Das war schon etwas Ungewöhnliches, was der Stadtbezirksbeirat Leipzig Alt-West da bei seiner Sitzung am Mittwoch, 10. August, tat und beschloss. Einhellig beschloss er nach anderthalbstündiger intensiver Debatte eine Stellungnahme mit dem Titel „Sinnvolle politische Arbeit ist ohne Respekt vor anderen Meinungen nicht möglich.“ Denn seit einigen Wochen erlebt der Leipziger Westen etwas, was man so bislang noch nicht kannte.

Mehrfach wurden die Scheiben des Stadtteilladens in der Karl-Heine Straße mit Steinen eingeschmissen. Aufkleber mit aggressiven Angriffen gegen Akteure aus dem Stadtbezirk tauchen auf. Am 18. Juni wurde verbal die Verbrennung einer Broschüre zur Josephstraße gefeiert. Und das in einem Moment, in dem die Stadtteile im Leipziger Westen sich so langsam erholen, Straßen sich wieder beleben, gerade die Karl-Heine-Straße zur neuen Kulturmeile zwischen Plagwitz und Lindenau geworden ist.

Doch dieser Prozess des Bevölkerungszuwachses und der umfassenden Sanierung des Hausbestandes hat auch Tendenzen zur Verdrängung zur Folge. Möglich, dass genau hier die Ursachen für eine untergründig wachsende Aggressivität liegen, die sich aber sichtlich nicht gegen die Ursache von steigenden Mieten und knapper werdenden Freiräumen richtet, sondern gegen die städtischen Aktivitäten, den Leipziger Westen wieder attraktiv zu machen.

Ähnliche Konflikte – aber ohne diese persönlich werdende Aggressivität – gab es auch schon, als die Josephstraße in Lindenau mit Fördermitteln aufgewertet wurde und die leerstehenden Häuser dort saniert und am Ende auch große Flächen der beliebten Nachbarschaftsgärten bebaut wurden. Das erlebten einige Akteure aus dem Stadtteil nicht nur als Verlust liebgewordener Freiräume, sondern auch als Verdrängung. 2013 – mit der Freigabe der umgebauten Josephstraße – protestierten sie dagegen. Friedlich. „Bewegungsfreiraum für alle!“, forderten sie. 2016 ist das alles anders.

Das Thema Wohnraumverknappung spielt in ganz Leipzig eine Rolle. Denn wo Wohnraum aufgewertet und teurer wird, erleben das nicht nur Nutzer mit niedrigem Einkommen als Bedrohung. Es gehen auch eine Menge Freiräume für alternative Lebensansätze verloren. Was in großen Teilen Leipzigs bislang kein Problem war, weil schlicht genug Freiraum und Leerstand existierten. Doch längst sind auch die beliebten Fabrikhallen zu Investitionsobjekten von Immobilienentwicklern geworden und verwandeln sich in smarte Lofts und Eigentumswohnungen.

Möglicherweise haben nun in Plagwitz und Lindenau einige Akteure die Zuversicht verloren, dass sie mit ihren Vorstellungen vom Leben noch einen Platz finden in der sich füllenden Stadt.

Es gibt nur Vermutungen, wer hinter den ganzen Aktionen stecken könnte. Aber eine ziemlich kämpferisch angekündigte Aktion für die Zeit vom 15. bis 22. August in Plagwitz deutet darauf hin, dass zumindest eine kleine Gruppe von Menschen den bislang gültigen Konsens aufgekündigt hat, die bestehenden Probleme friedlich und im Dialog anzugehen. Sie empfinden das Tempo der Veränderung in Lindenau und Plagwitz als „atemberaubend“ und als Verdrängung. Und sie postulieren eine Absage an die Aufwertung des Stadtteils: „Das Viertel soll nicht schöner werden, sondern widerständiger.“

Ob der Aufruf und die aggressiven Aktionen zusammengehören, ist offen.

Aber der Stadtbezirksbeirat, der am 10. August tagte, war sich einig, dass der Weg in die Aggression kein Weg für den Westen sein kann. Den Vorschlag, eine gemeinsame Position für ein friedliches Miteinander zu formulieren, kam von der SPD. Immerhin sei es eine wertvolle Errungenschaft in Leipzig, dass man Lösungen gemeinsam suche, nicht in einem gewalttätigen Streit.

