Es ist ein geschichtsträchtiges Jahr, dieses Jahr 2024. Ein mehr oder weniger runder Jahrestag folgt auf den anderen. Grund genug, zurückzublicken und „Geschichte zu befragen“,- auch um aktuelle Entwicklungen besser verstehen zu können, denn: „Ein Volk, dass seine Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

Vor 85 Jahren hat Deutschland den 2. Weltkrieg begonnen,- das war die Ursache der späteren deutschen Teilung. Vier Jahre nach Kriegsende, mitten im heraufziehenden „Kalten Krieg“, wurde am 23.05.1949 die BRD und am 7.10.1949 die DDR gegründet. Die DDR wäre am 7. Oktober 75 geworden, verschied aber an Erstarrung und Verkalkung, bevor sie die 41 erreicht hatte.

35 Jahre sind seit dem Beginn der „Friedlichen Revolution“, mit dem entscheidenden 9. Oktober 1989 in Leipzig verstrichen, der unwissentlich den Anfang vom Ende einleitete. Die vermeintliche Revolution wurde sehr schnell von großen geopolitischen Rädern überrollt, ohne dass sie sich recht entfalten konnte oder gar später weiter oder zu Ende geführt worden wäre. Die damaligen Ziele und Utopien, die über die Verhinderung des Zusammenbruchs der DDR und den geordneten Beitritt zur BRD hinauswiesen, sind bis heute nicht eingelöst.

Es folgte nur eine brave Machtübergabe an Runden Tischen, – doch nicht etwa an die Revolutionäre, sondern letztlich an den Westen, dem nach der Maueröffnung am 9.11.1989 alle Türen offenstanden, was er sofort mit seiner geballten ökonomischen, finanziellen und medialen Macht ausnutzte.

Der 9. Oktober 89 in Leipzig wurde dann so etwas wie der Gründungsmythos des wieder vereinten Deutschland. Hier ist es passiert, hier wurden die Weichen gestellt…, so heißt es. So titelte die SUPERillu denn auch schon am 2.10.2024 mit: „35 Jahre Mauerfall“ (der ja erst am 9.11.1989 erfolgte) bezüglich des 9.10.89 in Leipzig und wirft so alles in einen Topf.

Aber: Wir wollten ja die DDR retten und reformieren, begrünen und demokratisieren.

Vom Protest zur Wiedervereinigung

Von Wiedervereinigung und deutscher Einheit war in den ersten zwei Monaten der Proteste keine Rede. Das änderte sich erst allmählich nach der Maueröffnung, – der letzten Rache des Politbüros, wie manche scherzten.

Jetzt kamen andere Leute und andere Forderungen auf die Demo: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ hieß es nun. Das waren die Leute, über die später gewitzelt wurde: „Dafür hamm mer nich hinter der Gardine gestanden!“

Als bei einer November-Demo dann die nachgemachten 100-DM-Scheine vom Glockenturm des Krochhauses schwebten, war klar, um wessen Freiheit es jetzt geht, – um die des Kapitals.

Erneute Massenflucht 1989 und 90, ökonomische und finanzielle Krise, Wirtschafts- und Währungsunion, sowie überstürzter Anschluss, statt einer Vereinigung auf Augenhöhe, waren bekanntlich das letztliche Ergebnis der offenen Grenzen. Das Ende der Revolution und der Utopien war sehr schnell eingeläutet.

Unsere Revolution hatte keine Zeit und auch keine Macht, wirkliche Spuren zu hinterlassen. Doch den demokratischen, zivilgesellschaftlichen und utopischen Impuls der Vorwende- und Wendezeit sollten wir verteidigen und ins Heute transformieren.

Denn es ging nicht nur um Freiheit (schon gar nicht um die des Kapitals), sondern um Gerechtigkeit, Verantwortung, ums „Hierbleiben“, um demokratische Teilhabe, um Frieden, nachhaltige und zukunftsfähige Gesellschaftsgestaltung, – alles heute wieder aktuell. Eigentlich war der real existierende Sozialismus, auch die DDR, ein Segen für Westdeutschland, für den Kapitalismus, da er ihn durch die Systemkonkurrenz zwang, sich zu zivilisieren und zu humanisieren. Das war nun vorbei, wie die nächsten Jahre zeigten.

