Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Jung, seit 1992 wohne ich in Leipzig und seit 1997 mit der Familie […]. Bisher haben wir uns hier immer sehr wohlgefühlt. Leipzig ist eine lebendige, offene und sehr diverse Stadt, mit vielen jungen Menschen, die kleine Geschäfte, Läden aller Art, Kaffees, Eisdielen und vieles anderes mehr führen. Viele Viertel sind angenehm und lebenswert; wir möchten, dass es auch so bleibt.
Allerdings hat sich die Sachsenbrücke in den letzten zehn Jahren, also weit vor der Coronakrise, zunehmend zu einem Problemfall entwickelt. Denn immer mehr Menschen – aus allen Teilen Leipzigs – stehen Abend für Abend dort (mit der relativen Ausnahme von montags), sodass viele von uns längst den Park, und v. a. die Sachsenbrücke, in den Abendstunden meiden. Das ist insoweit nicht nur eine massive Einschränkung unserer Freiheit, v.a. für die Anwohner Schleußigs, sondern auch ein enormes Hindernis für all jene Menschen, die sich mit dem Fahrrad auf den Weg zu Arbeit begeben.
Aufgrund des großen Andrangs dort, oft schon am späten Nachmittag, aber an schönen Tagen ganz besonders am Abend, ist die Durchfahrt nicht oder nur schwer möglich, und das ist besonders nachts bei einer unbeleuchteten Brücke eine ziemliche Gefahr. Montags ist die Brücke bedingt passierbar, weil sie trotz der Bemühungen der Reinigungskräfte voller Glasscherben ist. Der Höhepunkt dieser Entwicklung fand am Samstag, den 12. statt, wie wir inzwischen wissen.
Als ich am Sonntag den 13. früh Joggen ging, trauten meine Augen nicht, was ich da sah: Es war buchstäblich ein Meer von Müll, Flaschen aller Art, die meisten aus zerbrochenem Glas, und von Glasscherben, obwohl die Stadtreinigung schon eine ganze Weile dabei war, den Müll einzusammeln. Wie viel davon in das Elsterflutbett geworfen worden ist, möchte ich mir nicht ausmalen. Als ich auf dem gleichen Weg zurückkam, stellte ich fest, dass die Stadtreinigung weg war und nicht geschafft hatte, den ganzen Müll einzusammeln, das zeigt das Ausmaß der Vermüllung.
Außerdem wurde der Park an vielen Stellen als Klo benutzt, hier macht man offenbar den Hunden Konkurrenz. Das Problem liegt nicht darin, dass junge Menschen von überall herkommen und zusammensitzen und feiern wollen, das ist ihr gutes Recht, sondern darin, dass eine Gruppe von Menschen da ist, die zu einem gewissen Zeitpunkt unter dem Einfluss von übermäßigem Alkoholkonsum, möglicherwiese auch von Drogen, alle Schranken fallen lassen und niemand bereit bzw. in der Lage ist, diese aufzuhalten.
Das hat wohl mit Corona und mit der Sehnsucht nach geselligem Beisammensein nichts zu tun, sondern mit Maßlosigkeit, mit Zerstörungswut, Aggression und Vermüllen des Parks und der Sachsenbrücke.
All dies soll und darf man nicht verharmlosen, wie es Herr Kasek tut. Wenn man so wie Herr Kasek redet, der sich als den edlen und einzigartigen Ritter aufspielt und der sich um das „Nachtleben in Leipzig kümmert”, (braucht Leipzig dafür so einen Kümmerer?) bagatellisiert das, was am Park und an der Sachsenbrücke jeden Abend stattfindet, in einer nicht zu rechtfertigenden und verantwortungslosen Weise.
Die Sachsenbrücke als „Disneyland des Unperfekten“, als Raum „in dem sich kreative Menschen ausleben“ zu überhöhnen, ist ein grober Unfug. Will Herr Kasek mit derartigen irreführenden Formulierungen zeigen, wie cool er ist?
Hier in Schleußig leben viele kreative Menschen, wie Musiker, Maler, Künstler, Schauspieler, Wissenschaftler, die aber vor unbändiger Kreativität nie zum Vermüllen der Sachsenbrücke und des Parks beigetragen haben, geschweige denn, die Polizei und die Reinigungskräfte angegriffen. Noch unverständlicher ist die Aussage von unserem Robin Hood Kasek, der den dort feiernden Menschen keinen Vorwurf machen will (ich frage mich, wem sonst?) und der dieses Chaos und diese überbordende Maßlosigkeit mit Corona zu rechtfertigen versucht und auch damit, dass „die Clubs noch zu“ hätten.
