An der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig forschen Wissenschaftler zu psychischen Belastungen und Stigmatisierungen von Besatzungskindern. Durch ein Forschungsprojekt fanden die sogenannten „Russenkinder“ zueinander für einen direkten Kontakt und Austausch gemeinsamer Erfahrungen. Russenkinder entstammen aus Beziehungen einheimischer Frauen mit sowjetischen Besatzungssoldaten nach dem Zweiten Weltkrieg - aus Liebesbeziehungen oder durch Vergewaltigungen. Nun veröffentlichten sie ihre persönlichen Erlebnisse in einem Buch. Die öffentliche Lesung findet am 21. April 2017 in der Leipziger Stadtbibliothek statt.

„Der Austausch mit anderen Russenkindern über ihr Schicksal und der Gang in die Öffentlichkeit haben mich sehr bereichert. Die öffentliche Resonanz war für uns Betroffene ungeahnt positiv“, betont Winfried Behlau, Sprecher des Russenkindernetzwerks „Distelblüten“, welches aus dem Leipziger Forschungsprojekt um Studienleiterin Dr. Heide Glaesmer entstanden ist. Glaesmer ist Wissenschaftlerin in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig und forscht in dem internationalen Forschungsnetzwerk „Children born of War“ (CHIBOW) zu psychischen Belastungen von Besatzungskindern in verschiedenen Ländern.

Insgesamt 15 Doktoranden forschen weltweit im Rahmen von CHIBOW zu Kindern des Krieges. In Leipzig liegt der Forschungsschwerpunkt auf Besatzungskindern und ihren Erfahrungen mit Stigmatisierung und Diskriminierung, ihrer Identitätsentwicklung und ihrem heutigen psychischen Befinden. Die Forschergruppe um Glaesmer sandte dafür Fragebögen an Besatzungskinder in Deutschland, nach Norwegen und Österreich. Parallel läuft eine Studie in Bosnien und Herzegowina zu Kindern des Balkankrieges. Eine weitere neue Studie beginnt jetzt auf Haiti zu Kindern von Soldaten der UN-Friedensmissionen.

„Die anfängliche Vermutung, dass die Besatzungsarmee des Vaters auch Einfluss auf Kindheitserfahrungen ausübt, hat sich bei der ersten Analyse der Studie nicht bestätigt. Interessant ist, dass viele der Erfahrungen der sogenannten Kinder des Krieges über verschiedene zeitliche und regionale Kontexte hinweg vergleichbar sind. Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen, Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen in der Kindheit und die Besonderheiten in der Identitätsentwicklung als ‚Kind des Feindes‘ oder zwischen zwei Kulturen und als vaterloses Kind stellen Entwicklungsbedingungen dar, die unter anderem zu häufigeren psychischen Belastungen bei Besatzungskindern des Zweiten Weltkrieges in Deutschland im Vergleich mit ihrer Altersgruppe aus der Allgemeinbevölkerung führten“, sagt Glaesmer. Der Austausch untereinander kann dabei helfen, die negativen Erlebnisse besser verarbeiten zu können und in die eigene Biografie zu übernehmen.

„Unter den Russenkindern gibt es schon sehr unterschiedliche Erfahrungen. Sie reichen von einer völlig unbekümmerten Jugend bis hin zu sehr schmerzlichen Schädigungen. Auffällig ist, dass Menschen, die einer Vergewaltigung entstammen, das öffentliche Bekenntnis dazu mehr scheuen als Kinder aus Liebesbeziehungen“, so Winfried Behlau. Diese Erkenntnisse finden sich nun wieder in dem Buch „Distelblüten – Russenkinder in Deutschland“, dass die Betroffenen auf einer Lesung vorstellen werden. Sie lesen und sprechen über ihre Herkunftsgeschichte als Russenkinder in Deutschland: den unbekannten Vater, der nach Bekanntwerden der Beziehung für zehn Jahre im Gulag verschwand wie auch über den Vater, dessen Grab nach fast sieben Jahrzehnten gefunden wird. Das Vergewaltigungskind, das Frieden mit sich und dem Verbrechen gemacht hat. Das Russenkind, das stolz auf die Herkunft blickt und gern ein Russenkind ist.

Die Russenkinder freuen sich über neue Kontakte und laden alle Interessenten zur öffentlichen Lesung am 21. April 2017 um 18.00 Uhr in der Stadtbibliothek Leipzig, Wilhelm-Leuschner-Platz 10 – 11 in 04107 Leipzig ein. Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung nicht erforderlich.

Hintergrund: PD Dr. Heide Glaesmer ist Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin und leitet den Forschungsbereich “Psychotraumatologie und Migrationsforschung” der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Weitere Forschungsbereiche der Abteilung unter Professor Anja Mehnert sind:

Psychoonkologie
Verhaltensmedizin mit Schwerpunkt Adipositas und Essstörungen (IFB)
Gesellschaftlicher und medizinischer Wandel
Medizinpsychologische und medizin-soziologische Versorgungsforschung
Psychometrie und Lebensqualitätsforschung

Zum Buch „Distelblüten – Russenkinder in Deutschland“:
http://russenkinder-distelblueten.de/buch/index.html

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