Wir haben ihn in der letzten Zeit immer wieder gern und hart kritisiert, den Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Michael Vassiliadis, denn so recht logisch und zukunftsfähig ist die Strategie der IG BCE in Sachen Kohleverstromung nicht. Aber in Sachen Europa hat der Gewerkschaftsvorsitzende in dieser Woche ein paar Worte gesagt, die wohl die närrischen Landesregierungen nicht zum Umdenken bringen, aber einfach mal dran sind.
Denn das Geeier in der Flüchtlingspolitik, in der gerade die straffen Erzkonservativen glauben, den Kontinent mit neuen Grenzen, Kontrollen und der Abwehr aller Asylsuchenden beglücken zu müssen, erinnert fatal an die Ratlosigkeit derselben Leute beim Umgang mit der Banken- und der späteren Staatsschuldenkrise. Zwei Mal binnen kurzer Zeit wurde jetzt deutlich, dass die Europäische Gemeinschaft die falschen Prämissen setzt, echten Lösungsversuchen ausweicht und vor allem immer wieder kuscht, wenn große Konzerne und Wirtschaftsverbände mit Liebesentzug drohen.
Doch eine Politik, die sich nur noch aufs technokratische Verwalten beschränkt, ist in Krisenzeiten völlig handlungsunfähig. Die immer neuen Versuche, echte Probleme allein mit Geld oder grimmigen Austeritätsprogrammen zu lösen, gehen jedes Mal in die Hose – nur leiden darunter nicht die Politiker, die versuchen, die EU „marktkonform“ gesund zu sanieren, sondern die Völker. Sie erleben die Überlastung durch eine rücksichtlose Wirtschafts- und Finanzpolitik genauso wie die Überforderung durch Flüchtlinge aus einer Region, in der die EU jahrelang eher passiv blieb oder nur dann reagierte, wenn es mal wieder um nette (Rüstungs-)Geschäfte ging.
Die EU braucht dringend einen Neustart, findet Vassiliadis.
„Die Europäische Union braucht einen sozial- und wirtschaftspolitischen Neustart.“
Das ist nach den Worten von Michael Vassiliadis die notwendige Konsequenz der anhaltenden tiefen Krisen innerhalb der EU. Die Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft dürften nicht länger tatenlos hinnehmen, dass die EU als „das große Friedens- und Wohlstandsprojekt der Nachkriegszeit von Tag zu Tag stärker zerfällt“, erklärte Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE und zugleich Präsident der Föderation der europäischen Industriegewerkschaften IndustriALL Europe, am 16. Februar.
Ignorante Staatenlenker
Das größte Problem Europas sei die Ignoranz seiner Staatenlenker gegenüber den nach wie vor ungelösten sozialen Problemen seit der großen Finanz- und Wirtschaftskrise zum Ende des vergangenen Jahrzehnts.
„Diese Krise hat die meisten Europäer ärmer gemacht, und in fast allen Ländern ist seither die Wirtschaftskraft geschwächt“, sagte Vassiliadis. Die Lebenswirklichkeit werde in weiten Teilen Europas durch Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit breiter Bevölkerungsschichten bestimmt. Die unzulänglichen Antworten der Politik auf diese Herausforderungen sei der Boden dafür, „dass heute Populismus, Chauvinismus und nationales Kalkül das politische Handeln in der Gemeinschaft zunehmend bestimmen“, so Vassiliadis.
Nach den Worten des Gewerkschaftsvorsitzenden fehle es nicht an politischen Konzepten, um die sozial- und wirtschaftspolitische Krise zu überwinden, sondern „an politischem Willen und an der Weitsicht der Regierungschefs“. Auch sei der Versuch gescheitert, „die Krise allein über die Europäische Zentralbank und die Zins- wie Sparpolitik zu lösen“.
