Wenn eine Wirtschaft irreläuft, dann merken es nicht nur Tiere und Pflanzen, kippt das Klima und die Wüsten wachsen. Dann geraten auch immer mehr Menschen in seelische Nöte, die Arbeit macht sie krank. Und es verwundert nicht, dass seit der Entfesselung der neoliberalen Vorstellungen von Arbeits-Effizienz immer mehr Menschen wegen psychischer Erkrankungen zum Arzt gehen müssen.
In Deutschland ist die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen rasant gestiegen, meldet die DAK. Von 2000 bis 2019 gab es bei den Fehltagen aufgrund von psychischen Erkrankungen insgesamt einen Anstieg um 137 Prozent. Frauen waren wesentlich häufiger wegen Seelenleiden krankgeschrieben als ihre männlichen Kollegen. Das sind zentrale Ergebnisse des Psychoreports 2020 der DAK-Gesundheit.
Der aktuelle DAK-Psychoreport ist eine Langzeit-Analyse, für die das IGES Institut die anonymisierten Daten von über zwei Millionen erwerbstätigen Versicherten ausgewertet hat. Demnach erreichten die Krankschreibungen von Arbeitnehmern aufgrund von psychischen Leiden im Jahr 2019 mit rund 260 Fehltagen pro 100 Versicherte einen Höchststand.
Der Blick auf die Einzel-Diagnosen zeigt, dass Depressionen und Anpassungsstörungen die meisten Ausfalltage verursachten. 2019 gingen 105 Fehltage je 100 Versicherte auf das Konto von Depressionen, bei den Anpassungsstörungen waren es 59. Auf Platz drei rangierten neurotische Störungen mit 26 Fehltagen je 100 Versicherte. Angststörungen kamen auf 19 Fehltage je 100 Versicherte.
„Psychische Erkrankungen sind nicht nur eine große Belastung für die Betroffenen, sie stellen unsere ganze Gesellschaft vor enorme Herausforderungen“, kommentiert DAK-Vorstandschef Andreas Storm die Ergebnisse.
Vor allem die Ausfalltage wegen Anpassungsstörungen haben in den vergangenen Jahren rasant zugenommen: Seit 2000 hat sich ihre Anzahl bezogen auf 100 Versicherte vervierfacht. Storm begrüßt die Pläne der Bundesregierung, eine Offensive für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu starten. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte vor einer Woche gesagt, im Kampf gegen das Problem müssten Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsschutz und Gesundheits- sowie Familienpolitik Hand in Hand gehen.
„Zentral ist, dass auch Arbeitgeber psychische Belastungen und Probleme aus der Tabuzone holen und ihren Mitarbeitern Hilfe anbieten“, meint Storm. „Beim betrieblichen Gesundheitsmanagement steht unsere Kasse Firmen zur Seite und unterstützt die Versorgung und Wiedereingliederung psychisch belasteter und kranker Arbeitnehmer.“
Wie der DAK-Report zeigt, nahmen die Fehlzeiten für psychische Erkrankungen bei beiden Geschlechtern mit dem Alter kontinuierlich zu. Frauen hatten 2019 erneut wesentlich mehr Fehltage wegen Seelenleiden als ihre männlichen Kollegen (328 Fehltage je 100 Versicherte gegenüber 203 Fehltage bei Männern).
Und die DAK-Statistik macht auch deutlich, wo es augenscheinlich die größten psychischen Belastungen gibt: Die öffentliche Verwaltung hatte 2019 überproportional viel Arbeitsausfall aufgrund psychischer Erkrankungen. Die Branche lag mit 382 Fehltagen je 100 Beschäftigte 47 Prozent über dem DAK-Durchschnitt. Ebenfalls viele Fehltage wegen Seelenleiden hatten zudem das Gesundheitswesen mit 338 Fehltagen und der Bereich Verkehr, Lagerei und Kurierdienste (249 Tage).
Die Einzelgrafik (unten) zeigt sehr deutlich, wie gerade Depressionen und Anpassungsstörungen stark zugenommen haben. Zeichen dafür, dass sich Arbeitsabläufe und Anforderungen immer mehr von den Beschäftigten entfernt haben. Immer mehr Menschen finden sich unter Arbeitsbedingungen wieder, die sie völlig überlasten, ihnen Arbeit aufbürden, die vorher deutlich mehr Beschäftigte schulterten.
Das führt in Branchen wie dem Gesundheitswesen schon zu einer regelrechten Flucht der Beschäftigten, die ihren Lieblingsberuf nach einigen Jahren aufgeben müssen, weil die Arbeitstaktung jegliches menschliche Maß verloren hat.
Und der Blick auf die gesamte Liste der Berufsfelder zeigt, dass das praktisch überall passiert, dass das auf Rendite getrimmte System systematisch alle Arbeitswelten ergriffen hat und Menschen in Verhältnisse zwingt, in denen für eine Identifikation mit der Arbeit immer weniger Raum bleibt.