Von der Revolution zur Schocktherapie

Kein Mensch hatte eine Ahnung davon, was eine sofortige Wirtschafts- und Währungsunion für Ostdeutschland bedeuten würde, nämlich eine ökonomische und soziale Katastrophe für das eh angeschlagene Land. Und wenn, dann wurde ihm nicht geglaubt.

Es wurde die D-Mark, die „Freiheit“, die deutsche Einheit gefordert, die dann auch kam und Ostdeutschland im Schweinsgalopp und als Sturzgeburt zu einem Entwicklungsland machte, das jahrzehntelang wieder aufgebaut werden musste (Aufbau Ost).

Die DDR-Wirtschaft stand nach der Wirtschafts- und Währungsunion plötzlich völlig ungeschützt durch einen Währungswechselkurs (früher etwa 1:6, also eine D-Mark kostete etwa sechs DDR-Mark, was den Produktivitätsnachteil ausglich) in Konkurrenz mit der westdeutschen Wirtschaft, die eine viermal höhere Produktivität hatte, und natürlich auch mit der ganzen europäischen und der Weltwirtschaft.

Hinzu kam, dass durch den Übergang der DDR zur D-Mark faktisch eine Aufwertung des Zahlungsmittels der DDR-Wirtschaft um 600 % erfolgte. Für die bisherigen Handelspartner, die RGW-Länder und viele Länder aus der Dritten Welt, verteuerten sich dadurch die Produkte aus der DDR um das Sechsfache, was zum weitgehenden Zusammenbruch dieser Handelsbeziehungen führte und zum Schrumpfen und zum Zusammenbruch von Betrieben und zu Massenentlassungen.

Hinzu kamen noch vielfache völlig absurde Regelungen, wie z.B. Rückgabe vor Entschädigung und die Altschuldenregelung, die aus reinen Buchwerten echte Kredite der Staatsbank machte, die von den Betrieben zurückgezahlt werden mussten. Zusammen mit der kriminellen Treuhandpolitik führte dies zu einer weitgehenden Deindustrialisierung der einstmals zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt.

Ich bin mir inzwischen äußerst unsicher, ob diese Konstruktionsfehler bei der Wirtschafts- und Währungsunion und beim Einigungsvertrag versehentlich, im Zeitdruck des Einigungsprozesses passiert sind, oder ob sie willentlich und wissentlich eingebaut wurden. Z.B. um die ostdeutsche Konkurrenz auszuschalten und mit einer großen industriellen Reservearmee die Tarif- und Gewerkschaftsstrukturen in Westdeutschland auszuhebeln.

Politisch machtlos und strukturell benachteiligt

Doch nicht nur ökonomisch und finanziell ist Ostdeutschland in einem abhängigen Verhältnis
zum Westen, – auch die politischen Strukturen im wieder vereinten Deutschland benachteiligen den Osten.

Das Verhältnis von Bevölkerung und also auch Abgeordnete beträgt 4:1 zugunsten des Westens. Selbst wenn alle Ostabgeordneten sich einig wären, also 100 % der Ostabgeordneten etwas durchsetzen wollten, könnten sie es nicht, da sie nur über ein Fünftel der Stimmen verfügen. Es gibt nicht mal eine Sperrminorität! Fair ist das nicht und auch nicht gerecht!

Auch beim Verhältnis von Vermögen, Grundbesitz, Einkommen und Steueraufkommen, – überall ist der Westen deutlich im Vorteil.

Die Ostbevölkerung hatte in der Regel kein Eigenkapital, um Betriebe zu übernehmen. Mit dem Thema „Volkseigentum“ hätte man sich eben etwas eher auseinandersetzen müssen. Der Osten wurde faktisch unter den westdeutschen Konzernen aufgeteilt oder einfach verramscht und oft völlig unnötig platt gemacht.

Natürlich gibt es diesen strukturellen Nachteil auch bei Vitamin B, also bezüglich Verbindungen, Lobbys in allen Bereichen. Hier standen dem Osten jahrzehntelang eingespielte Netzwerke und informelle Machtstrukturen gegenüber, gegen die er im Wortsinn völlig „machtlos“ war.