Und wie kommt er dazu, nach so einem Desaster zu behaupten, dass das „Nachtleben eine Ordnungsfunktion„ hätte (offenbar nicht), und dass es „auf keinen Fall passieren [dürfe], dass die Polizei kommt und auflöst“, denn sonst hätte ,man „hier Krawalle, wie in Frankfurt und Stuttgart“, ist mir ein Rätsel: Also nicht die Gewalttäter und die Verursacher des Vermüllens sind für die Folgen verantwortlich, sondern die Polizei; verkehrte Welt.
In Berlin gab es vor vielen Jahren solche Exzesse und es war erst Schluss damit, als der Senat solche Treffen verbat, so wie in Frankfurt, Stuttgart oder anderswo. Die Folge von diesen Verharmlosungen führen dazu, dass friedlich feiernde, v.a. junge Menschen undifferenziert in einen Topf mit den Krawallmachern geworfen werden und letztere stammen aus sozialen Schichten quer durch die Gesellschaft.
Nein, solche Exzesse habe ich in den letzten neunundzwanzig Jahren in Leipzig, z.B. in der Karl-Liebnecht-Str., noch in der Karl-Heine-Straße (und auch sonst nirgendwo) erlebt, wo so viele Menschen zusammenkommen, weil man sich dort gesittet trifft und feiert, sie können sich aber weder hinter der anonymen Masse noch in der Dunkelheit noch in der Weite des Parks verstecken. Bedauerlich ist auch, dass diese Exzesse sich im Umkreis des Parks ausbreiten, sodass Trambahn und Bushaltestellen, Verkehrszeichen und Mülleimer auch noch Opfer der Zerstörung werden.
Die LVZ berichtete schonungslos und mehrfach über die Ereignisse an der Sachsenbrücke, aber in den Beiträgen der Onlinezeitung bzw. der Druckausgabe wurden Fotos mit den hinterlassenen Spuren der Zerstörung am So., den 13 nicht veröffentlicht, sondern zwischen dem 14. und dem 19.06. wurde eine Reihe von mehr oder weniger harmlosen bis hin zu idyllischen Fotos abgedruckt.
Menschen haben aber ein Recht darauf, dass die Medien offen zeigen, was da geschah, damit man sie nicht nur diskursiv, sondern auch bildlich das Ausmaß dieses Problems nachvollziehen können. Als inakzeptabel, weil unzutreffend, beleidigend und diffamierend, ist der Vergleich der Verfehlungen in Leipzig, Frankfurt oder Stuttgart mit den Mittelmeerländern. Wenn mich meine Geographiekenntnisse nicht täuschen, sind hier Griechenland, Frankreich, Italien, Portugal, Spanien oder die Türkei u.a. gemeint.
Herr Klaus Staeubert hat keine Skrupel unüberlegt zu behaupten: Auch anderswo in Leipzig wachsen die Müllsorgen, etwa im Lene-Voigt-Park im Osten. Das sei aber nicht zu vergleichen mit der Sachsenbrücke.
Viele Städte kennen dieses Problem, das als Mediterranisierung bekannt ist. Der Begriff beschreibt das Phänomen, dass Menschen ähnlich denen in südlichen Ländern auch hierzulande immer öfter ihren Alltag unter freiem Himmel 3 verbringen. Littering, die Vermüllung des öffentlichen Raumes, ist eine Begleiterscheinung davon, die gerade für Großstädte typisch ist. (meine Kursiva)
Statt dass Herr Klaus Staeubert sich an der eigenen Nase fasst, weist er auf den „wilden meditteranen Anderen“ hin, dessen schlechte Lebensweise wir arme Deutsche hier nachahmen; der Vergleich ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten und überdies höchst unanständig. Nicht zuletzt könnte man diesen unsäglichen Vergleich als typisch für Rassismus verstehen: Man findet einen Sündenbock, um eigene Schwächen zu rechtfertigen, nicht die deutschen Krawallmacher auf der Sachsenbrücke oder anderswo in Deutschland, sondern der negative Einfluss aus dem Ausland ist schuld daran.