Bei den Fehltagen durch psychische Erkrankungen gab es deutliche regionale Unterschiede, meint die DAK: Während im Saarland im vergangenen Jahr 340 Fehltage je 100 Versicherte mit den entsprechenden Diagnosen begründet wurden, waren es in Baden-Württemberg lediglich 207 Fehltagen je 100 Versicherte. Berlin und Brandenburg belegten mit 303 und 301 Fehltagen je 100 Versicherte die Plätze zwei und drei der Statistik.
Aber auch diese Heraushebung täuscht. Denn in keinem einzigen Bundesland ist die (Arbeits-)Welt in Ordnung. Auch in Sachsen gab es 249,3 Fehltage auf 100 Versicherte wegen psychischen Erkrankungen. Was die Statistik natürlich nicht zeigt ist, wie viele Beschäftigte ihre psychischen Probleme versuchen mit Selbstmedikamention, Drogen oder Alkohol in den Griff zu bekommen. Und sie analysiert auch nicht die konkreten Ursachen für die psychischen Belastungen. Erst dann wäre genau zu benennen, was seit 2000 diesen deutlichen Anstieg der psychischen Erkrankungen ausgelöst hat.
Vor einer solchen Analyse schreckt auch der zitierte Bundesarbeitsminister zurück. Sein Ministerium hat die Dimension des Problems zwar erkannt, denkt aber noch in den alten Mustern und merkt nicht, wie es die radikale Denkweise der neoliberalen Wirtschaftstheorie gedankenlos übernommen hat.
Das liest sich nämlich so: „Produktivität, Mobilität, Flexibilität: Die Bedingungen, unter denen Berufstätige heute ihrer Arbeit nachgehen, erfordern eine hohe Anpassungsfähigkeit. Neue Technologien stellen Beschäftigte in immer kürzerer Zeit vor neue Herausforderungen und den Anspruch, ständig verfügbar und erreichbar zu sein. Aus Angst, dabei nicht mithalten zu können, stellen viele ihre Arbeit uneingeschränkt in den Lebensmittelpunkt. Experten nennen das ‚Entgrenzung‘: Erhöhte Eigenverantwortung und die steigende Komplexität der Berufsanforderungen führen dazu, dass die Grenzen zwischen Job und Privatleben verschwimmen. Der Druck nimmt zu, die Selbstbestimmung über das eigene Leben nimmt ab.“
Als hätte man es mit einem Naturgesetz zu tun und nicht dem Spardiktat von Konzernen, die aus einem – vom Gesetzgeber nicht hinterfragten – Diktat von „Produktivität, Mobilität, Flexibilität“ zusätzliche Gewinne generieren und in den Angestellten die Angst schüren, bei diesem forcierten Rennen nicht mehr mithalten zu können.
Solange selbst das Arbeitsministerium so etwas für gottgegeben hält, wird sich die Lage weiter verschärfen und werden immer mehr Menschen das zerstörerische Gefühl haben, dass sie in ihrer Arbeit überfordert sind und ihr eigenes Leben nicht mehr im Griff haben.
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Und dann nehme man noch die Arbeitslosenzahlen seit 2000 und vergleiche sie mit der Statistik.
In einer Gesellschaft, in der der Wert und die Selbstidentifikation des Menschen über seinen Job, sein Einkommen und Vermögen definiert wird, mussten die “Arbeitsmarktreformen” seit 2000 einschlagen wie eine Axt. Der größte Niedriglohnsektor Europas brachte eben auch vor allem stetig sinkende Löhne, die erst mit Einführung des Mindestlohnes gestoppt wurden. Wenn man gut ausgebildet gerademal sich selbst ernähren kann, sofern man eine Vollzeitstelle ergattert hat, nicht aber einen Partner oder gar ein Kind, wenn trotz Vollzeitarbeit und Reinknien bis zum Hals nix zum Sparen übrigbleibt, man aber 24 Stunden verfügbar sein soll, dann frustet das. Das Hamsterrad dreht sich immer schneller und der gewollte Absprung wird immer gefährlicher.
Das Hamsterrad sieht von innen aus wie eine Karriereleiter und man bekommt die Entfristung des oft prekären Jobs wie eine Möhre vor die Nase gehalten.
Und rennt und rennt, Lola wäre neidisch über die Geschwindigkeit.
Dazu kommt Corona. Für Wirtschaft und Verwaltung DER Test um zu schauen, wie weit man ein System runterfahren kann, damit es noch funktioniert, mit dem kleinsten möglichen Aufwand.
Erst kommt das Home-Office, eine ganz tolle Form der Ausbeutung und Kostenminimierung, dann bleibt man gänzlich unbezahlt weil arbeitslos zu Hause. Das Unternehmen spart IT-Technik, Büromiete, Telefon- und Internetgebühren, Büromöbel, Toilettenbenutzungen, Putzfrauen usw. Und der Arbeitnehmer versucht derweil zu Hause Haushalt, Kinder, Job zusammenzubringen, arbeitet viel länger als im Büro und hat noch ein schlechtes Gewissen, weil er zwischendurch die Kids in die Kita bringt oder abholt und den Abwasch und den Einkauf macht. Tolle neue Arbeitswelt.