Fakt ist: Ostdeutschland ist weitgehend deindustrialisiert, die 100 größten Ostunternehmen sind zusammen kleiner als BMW. Zwar sind die Altstädte schön restauriert, aber was kommt danach? Es gibt keine ausreichende selbsttragende regionale Wertschöpfung, sondern eine anhaltende Abhängigkeit von finanziellen Transfers.

Über lange Zeiträume gab es eine sehr hohe Arbeitslosigkeit und Abwanderung. Die vermeintliche Freiheit war somit für viele Entwurzelung, Verunsicherung, Demütigung. Eine Unfreiheit wurde gegen die nächste Unfreiheit eingetauscht, denn ohne Arbeit und Geld nutzt auch die schönste Freiheit nichts.

Im größeren Deutschland spielte Ostdeutschland (einst die – vielleicht – zehntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt) nur die Rolle einer alimentierten nationalen Minderheit,– hatte also faktisch nichts zu sagen und war ja eh historisch belastet („Alles Stasi, außer Mutti!“). Obwohl es vielfache hartnäckige Proteste gegen die Treuhandpolitik gab, z.B. in Bischoferode und auch die Montagsdemos in Leipzig wieder auflebten, konnte kein wirklicher Kurswechsel durchgesetzt werden.

Siehe auch meinen Artikel „Ich kann mir gut eine Million protestierender Ostdeutscher in Bonn vorstellen: Leipzig – die Heldenstadt; Überlegungen zur Realität einer Legende (Langfassung) in Unfrieden in Deutschland“; (1992), Seite 477-482 (Unfrieden in Deutschland – SLUB Dresden – Katalog).

„Ich such die DDR und keiner weiß, wo sie ist…“

Diesen launigen Coversong eines tschechischen Schlagers („Ich such die Ivetta“ von Vaclav Dingsda) veröffentlichte die Ostberliner Spaßpunkband „Feeling B“ 1990 als Bonus auf der Neuauflage ihrer Amiga-LP von 89. Die mit dem grünen Fluchtweg-Schild,- mancher wird sich vielleicht erinnern. Eine tolle Scheibe, u.a. auch mit: „Unter dem Pflaster, da liegt der Strand“).

Feeling B gründeten kurz darauf, gemeinsam mit einem lyrisch begabten Leistungssportler und weiteren Ex-Ost-Punkern die mittlerweile weltberühmte geliebt-gehasste Band „Rammstein“. Als Aufrüstungskoordinierungstreffpunkt ist der Name jetzt wieder regelmäßig in den Medien.

Ach ja, wie geht der Song denn weiter? In etwa so:

„Ich such die DDR und keiner weiß, wo sie ist,
ich hätte nie gedacht, dass sie mich so schnell vergisst.
Käm sie zurück zu mir, verzeih ich ihr!“

So fühlten in den 90er Jahren, mit der extrem hohen Arbeitslosigkeit und ständiger hoher Ausreise in den Westen wahrscheinlich ziemlich viele. Anfang der 2000er mit Treuhandprotesten und der Agenda 2010, abgewickelt, evaluiert, arbeitslos, in „Maßnahmen“ aufgefangen, war es sicher auch nicht viel anders.

Und laut einer aktuellen Umfrage, wünschen sich sogar heute noch zwei Drittel der Ostdeutschen die DDR immer mal wieder zurück, obwohl es heute materiell vielen weit besser geht. Das Land befindet sich scheinbar immer noch in einer anhaltenden posttraumatischen Belastungsstörung, in der das einzig Verlässliche, die Vergangenheit zu sein scheint.

Damals durfte man schon froh sein, wenn man die eigene Fabrik mit abreißen durfte. Ihr seid eben nicht produktiv genug, hieß es. Die ökonomischen Zwänge, der Kostendruck, die Globalisierung, die Chinesen…

Und plötzlich war auch noch überall Krieg: NATO und BRD-Bomber gegen Serbien ohne UN-Mandat, Irak, Afghanistan usw. Alles sehr beängstigend!

Die Funktionseliten im Osten kamen fast alle aus dem Westen und sie brachten ihre Netzwerke mit, woran sich bis heute nichts geändert hat.