Leider muss ich Herrn Klaus Staeubert enttäuschen: Ich reise in die o.g. Mittelmeerländer im Urlaub und als Wissenschaftler seit ca. vierzig Jahren (nach Marokko seit 2008) und so was, wie sich auf der Sachsenbrücke am 12.-13.06. ereignete, habe ich weder in der Costa del Sol, noch auf Mallorca (Spanien), noch auf Trastrevere bzw. in der Umgebung vom Castel St. Angelo (Rom), noch in Mailand, noch in Porto (Portugal), noch in Südfrankreich, und wenn jemand in diesen Ländern bzw. Städten wegen Krawall, Trunkenheit oder Vermüllung negativ aufgefallen ist, sind das leider an erster Stelle bestimmte deutsche, niederländische und britische Gruppen; aber keine Einheimische.
Damit bestreite freilich ich nicht, dass überall auch solche Exzesse, wie in Leipzig vorkommen und dass auch in den Mittlemehrländern Jugendliche Müll hinterlassen aber keine Verwüstung und Vermüllung, wie auf der Sachsenbrücke. Ferner weder höre noch lese ich in den diskriminierten Mittelmeerländern, dass dort die Städte unter einer „Germanisierung“ bzw. „Niederländisierung“ oder „Britanisierung“ von Unsitten leiden.
Als ich am Fr. den 18.06. durch den Park kam, waren drei Polizeiwägen und ein Auto und ca. zwölf Polizisten/-innen Vorort. Alles war ruhig und ich fragte mich, warum Menschen oft repressive Maßnahmen brauchen, um sich vernünftig zu verhalten. Leider war es laut Bericht der LVZ am 21.06. erneut zu Krawallen gekommen.
Schade um die friedlich Feiernden, aber sie tragen hier auch eine Mitverantwortung, nicht an den skizzierten Problemen, sondern, weil sie sich nicht schnell von solchen Krawallmachern und Gewalttätern distanzieren und sie die Polizei bei entstehenden Unruhen nicht gleich kommenlassen, und zwar um ihre eigene Rechte zu bewahren und um ihren eigenen Selbstschutz zu sichern. Das mag im ersten Augenblick als uncool erscheinen, aber ich denke, dass es supercool wäre, dass man sich durch aktive Prävention künftig ohne Polizeipräsenz, wie jetzt der Fall ist, treffen kann. Und wie soll die Lösung aussehen?
Diese ist mehr als kompliziert, die muss, mit Aristoteles sprechend, Angemessen bzw. Verhältnismäßig sein, aber der aktuelle Zustand muss beendet werden. Das Beste wäre es, einen Dialog mit den Besuchern der Sachsenbrücke, v.a. mit jenen, die regelmäßig kommen und eventuelle einen Überblick vom Geschehen haben, u.a. mit dem Ordnungsamt, mit der Polizei und mit ausgewählten Bewohnern/-innen Schleußigs ohne Verzug einzuleiten. In diesem Kreis soll dann eine effektive, zielführende und einvernehmliche Lösung gefunden werden; wenn nicht, dann sind sicher andere Maßnahme notwendig.
Ich wünsche mir, dass solche spontanen Treffen, diese bunte Vielfalt, die auch ein Merkmal Leipzigs und Schleußigs geworden ist, bestehen bleibt, und diese soll auf keinen Fall Gewalttätern und einer falsch verstandenen Toleranz zum Opfer fallen. Und zum Schluss: Ich würde den Herren Kasek und Staeubert sowie anderen dringend empfehlen, Ludwig Wittgensteins Tractatus logico- philosoficus zu lesen, der unter vielen anderen klugen Formulierungen diese verfasste: „Alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen.“
Also: Vorher denken, überlegen und dann erst reden und schreiben. Ich erwarte und ich verlange vom Stadtrat Leipzigs diesem Treiben einen Endpunkt zu setzen! Ich bitte darum, meinen Namen aus der Öffentlichkeit rauszuhalten, denn ich möchte nicht, dass meine Familie angegangen wird, wie bei anderen Anlässen der Fall war; soweit sind wir in Deutschland gekommen. Mit freundlichen Grüßen eines Leipzigers, der diese wunderschöne und vielfältige, offene und tolerante, bunte und dynamische Stadt außerordentlich schätzt.
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