1991 begann der Zerfall Jugoslawiens; zur gleichen Zeit fand das Hoxha-Regime in Albanien sein Ende und die UdSSR brach auseinander. Dieser enorme politische Umbruch spiegelt sich auch in Kultur und Gesellschaft wider. 30 Jahre später widmet sich daher „Common Ground. Literatur aus Südosteuropa“, die Schwerpunktregion der Leipziger Buchmesse 2020–2022, diesem Thema und stellt das Jahr 2021 unter das Motto „Archipel Jugoslawien 1991–2021“.
Dabei geht es nicht nur um Krieg und Hass, sondern auch um Hoffnung und neue Identitäten, und die bleibende Identifikation mit einem Staat, den es nicht mehr gibt. Um Menschen, die entwurzelt wurden, und solche, die ausharrten. Und um die Frage, wie ein Leben und Miteinander in der Gegenwart trotz allem möglich ist.
Gerade vor dem Hintergrund der jahrelangen Konflikte in Südosteuropa wird das kulturpolitisch Besondere des „Common Ground“ deutlich: Erstmals nach 1991 präsentieren alle Länder Südosteuropas gemeinsam ihre Literaturen und ihre Autor:innen und wollen damit zu einem grenzüberschreitenden, europäischen literarischen und kulturellen Austausch beitragen.
Kann die Zeit die Wunden heilen?
Nachdem 2020 im Auftaktjahr von „Common Ground“ das Thema „Herkunft und Zugehörigkeit“ im Mittelpunkt stand, ist es 2021 der Rückblick über die drei Dekaden seit dem blutigen Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien. Hana Stojić, die Kuratorin von „Common Ground“, hat den Krieg selbst erlebt, sie verbrachte einen Großteil ihres Lebens in Sarajewo.
Nun stellt sie das Programm für die Leipziger Buchmesse 2021 (27. bis 30. Mai) zusammen: Heilt die Zeit alle Wunden? Welche Themen wurden noch nicht literarisch verarbeitet? Was ist aus all jenen geworden, die in der Fremde ihre Sprache gewechselt haben? Gibt es einen Dialog zwischen den Seiten, die einst Krieg gegeneinander geführt haben? Und kann Literatur Dialoge eröffnen, wenn die Politik versagt?
Antworten auf diese und viele weitere Fragen sollen Gespräche mit Autor:innen aus Südosteuropa rund um die Leipziger Buchmesse geben. Dabei werden sich verschiedene Generationen von Schriftsteller/-innen gegenüberstehen, die keine oder jeweils ganz andere Erinnerungen an diese Zeit haben.
Zusätzlich zu den zehn Veranstaltungen auf der Leipziger Buchmesse wird sich „Common Ground“ das ganze Jahr über in digitalen Formaten dem Thema „Archipel Jugoslawien“ widmen und Autor:innen virtuell zur Sprache kommen lassen.
Neuerscheinungen: Historische Ereignisse und persönliche Erlebnisse
Ihre ganz persönlichen Erfahrungen und Gedanken zum Jahresthema haben 15 Autor/-innen aus allen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens in bewegenden Essays niedergeschrieben. Auch die neuübersetzten Bücher öffnen den Blick für dieses bedeutende Kapitel der südosteuropäischen Geschichte. Die Bücher zeigen, wie unterschiedlich Autor:innen mit den historischen Ereignissen oder auch persönlichen Erlebnissen umgehen.
Mit einer fesselnden Sprache zwischen rebellischem Trotz und beißender Komik etwa erzählt Bosniens Literatur-Shootingstar Lana Bastašić in „Fang den Hasen“ von einer außergewöhnlichen Freundschaft in den Wirren der jugoslawischen Geschichte.
Diese zerfiel so plötzlich wie das Land, in dem die beiden Freundinnen aufwuchsen. Eine verließ das Land, die andere blieb. Nach 12 Jahren treffen sie sich wieder. Das Buch, das mit dem Literaturpreis der Europäischen Union 2020 ausgezeichnet wurde, erscheint im März 2021 im S. Fischer Verlag.
Auch Faruk Šehić wurde 1970 in einem Land geboren, das es heute nicht mehr gibt, und kämpfte selbst im Bosnienkrieg. Bereits mit seinem autobiographischen Roman „Knjiga o Uni“ („Buch von der Una“) hatte der aus Bihać stammende Autor versucht, die im Krieg verbrannte Welt zu rekonstruieren.
In seinem Erzählband „Uhrwerksgeschichten (vorapokalyptischer Weltschmerz)“, der vor kurzem im Mimesis Verlag erschienen ist, forscht der bosnische Autor nun weiter über das Trauma des Krieges und das Grauen des Friedens. Gattung und Inhalt der Geschichten reichen von hyperrealistischer Erzählweise bis hin zum vollkommen Fantastischen und Futuristischen.
Eine Mischung an Personenportraits hat Rumena Bužarovska aus Nordmazedonien in ihrem Erzählungsband „Mein Mann“ zusammengestellt, der ebenfalls im März 2021 bei Suhrkamp erscheint. Darin seziert die Autorin in elf Erzählungen Varianten des Patriarchats, hyperrealistisch und gnadenlos – oft aber auch gnadenlos witzig.
Ein ironischer und messerscharfer Blick auf Männer und auf das Leben der Frauen, die unter ihren Männern leiden, dies aber nicht mehr widerspruchslos hinnehmen wollen. Das Buch, das bereits in acht Sprachen übersetzt wurde, machte Rumena Bužarovska nun definitiv zu einer Größe der südosteuropäischen Literaturszene.
Weitere Informationen: https://www.traduki.eu/common-ground/
Keine Kommentare bisher