Schon das Bekenntnis, Ostdeutscher zu sein und die vergleichende Rede von der DDR hat einen für Höheres disqualifiziert und als potentiellen Systemgegner und Störenfried geoutet, der die unvergleichliche BRD mit etwas geschichtlich Gescheitertem vergleichen wollte. Das wollten die Sieger nicht mehr hören.

Heimatverlust? Identität?

Das sind doch alles rechte Kategorien…

Die von Herrn Mühlfenzel (einst Medienbeauftragter der Bundesregierung) mit eisernem Besen gereinigten Medien, verdammten ostdeutsche Musik, ostdeutsche Kultur, ostdeutsche Geschichte zu einem marginalisierten Nischendasein.

In Berlin ist es immer noch so, dass nur etwa fünf, immer gleiche DDR-Songs in größeren Abständen im Radio laufen.

„Hat es die DDR überhaupt gegeben?“

Das fragte schon 1998 satirisch, aber auch sehr nachdenklich der Ostberliner Kabarettist Peter Ensikat (1998, Eulenspiegel Verlag/Heyne Verlag). Aus dem Cover-Text: „…der Streit um die einzig richtige Antwort (auf obige Frage) droht das deutsche Volk in wenigstens zwei Antworten zu spalten. Auf der einen Seite stehen die, die dabei waren, sich aber nicht mehr so genau erinnern können, auf der anderen die, die zwar nicht dabei waren, aber alles umso genauer wissen.“

Am besten, man redet nicht mehr drüber!? Doch das eigene Leben kann man nicht so leicht vergessen, selbst wenn man es wollte.

„Die größte DDR der Welt“, wie Ostdeutschland seinerzeit wegen der übertreibenden offiziellen Erfolgspropaganda, oft ironisch bezeichnet wurde, war ja wirklich ein erstaunliches kleines Land. Es stellte fast alles selber her, hatte also eine erstaunliche Fertigungstiefe, die es im weltmarktoffenen Westen schon längst nicht mehr gab.

Es versorgte die Sowjetunion und die RGW-Länder und zusätzlich noch westdeutsche Versandhäuser. Im Sport dritterfolgreichste Nation und das nicht nur wegen Doping. Und die DDR war der einzige deutsche Staat, der keinen Krieg geführt hat und eine konsequente Solidaritätspolitik mit den früheren Kolonien, also der 3. Welt betrieben hat, – wo sie noch immer einen guten Ruf hat. Linke, antikapitalistische Kräfte wurden in der DDR wie Staatsgäste empfangen und sie wurden unterstützt.

Meine Generation hat den Vietnam-Krieg noch miterlebt, den Putsch in Chile, – wir wussten noch, wer Kongo-Müller war und wer das weiße Südafrika aufrüstete. Wir wussten auch etwas von Berufsverboten und Notstandsgesetzen und von Arbeitslosigkeit und Ausbeutung.

Und natürlich waren wir gegen Aufrüstung und Krieg und gingen zu „Rock für den Frieden“. Kapitalismus war für uns nie eine Alternative.

Historischer Exkurs: Volksentscheide, Teilung, Abwanderung

Die DDR wurde fast 41 Jahre alt und existierte damit sehr viel länger, als das Großdeutsche tausendjährige Reich, dass nach 12 Jahren und beispiellosen Verbrechen militärisch besiegt wurde. Es hatte in seinem Größenwahn auch den Kapitalismus als menschenverachtendes System entlarvt. Kurz nach dem Krieg gab es in Deutschland eine starke antikapitalistische Stimmung, selbst ein neutrales Deutschland mit sozialistischen Tendenzen schien möglich.

1946 gab es Volksentscheide zur Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher in Sachsen, Hessen, Berlin und NRW, wo jeweils über 70 Prozent für die Enteignung stimmten und sich damit für sozialistische Entwicklungen offen zeigten.

Die Sowjets und die SED wollten diese zeitweise vorhandene antikapitalistische Stimmung nutzen und die Einheit Deutschlands bewahren und schlugen einen neutralen Status vor. Ich wunderte mich schon immer über die „Straßen der Einheit“, die man überall in der DDR finden konnte und die bezeugen, dass die DDR noch sehr lange eine gesamtdeutsche Option anstrebte, ehe sie eine konsequente Zweistaatenpolitik betrieb.

