Richtig losgehen soll es ja mit der Bürgerbeteiligung im Rahmen der Zukunftsreihe "Leipzig weiter denken" erst 2016. Aber den Auftakt - und auch so eine Art Weichenstellung - gab es schon am Freitag, 20. November, in der Kongresshalle am Zoo. Da fand eine erste große Bürgerwerkstatt zur Themenfindung statt.
Wer Zeit hatte, schon ab 16 Uhr mitzudiskutieren zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept „Leipzig 2030“, war eingeladen, über die Themen und Herausforderungen der nächsten 15 Jahre mitzureden.
Die zentrale Frage lautet – zumindest aus Sicht der Leipziger Stadtverwaltung: “Wie können wir gemeinsam erreichen, dass nicht nur die Einwohnerzahl, sondern auch die Lebensqualität Leipzigs steigt?” Immerhin: 260 Leipziger fanden die Zeit.
In einleitenden Vorträgen ging es um Fragen, die den Leipzigern nicht wirklich neu sind: Sie spielen seit 1998 im Leipziger Agenda-Prozess eine Rolle. Sie tauchten 2007 in der “Leipzig Charta”, die auch OBM Burkhard Jung unterschrieb, wieder auf, genauso wie in seinem 2014 vorgelegten Arbeitsprogramm 2020.
Auch andere große Städte müssen Antworten finden auf Fragen wie: Welche globalen Entwicklungen beeinflussen unser Leben? Welche Auswirkungen haben z.B. die zunehmende Technisierung oder der Klimawandel? Wie verändern sich zukünftig Infrastruktur, Bildung, Mobilität, Kultur und Partizipation? Wie gehen wir damit als Stadtgesellschaft um? Auch die steigende Zahl der geflüchteten Menschen wird für die Gesellschaft eine wichtige Aufgabe für die kommenden Jahre sein.
In kleinen Runden wurde dann weiterdiskutiert, welche Zukunftsfragen der Leipziger Stadtentwicklung nicht vergessen werden dürfen.
Am Ende schälten sich zehn Schwerpunktthemen heraus:
1. Trotz des Wachstums Frei- und Möglichkeitsräume erhalten
2. Die räumliche Polarisierung der Stadtviertel verhindern
3. Integration ermöglichen
4. Technische Innovationen zur Verbesserung der Lebensqualität nutzen
5. Zusammenarbeit von Leipzig und seiner Umgebung (Umland) verbessern
6. Die Wirtschaftsstruktur ausgewogener gestalten
7. Die Mobilität verbessern
8. Herausforderungen des Klimaschutzes bewältigen
9. Chancengleichheit und soziale Mischung erhalten
10. Kommunikation und Beteiligung verbessern
Vier Schwerpunktthemen wurden dann noch einmal für eine Expertenrunde herausgepickt:
Nr. 3 Wie kann Integration gelingen?
Nr. 9 Wie kann Chancengleichheit und soziale Mischung erreicht werden?
Nr. 1 Neubau versus Erhalt von “Frei- und Möglichkeitsräumen”
Und Nr. 7 Mobilität in Leipzig
Auf welche Holzwege man kommt, wenn man sich schon so schnell thematisch einengt, zeigt beispielhaft das Thema Mobilität. In der Auswertung der Stadt klingt das Ergebnis so: “Bei der Diskussion über Mobilität in der Zukunft sahen viele Mitwirkende ein Problem darin, dass ein teurer öffentlicher Nahverkehr den Zugang zu Bildung und Kultur erschwert und forderten deshalb ein Bürgerticket für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Zudem war es vielen wichtig, bei einem Mobilitätskonzept dafür zu sorgen, dass Leipzig in allen Stadtteilen eine ‘Stadt der kurzen Wege’ wird. Verkehrstechnisch war den meisten eine bessere Verzahnung der Verkehrsmittel Fahrrad (mehr Fahrradstraßen), ÖPNV (besserer Ausbau) und Auto (mehr Carsharing, ggf. künftig selbstfahrende Fahrzeuge) wichtig.”
Das klingt alles irgendwie altbekannt. Als hätten hier freundliche Moderatoren die Beteiligten sanft gedrängt, sich schon mal auf Dinge zu verständigen, wie sie schon mehrmals diskutiert wurden. Nur ja keine heißen Eisen anpacken von der nachhaltigen Finanzierung des ÖPNV in Leipzig (völlig ungeklärt, man denke nur an die Ratlosigkeit des MDV-Gutachtens), über falsche Organisationsstrukturen, die tatsächlich zu einem Verlust an ÖPNV-Qualität führen (Regionalisierungsmittel, Linie 9, unübersichtliche Tarife und hemmende Tarifzonen) bis hin zum zwingend notwendigen Ausbau des Straßenbahn-Angebots. Das mittlerweile auf einmal als Allheilmittel verkaufte “Bürgerticket” wird keine einzige dieser Fragen lösen, im Gegenteil: Als Insellösung im MDV-Gebiet ist es nicht durchsetzbar.
