänge.“

Das Heft gliedert sich in zwei Teile. Zunächst werden populäre Irrtümer über das Wachstum widerlegt, etwa „Ohne Wachstum nimmt die Arbeitslosigkeit zu und die Sozialsysteme brechen zusammen“, „Grünes Wachstum ist der Ausweg“ oder „Die Krise in Europa kann nur mit Wachstum beendet werden“.

Im zweiten Teil geht es um landläufige Vorstellungen zu Degrowth, etwa dass pauschal das Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts gefordert werde oder dass man in die Vergangenheit zurückwolle.

Das Lesen lohnt sich, auch wenn das erst einmal das Köpfchen anstrengt, weil eine andere Art, über Wirtschaft und Wachstum nachzudenken, natürlich die bequemen Pfade verlässt und vor allem auch mit dem Gefühl aufräumt, „der Markt“ werde es schon richten, wir müssten nur eben immer nur weiter wachsen. Selbst Themen wie die Finanzkrise, die sich ja bekanntlich in die heutige Krise Europas und der Demokratien verwandelt hat, kommen im Heft vor. Und wer sich die Mühe gibt, wirklich aufmerksam zu lesen, merkt, dass die politischen Verfechter des „Marktes“ schon längst gescheitert sind und keinerlei Rezepte haben, die multiplen Krisen, wie sie uns heute gegenüberstehen, zu lösen.

Das braucht andere, solidarische oder kooperative Lösungen. Und ein anderes Denken über Wirtschaft und ein anderes Wachstum.

Das bündelt sich auch in dem scheinbar lapidaren Satz: „Freiheit bedeutet eben gerade nicht, dass privilegierte Menschen verantwortungslos handeln dürfen. Sondern es bedeutet, dass jeder Mensch – unabhängig von seiner Herkunft – das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in verantwortungsvoller Freiheit hat.“

Denn mit dem falschen Denken über Markt und Wachstum verbindet sich auch das derzeit dominierende falsche Denken über Freiheit – das ein entfesseltes Erfüllen aller Wünsche und Bedürfnisse quasi zum Ideal erklärt, ohne sich auch nur einmal mit der Bedingtheit und den Wurzeln unserer Bedürfnisse zu beschäftigen. Und mit den Verlusten, die wir erleiden, weil wir alle Energie auf die Erfüllung falscher Bedürfnisse richten, uns unsere eigenen menschlichen Bedürfnisse (etwa nach Liebe, Vertrauen, Nähe, Lebendigkeit usw.) nicht mehr erfüllen können, sogar immer öfter an Barrieren stoßen, die uns daran hindern, ganz Mensch zu sein, weil selbst die Erfüllung dieser Wünsche auf einmal einen saftigen Preis hat oder keinen Platz mehr in einem Teufelskreis, in dem wir dem Besitzenwollen von etwas nachjagen, was sich schon in Kürze wieder in Müll und eine Belastung der Welt verwandelt.

Unser Wertesystem ist durcheinandergeraten. Unser Menschlichstes geht vor die Hunde. Eine menschlichere Welt werden wir nur bekommen, wenn wir unser Denken über Wirtschaft und Wachstum ändern. Und das hat eine Menge mit Gemeinschaft zu tun und möglicherweise mit dem, was Kirchen heute leisten können – oder müssen.

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie ist also genau richtig auf diesem Kirchentag, bei dem sich scheinbar alles um Luther dreht.

Die Broschüre erscheint in der Reihe „luxemburg argumente“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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