Vassiliadis: „Die Schraube ist längst überdreht.“
Als Alternative dazu habe beispielsweise IndustriAll Europe ein „Manifest für mehr und bessere Arbeitsplätze in der europäischen Industrie“ vorgelegt, das genauso wie der nach dem Präsidenten der EU-Kommission benannte „Juncker-Plan“ Grundlagen für eine Trendwende in Europa schaffen könnte. Stattdessen hätten es aber die verantwortlichen Gestalter der EU zugelassen, „dass nach einer zu schnellen und unausgegorenen Erweiterung der Integrationsprozess stockt und sich in sein Gegenteil umkehrt“.
Diese Entwicklung, wenn sie nicht gestoppt werde, verringert nach Einschätzung von Vassiliadis die Chancen, dass Europa zurückfindet auf einen wirtschaftlichen und sozialen Fortschrittspfad. „Die großen Fragen Europas können nicht im Gegeneinander und im Kleinklein nationaler Egoismen beantwortet werden.“
Ein Sozialgipfel für Europa
Ausgangspunkt eines europäischen Neustarts sollte ein kurzfristig einzuberufender großer Wirtschafts- und Sozialgipfel unter Beteiligung des EU-Parlaments und der Sozialpartner sein, „um alle handlungsfähigen und Verantwortung tragenden Kräfte in Europa in die Pflicht zu nehmen, das historische Friedens- und Wohlstandsprojekt der EU zukunftsfähig zu machen“, so Vassiliadis.
Die Zeit sei vorbei, dass die Staats- und Regierungschef der Mitgliedsländer in exklusiven und intransparenten Zirkeln über die Arbeits- und Lebenschancen von 500 Millionen Europäern befinden. „Wir brauchen eine Art europäischer Generalversammlung, um das Verständnis über das gemeinsame Europa um eine soziale und demokratische Dimension ernsthaft zu vertiefen“, so Vassiliadis.
Es gibt 2 Kommentare
Nun, die Generalversammlung gibt es ja schon.
Demokratisch gewählt – aus aller Herren Europäer-Länder.
Ich vermute, Herr Vassiliadis ist äußerst unzufrieden mit der Arbeit dieses Gremiums und des Rates.
Zu Recht.
Weil die Politik, die ursächlich für all die Probleme als Grund benannt werden muss, nur durch ein paar einzelne Damen und Herren, beeinflusst durch “systemrelevante Institutionen”, gelenkt wird.
Und so könnte alles einer perversen Wendung zusteuern:
Statt die fortschrittlichen Länder in Europa mit Ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Kraft der restlichen Welt adäquat auf die Beine helfen, beschädigen sich diese durch unkluge, lobbyhafte Verhaltensweisen in Von-oben-Herab-Manier.
Ob das zu Revolutionen innerhalb Europa führen könnte vermag ich mir lieber nicht auszudenken. Aber scheinbar kann man nur damit solcherlei Kreisläufe unterbrechen.
Die Gier privater Menschen und der Firmen zerstört die ethischen Gesellschaftsgrundsätze.
So gern ich Gewerkschaften habe: was ist mit dem “Rest” der arbeitenden Bevölkerung?
“Neustart” ist faktisch nur das IT-mäßige Wort für “Revolution”, denn wie sonst sollte es einen Neustart geben?
Es wird aber am Geld scheitern. Die Staaten der EU haben ihre alten Finanzmittel weitgehend den Banken und der (sonstigen) Privatwirtschaft übergeben. Die Staaten sind de facto verarmt, von den Staatenlenkern wird nichts kommen.
Weil immer nach den USA geschielt wird als Negativ-Vision: Das ist falsch, die US-Amerikaner ticken anders und kommen in ihrer Gesellschaftsordnung zurecht, sehr wohl auch durch ihre kriegerische Außenpolitik.
Das wirkliche Schreckbild für die EU-Staaten sollte in Großbritannien gesehen werden. Die britische Gesellschaft ist irrsinnig gespalten. Der Industriesektor ist quasi nicht existent. Ich wundere mich schon seit Jahren, warum es dort nicht kracht. Die Welle Verachtung zum Tod von Maggie war aber sehr deutlich.