In der Erklärung, die am Ende alle Mitglieder des Stadtbezirksbeirats unterschrieben, heißt es: „Wir im Leipziger Westen arbeiten zusammen mit jedem und jeder. Niemand ist ausgeschlossen. Keine Meinung soll ungehört bleiben. Aber es gibt für uns drei Regeln: Wir reden MITEINANDER und nicht ÜBEREINANDER. Wir lassen ausreden und hören zu. Sachbeschädigungen und Gewalt sind kein Mittel der politischen Auseinandersetzung.“

„Die in unserer gestrigen Sitzung einstimmig verabschiedete Stellungnahme zu den aktuellen Vorkommnissen im Leipziger Westen begrüßen wir und mit uns unsere SPD in Leipzig Alt-West ausdrücklich“, kommentierten am Donnerstag, 11. August, die drei SPD-Stadtbezirksbeiräte Christoph Jabs, Georg Teichert und Eva Brackelmann die Stellungnahme aus dem Stadtbezirksbeirat.

„Wir wollen eine politische Kultur und kritische Auseinandersetzung im Gespräch und mit demokratischen Mitteln“, erklärt Georg Teichert.

„Es ist toll, dass sich der Stadtbezirksbeirat mit seinen Mitgliedern aus der Mitte und dem Leben in Alt-West, gemeinsam klar positioniert hat – das war das Ziel“, so Eva Brackelmann.

Friedlicher Protest 2013 in der Josephstraße: Bewegungsfreiheit für alle! Foto: Ralf Julke
Friedlicher Protest 2013 in der Josephstraße: Bewegungsfreiheit für alle! Foto: Ralf Julke

Und Christoph Jabs: „Ein solches gemeinsames Zeichen aller demokratischen Parteien ist wichtig für unseren Stadtbezirk.“

Angst überwinde man durch klare Haltung und nicht durch Gewalt, betonen die drei: Wer Steine wirft und anonym pöbelt, ist nicht im Recht!

Und entsprechende Zustimmung bekam die Erklärung des Stadtbezirksbeirats auch von der CDU.

„Wir können uns der Stellungnahme des Stadtbezirksbeirates vollumfänglich anschließen. Es freut mich, dass auch Vertreter der anderen Parteien ein klares Zeichen gegen Gewalt von Links setzen. Dies habe ich in den Ratsdebatten des vergangenen halben Jahres vermisst“, meint Stadtrat Michael Weickert, Ortsverbandsvorsitzender der CDU. Jede verbale wie auch körperliche Gewalt dürfe aus Sicht der Christdemokraten keine Rolle im politischen Diskurs spielen. Probleme sollten offen und ehrlich benannt werden können, wobei niemand Angst haben solle, seine Meinung im Rahmen der demokratischen Grenzen zu äußern.

„Wir pflegen seit Jahren einen kollegialen Umgang im Stadtbezirksbeirat und so ist auch diese gemeinsame Stellungnahme ein wichtiges Zeichen. Die Meinungsfreiheit erlaubt vieles, man muss konträre Meinungen aushalten, aber Gewalt ist ein extrem schlechtes Argument“, ergänzt CDU-Stadtbezirksbeirat Eric Buchmann.

Wobei beide schon einmal deutlich machen, dass die Spirale der Gewalt sich erst zu drehen beginnt mit solchen Attacken.  Der Reflex ist sofort da. Verwaltung und Sicherheitsbehörden seien gefordert, gewalttätige Strukturen im Keim zu ersticken, betonen die beiden. Auch die Stadt als Ortspolizeibehörde sei gefordert.

„Alle Beteiligten müssen nun sowohl präventiv als auch repressiv gegen Gewalttäter vorgehen. Wir wollen kein zweites Connewitz, wo sich autonome Gewaltstrukturen in den letzen Jahren unter sehendem Auge der Stadtspitze entwickeln konnten!“, meint Weickert. Und zeichnet dabei freilich genau das Hin und Her, mit dem sich Emotionen an so einer Stelle hochschaukeln.

Zumindest eines haben die zumeist nächtlichen Akteure geschafft: ein erstes Klima der Verunsicherung und des Misstrauens zu erzeugen. Und im Stadtbezirksbeirat Altwest eine Einmütigkeit, die so auch etwas Neues ist. Denn einer Meinung sind die dortigen Akteure auch eher selten. Aber so einmütig wie jetzt haben sie noch nie festgestellt, dass die nächtlichen Attacken niemandem helfen. Und eigentlich auch feige sind.

„Wir wollen das Gespräch und den Dialog auf Augenhöhe, unmaskiert und nicht in der Nacht“, schreiben sie in ihrem Appell. „Deshalb laden wir herzlich zu einem Gespräch und Austausch zur nächsten Stadtbezirksbeiratssitzung am 7. September 2016 ein.“

Die Stellungnahme des Stadtbezirksbeirates Altwest.

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