Doch der Westen wollte lieber einen westdeutschen Separatstaat und schuf mit der Währungsreform Tatsachen. Adenauer meinte damals: „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb!“. Am 23.05.1949 wurde die BRD und am 7.10.1949 die DDR gegründet. Das war schon mitten im „Kalten Krieg“.

Von der Gründung der DDR 1949 bis zum Bau der Mauer (August 1961) verließen übrigens 3,8 Millionen Ostdeutsche ihr Land. Nach der Öffnung der Mauer 1989 und 1990 gab es erneut eine starke Abwanderung in den Westen, – von 785.000 Personen. Insgesamt waren es von 1949 bis 1997 6,6 Millionen Menschen, die ihre Heimat verließen, was für ein Aderlass! In den 90ern pendelten täglich bzw. wöchentlich 500.000 Ostdeutsche in den Westen inklusive Westberlin,- zur Arbeit.

Eigene Wege gehen

In unseren Gesprächskreisen in den 80ern lehnten wir den Versuch Honeckers, den Westen einzuholen, mehrheitlich ab. Das hieß damals Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, also mehr Konsumgüter um Kaufkraft abzuschöpfen und für Devisen war man bereit, fast alles zu verkaufen.

Wir waren der Meinung, die DDR und der Sozialismus hätten nur eine Chance, wenn ein eigener Weg, auf eigenen Grundlagen versucht würde,- ohne Konsumwettlauf. Vielleicht wie in Kuba oder aktuell in Costa Rica. So eine Art Buen Vivir, also gutes Leben!

Das ist nach meiner Meinung für Ostdeutschland wieder aktuell!

Ostdeutschland kann und wird den Westen niemals einholen. Das sollte auch gar nicht das Ziel sein. Am Ende der DDR gab es in der DDR etwa vier Millionen Autos. Aktuell produzieren deutsche Autokonzerne weltweit mehr als 12 Millionen Fahrzeuge und der PKW-Bestand in Gesamtdeutschland liegt bei etwa 50 Millionen. Das ist einfach nur noch krank. Das derzeitige globalisierte Wirtschaftsmodell ist eine evolutionäre Fehlentwicklung, die nicht dauerhaft möglich ist und auf einer exzessiven Mobilität und einem mindestens zehnmal zu hohen Energie und Rohstoffverbrauch beruht und zunehmend die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen zerstört.

Die derzeitigen Wirtschaftsstrukturen sind befangen in einer Vielzahl von antagonistischen Widersprüchen, z.B. der Vernichtung von regionalen, kleinteiligen, nicht so produktiven, aber dafür nachhaltigeren Wirtschaftseinheiten (wie wir auch in Ostdeutschland erleben mussten) zugunsten der großen, starken, weltmarktfähigen und weltmarktorientierten Strukturen, die fast alle ihren Sitz in Westdeutschland haben. Das gilt es zu ändern.

Es muss beides geben. Der Osten sollte Subsistenzstrukturen aufbauen und nachhaltige Spitzentechnologien anziehen und entwickeln.

Ostdeutschland sollte hier entschlossen vorangehen: Mit der Förderung von regionalen Wirtschaftskreisläufen, von Reparaturen (da gab es in Leipzig mal ein riesiges Gebäude), erneuerbaren Energien, von ökologischer Landwirtschaft, mit Selbsthilfe-Projekten, Land und Stadtkommunen, sowie nachhaltigen Verkehrs, Infra- und Energiestrukturen.

Die derzeitigen Strukturen sind weder zukunftsfähig noch resilient und äußerst verletzlich. Dürre und Hitze der letzten Jahre haben auch in Deutschland die Wälder schwer geschädigt und gefährden die Landwirtschaft. Auch Energieversorgung und das Transportsystem kommen bei schweren Hitzewellen schnell an ihre Grenzen.

Die Erneuerung der Demokratie

Die kommenden Generationen und die Natur sind in unserer Demokratie faktisch nicht vertreten, während finanzstarke Interessengruppen mit ihrer Lobbyarbeit die Demokratie aushöhlen und wesentliche Entscheidungen in informellen, nicht demokratisch legitimierten Machtstrukturen fallen (siehe Thilo Bode, Die Diktatur der Konzerne, 2018).