Beim Thema Integration wurde natürlich auch das Gegenstück Segregation genannt: Wie kann man die Entmischung der Stadt verhindern? Nur durch infrastrukturelle Angebote? Das kann es nicht sein. Das tauchte auch beim Punkt “Chancengleichheit” wieder auf: “Auch bei der Schaffung von Chancengleichheit und sozialer Mischung war die Verteilung von Infrastrukturen in den Wohnquartieren ein wichtiger Punkt. Konkret wurden Bildungseinrichtungen oder Treffpunkte für unterschiedliche Generationen genannt.”
Man ahnt schon ein wenig, wie sehr alte Denkstrukturen (der Bund muss mehr Geld geben, man braucht mehr soziale Infrastrukturen) regelrecht zu Denkblockaden werden. Denn damit ist die Stadt immer auf den guten Willen anderer angewiesen – und der ist nun einmal ein Fähnchen im Wind der Politik.
Deswegen fehlen ganz andere Grundgedanken. Der erste: Wie kann man die Stabilität der Stadtgesellschaft von der Opportunität der gnadenreichen Politik abkoppeln? Welche Strukturen braucht die Stadtgesellschaft, um den Reichtum (auch an Kreativität und Unternehmergeist) vor Ort nachhaltig wirksam zu machen?
Das beginnt mit Verantwortung: Welche Verantwortung für die soziale Vielfalt in allen Stadtquartieren muss die Stadtverwaltung auf welcher Ebene übernehmen? Wo muss sie von der Bürgergesellschaft verpflichtet werden, alternative Wohn-, Lebens- Kultur- und Wirtschaftformen zu akzeptieren und zu fördern?
Das tauchte unter dem Punkt “Neubau versus Erhalt von ‘Frei- und Möglichkeitsräumen'” ja wieder auf. Da ging es irgendwie im alten Drei-Schritt von den “alternativen Wohnformen” übers “urban gardening” hin zu hypothetischen Abgaben für Investoren.
Als wäre man beim eifrigen Diskutieren ein bisschen munter geworden: Ach ja, die Wirklichkeit gibt es ja auch noch.
Den nächsten Schritt wagte man lieber nicht, nämlich den hin zur Frage: Wer macht in Leipzig eigentlich Stadtpolitik? Nur die Stadtplanung? Natürlich nicht. – Im Gegenteil. Die kommt meist gar nicht zum Zug, weil vorher ganz andere Ämter “ihr Ding” machen und dabei nicht wirklich Rücksicht aufs Stadtgefüge nehmen – mal ist es das Liegenschaftsamt, das eine für alle transparent nachvollziehbare Immobilienstrategie nicht erkennen lässt. Dann wieder räumt das Ordnungsamt neu entstehende Wagenplätze, weil Leipzigs Verwaltung sich seit Jahren weigert, verlässliche Formen für den Umgang mit alternativem Wohnen zu entwickeln. Dann, wenn es drauf ankommt, regieren Bürokratie und Paragraphen.
Oder die pure Ignoranz: Da diskutiert man am 20. November über bessere Mobilitätskonzepte – und winkt dann gleich im Dezember die nächsten Tiefgaragen für den Leuschnerplatz durch.
Womit man beim eigentlichen Knackpunkt wäre, nämlich der Frage: Wie ernsthaft will Leipzig Bürgerbeteiligung tatsächlich in die Politik einbinden? Oder wird allein der Machtwille des Stadtrates dafür sorgen, dass zwischen Wunsch und Umsetzung die alten, meist schwer nachvollziehbaren Barrieren bestehen bleiben?
Und was passiert eigentlich mit Minderheitenvoten? Werden die einfach ad acta gelegt, oder wird die Stadt auch als Spielfeld begriffen, auf dem tatsächlich auch Freiräume geschaffen werden, in denen alternatives Leben möglich wird? Denn die gibt es ja unübersehbar noch nicht. Alternative Ansätze sind bislang immer nur dort noch möglich, wo die Sanierung und Aufwertung der Stadtquartiere noch nicht begonnen hat oder noch nicht flächendeckend ist. Wenn erst einmal die Sanierungen und Investitionen passieren, lautet die Leipziger Devise bislang immer nur: Pass dich an oder weiche.
Ein ziemlich lähmendes Konzept.
So gesehen war das, was am 20. November zur Sprache kam, sehr sanft, sehr vorsichtig und wie der Versuch, ja niemanden zu Erschrecken mit einer Vision, die über den geltenden Konsens wirklich schon hinausgeht. Aber eines steht schon jetzt fest: Will Leipzig mal eine nachhaltige Stadt werden, wird es ohne (aus dieser Sicht) mutige Lösungen nicht funktionieren.
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