Notwendig ist eine demokratische Reform des politischen Systems, die Schaffung eines Ökologischen Rates, eines Ökologischen Oberhauses, der/das Richtlinienkompetenz hat und den Rahmen eines nachhaltigen Stoffwechsels mit der Natur ermittelt und vorgibt, innerhalb dessen die gesellschaftlichen Akteure unter Beachtung der Interessen der kommenden Generationen agieren können. Energie und Rohstoffe müssen tatsächlich teurer werden, damit sich Sparen lohnt und belohnt wird.

Weiterhin müssen demokratisch nicht legitimierte Sonderinteressen und informelle Machtstrukturen, wie die des Großkapitals, der Finanzlobbys, der Großkonzerne, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung und der Fortsetzung des Status Quo haben und dies mit ihren Machtmitteln anstreben, demokratischer Kontrolle unterworfen, eingegrenzt und entmachtet werden.

Die direkte Demokratie sollte eine viel größere Rolle spielen und nicht als lästiger Ballast entsorgt werden, wie es die Grünen praktiziert haben. Möglicherweise könnte jetzt auch die überfällige Verabschiedung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung Sinn machen und einen notwendigen Diskussionsprozess anstoßen und so einen Demokratisierungsimpuls geben. Siehe hierzu auch der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, an dem ich seinerzeit gemeinsam mit der „Demokratie-Initiative 90“ bei der Ausgestaltung der direktdemokratischen Elemente mitgearbeitet habe.

Es gilt zudem, die Debatte über eine wirkliche gesellschaftliche Alternative zur fossil-mobilen Wachstumsdiktatur wiederzubeleben, über eine sozial gerechte, lebensdienliche Ökonomie, die nicht länger die Natur, den Süden und die Zukunft zerstört. Es geht um den Aufbau einer Gesellschaft, deren zentrales Paradigma nicht Wachstum um jeden Preis, sondern der Fortbestand des Lebens und der Menschheit ist.

Die Freiheit der Anderen

Eine exklusive Freiheit ohne Gerechtigkeit kann es nicht geben. Wenn wir ausgrenzen, Migranten ausschließen, dann bauen wir neue Mauern, auch in den Herzen und Köpfen, – wo wir doch gerade das Einreißen der „Mauer“ feiern. Wenn wir unsere Treibhausgase und unseren Müll externalisieren, laden wir den Preis unserer Freiheit, die Kosten unserer imperialen Wirtschafts- und Lebensweise anderen auf und beschränken ihre Freiheit, ja ihre grundlegenden Menschenrechte.

Es geht bei der Freiheit, die wir uns (heraus)nehmen auch immer um „Die Freiheit der Anderen“,- wenn wir diese negieren, zerstören wir auch unsere Freiheit und die Grundlagen des Lebens.

„Die Freiheit aller kommenden Generationen steht mittlerweile auf dem Spiel, denn unsere angemaßte und missbrauchte Freiheit bedeutet nicht weniger als ihre künftige Unfreiheit. Wir schaffen Tatsachen, die von den kommenden Generationen nicht wieder korrigiert werden können und ihre Lebensmöglichkeiten und Handlungsspielräume auf ein Minimum reduzieren.

Unsere angeblichen Freiheitsrechte auf Reichtum, Konsum und Mobilität gefährden nicht nur die Freiheit, sondern die grundlegenden Menschenrechte unserer Kinder und Enkel auf Leben und Gesundheit, denn durch unser Nichthandeln versäumen wir gerade die letzte Möglichkeit für eine Begrenzung der Klimakatastrophe.“ (Dies schrieb ich bereits 2018, siehe „Ungerechtigkeit im Treibhaus oder die Freiheit der Anderen“).

Machen wir aus der glänzend-blendenden Selbstfeier des Lichtfestes für eine Freiheit von Gestern, ein Fest und einen Begegnungsort für Demokratie, Klimaschutz, Frieden und Gerechtigkeit. Geben wir dem 9.Oktober einen neuen Sinn,- auf der Höhe der Zeit. Lassen wir uns die Utopie, den Glauben an eine bessere Welt nicht austreiben, auch wenn die Geschichte sich gerade zu wiederholen scheint.

Jürgen Tallig: Der Autor hat 1989 das Neue Forum in Leipzig mit gegründet und ist auch bekannt als der Tunnelmaler vom Leuschnerplatz.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Redaktion über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar